MediaWiki-API-Ergebnis

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                        "*": "\nRobert Menasse zeichnet in seinem Roman \u201eDie Hauptstadt\u201c ein Vexierbild, das changiert zwischen dem drohenden Scheitern der EU und der EU als anzustrebendem humanem Ideal. Die von Menasse behaupteten <ref>Inzwischen hat der Autor zugegeben, dass er Hallsteins angebliche Rede in Auschwitz entsprechend den eigenen Wunschvorstellungen von Europa erfunden hat.</ref> Motive und Antriebskr\u00e4fte der Gr\u00fcndungsgeneration kommen in der Gegenwart kaum noch an. Der Roman zeigt, wie das Ideal des geeinten Europas an den Egoismen der beteiligten Nationen und dem Karrieredenken der B\u00fcrokraten zu scheitern droht. Zugleich werden aber auch Hoffnungen auf ein friedlich vereintes Europa und den Zusammenhang der Nationen und Generationen vermittelt.\n\nZu diesem Ergebnis, das im Folgenden dargestellt und begr\u00fcndet werden soll, hat die Analyse des Textes in der Projektgruppe gef\u00fchrt. Dabei bildet die Untersuchung der Protagonisten hinsichtlich ihrer Aktionen und den zugrundeliegenden \u00dcberzeugungen und Wertvorstellungen im Hinblick auf Europa das Zentrum. Die Annahme, dass es Zusammenh\u00e4nge zwischen den Vorstellungen der Protagonisten von Europa mit ihrer Generationenzugeh\u00f6rigkeit und Biographie gibt, soll untersucht werden. \nAls Voraussetzung f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der Hauptfiguren soll zun\u00e4chst ein \u00dcberblick \u00fcber Aufbau und Handlung des Romans gegeben werden.\n\n\n==Titel und Struktur==\n\nDie Struktur des Romans ist komplex und vielschichtig. Im Prolog werden die Protagonisten bereits eingef\u00fchrt und Handlungsstr\u00e4nge angedeutet, die erst allm\u00e4hlich verbunden werden.\n\nDie Handlung beginnt in Br\u00fcssel, das den zentralen Schauplatz des Romans bildet, so dass der Leser den Titel sofort auf Br\u00fcssel als vermeintliche Hauptstadt der EU bezieht. Erst sp\u00e4ter erweist sich diese Vermutung als zu kurz gedacht, denn der Autor t\u00e4uscht die Leseerwartungen, indem er eine tiefere Dimension des Titels erkennen l\u00e4sst. Best\u00e4tigt wird dagegen die Erwartung, dass es um die EU geht, denn viele der zahlreichen Figuren des Romans arbeiten f\u00fcr die EU-Kommission und stehen in Kontakt miteinander.\n\nIn 11 Kapiteln werden die Ereignisse, die sich im Zeitraum weniger Monate abspielen, in mehreren, teilweise miteinander verflochtenen Handlungsstr\u00e4ngen erz\u00e4hlt. Der zentrale Handlungsstrang ergibt sich aus der Planung zur Feier des 50. Geburtstages der EU-Kommission im Januar 2018, u.a. daraus l\u00e4sst sich schlie\u00dfen, dass die Spanne der erz\u00e4hlten Zeit vom Januar (vgl. S. 36) bis in den Fr\u00fchsommer (vgl. S. 362) des Jahres 2016 (vgl. S. 61) reicht.\n\nAn der Planung sind direkt oder indirekt zahlreiche Figuren des Romans beteiligt, allen voran Fenia Xenopolou (genannt Xeno), ihre Mitarbeiter Martin Susman, Bohumil und Kassandra, die in der Hierarchie \u00fcber ihr stehende Mrs. Atkinson, Romulo Strozzi, Attila Hidegkuti und Lars Ekl\u00f6f sowie Xenos Geliebter und F\u00f6rderer Kai-Uwe Frigge (genannt Fridsch).\n\nIm Zentrum des zweiten Handlungsstrangs steht Prof. Alois Erhart, der Mitglied der Reflection Group 'New pact for Europe' ist und zu den Sitzungen jeweils in Br\u00fcssel anreist, aber zu keiner der Figuren des 1. Stranges Kontakt hat, sondern sich nur an denselben Orten aufh\u00e4lt, mindestens einmal auch zur selben Zeit.\n\nDer dritte Erz\u00e4hlstrang betrifft die Aufkl\u00e4rung eines im 1. Kap. geschehenen Mordes im Hotel Atlas in Br\u00fcssel durch Kommissar Emile Brunfaut.\n\nDer vierte Handlungsstrang hat den geringsten Umfang. Hier geht es um einen polnischen Auftragsm\u00f6rder namens Richard oder Mateusz Oswiecki (genannt Matek), den der Leser unweigerlich mit dem o.g. Mord in Verbindung bringt, obwohl dies an keiner Stelle explizit gesagt wird, wie auch das Opfer ungenannt und der Fall ungel\u00f6st bleiben.\n\nBesondere Bedeutung hat der 5. Handlungsstrang, dessen Protagonist David de Vriend ein \u00dcberlebender des KZ Auschwitz ist, als erster und letzter im Roman auftritt, zu den \u00fcbrigen Erz\u00e4hlstr\u00e4ngen seinerseits keinerlei Beziehung hat au\u00dfer der r\u00e4umlichen und zeitlichen N\u00e4he, f\u00fcr das geplante Projekt aber eine wesentliche Rolle spielt.\n\nGerahmt wird das erz\u00e4hlte Geschehen von Prolog und Epilog, in denen es um ein in Br\u00fcssel zu Beginn der Handlung frei umher laufendes Schwein geht, das sp\u00e4ter auch in der Binnenhandlung mehrfach erw\u00e4hnt wird und einen Medienrummel entfacht, der im Epilog sein Ende findet.\n\nDie im Roman erz\u00e4hlten Ereignisse eines relativ eng begrenzten Zeitraums beziehen durch die Figuren auf vielf\u00e4ltige Weise die Vergangenheit mit ein. Die Lebens- und Familiengeschichten der Protagonisten reichen zur\u00fcck bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auch die Handlungsschaupl\u00e4tze erstrecken sich sowohl durch erz\u00e4hlte Aktivit\u00e4ten der Figuren als auch durch ihre Erinnerungen \u00fcber Br\u00fcssel hinaus. So kommen z. B. Auschwitz, Wien und Prag vor.\n\nAufgrund der dargestellten Themen ist erkl\u00e4rlich, dass Menasses Werk von der Kritik<ref>vgl. die Angaben zu Rezensionen</ref> als erster EU-Roman gefeiert worden und dem Genre des politischen Romans zuzurechnen ist. Die Menasse inzwischen vorgeworfene \"F\u00e4lschung\" historischer Fakten, die besonders in Essays und Interviews vorkam, ist im Roman wegen seiner Fiktionalt\u00e4t zu tolerieren im Sinne einer positiv verst\u00e4rkten Ursprungsgeschichte der europ\u00e4ischen Idee. Gleichzeitig weist der Roman auch Elemente des Kriminalromans bzw. Polit-Thrillers auf. Seine nicht unerhebliche Spannung bezieht der Roman allerdings nicht aus diesem Handlungsstrang.\n\n==Figuren==\n\nF\u00fcr die eingangs formulierte Problemstellung unserer Analyse, n\u00e4mlich die Frage nach den Chancen und Risiken der EU, spielen die Lebensentw\u00fcrfe, Wertvorstellungen und Erfahrungen vor allem der agierenden Figuren eine wesentliche Rolle. Diese Figuren hat die Projektgruppe daher n\u00e4her untersucht.\n\n===David de Vriend===\n\nDie Figur des David de Vriend steht hier am Anfang, weil seine Rolle im Roman auch vom Autor dadurch hervorgehoben wird, dass er als erster und letzter auftritt, somit einen Rahmen bildet, obwohl oder gerade weil er zur EU-B\u00fcrokratie keinen Bezug hat und keinen der \u00fcbrigen Protagonisten kennt. De Vriend besch\u00e4ftigt sich nicht mit der EU, er k\u00e4mpft gegen das Vergessen, sowohl das gesellschaftliche hinsichtlich der Geschichte als auch sein eigenes in Form der Demenz.\n\nDe Vriends Leben ist kein Leben im \u00fcblichen Sinn. Es wird vielmehr vom Erz\u00e4hler als \u00dcberleben definiert. (vgl. S. 222<ref>Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Robert Menasse, Die Hauptstadt, Berlin 2017</ref>) Er hat sein Schicksal als Auschwitz-\u00dcberlebender vergessen wollen, hat aber als alter Mann \u201edas Gef\u00fchl, selbst vergessen worden zu sein, v\u00f6llig vergessen von allen Menschen und sogar vom Tod.\u201c (S. 154) Zwar wurde er Lehrer, weil er nicht nur Zeitzeuge sein wollte. \u201eEr wollte nicht Zeuge, er wollte Erzieher sein.\u201c (S. 355) Aber Zweifel, ob ihm das gelungen ist, bleiben (vgl. S. 155). Wenn er auf einen Friedhof geht, und er geht gern auf Friedh\u00f6fe, und auf die Gr\u00e4ber schaut mit ihren Grabsteinen und den Namen darauf, denkt er an seine Familie, denn: \u201eSeine Eltern, sein Bruder, seine Gro\u00dfeltern hatten Gr\u00e4ber in der Luft<ref>Vgl. Paul Celan, Die Todesfuge \u2013 \u201ewir schaufeln ein Grab in den L\u00fcften \u2026 l\u00e4\u00dft schaufeln ein Grab in den L\u00fcften\u201c</ref>.\u201c (S. 85).\n\nWas von de Vriends Leben bzw. \u00dcberleben am Ende bleibt, ist trotz st\u00e4ndigen Putzens nur Dreck, das denkt er (vgl. S. 73f.), als er zum letzten Mal in seiner leeren Wohnung steht, in der er am Place du Vieux March\u00e9 aux Grains sechzig Jahre lang gewohnt hat (vgl. S. 9). Diese Wohnung hat eine Feuertreppe, also eine M\u00f6glichkeit zur Flucht. Auch deshalb hatte er sie seinerzeit genommen. Denn seiner Flucht aus einem Deportationszug nach Auschwitz im April 43 (vgl. S. 354) verdankt er, dass er \u00fcberhaupt \u00fcberleben konnte. Geblieben ist ihm seitdem das Schuldgef\u00fchl, die Rufe seiner Eltern \u201eBleib da!\u201c (S. 447), als er aus dem Zug springt, hat er immer noch im Ohr. Es hilft ihm nicht, dass er wei\u00df: \u201eEr h\u00e4tte sie nicht retten k\u00f6nnen, wenn er nicht aus dem Zug gesprungen, wenn er bei ihnen geblieben w\u00e4re.\u201c (S. 449)\n\nEinen Schutz beim \u00dcberleben bieten seine ma\u00dfgeschneiderten Anz\u00fcge aus feinstem Stoff. Sie sind eine Art Panzerung, soweit wie m\u00f6glich von der fadenscheinigen Kleidung des Lageralltags entfernt. Zu diesem Schutz geh\u00f6rt auch das Fehlen einer Kopfbedeckung: \u201eWer im Lager gewesen war, wusste, was es hie\u00df: keine M\u00fctze. Das war der Tod. Darum hie\u00df es danach: Leben. Freiheit. Bester Stoff und ein freier Kopf.\u201c (S. 324)\nJetzt ist er im Altenheim, lebt zusammen mit Menschen, \u201edie aus seiner Generation waren, aber nie seine Zeitgenossen gewesen sind, weil sie seine Erfahrungen nicht teilen mussten, ihr Ungl\u00fcck war das Alter, sein Ungl\u00fcck war das Leben.\u201c (S. 155)\n\nEs ist eine Ironie des Schicksals, dass eine EU-Beamtin David de Vriend als in Br\u00fcssel lebenden Auschwitz-\u00dcberlebenden entdeckt und ihn in bester Absicht wieder auf die Opfer-Funktion reduziert, die sein ganzes \u00dcberleben bestimmt hat. Er ist die Verk\u00f6rperung des Ursprungsgedankens f\u00fcr die europ\u00e4ische Union als Friedensprojekt: nie wieder Auschwitz<ref>Nachdem Zweifel an Menasses Darstellung aufgekommen waren, r\u00e4umte der Autor gegen\u00fcber der ''Welt'' schlie\u00dflich ein, nicht nur die angebliche Auschwitz-Rede Hallsteins, sondern auch dessen \u00c4u\u00dferungen \u00fcber die Abschaffung der Nationalstaaten erfunden zu haben.https://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article186192052/Menasses-Co-Autorin-sagt-sie-wusste-nichts-von-falschen-Zitaten.html</ref>. Daran soll im 'Jubilee-Project' erinnert werden. Die Beamten der Generaldirektion f\u00fcr Kommunikation halten ihn f\u00fcr den idealen Mittelpunkt der zu planenden Jubelfeier zum 50. Geburtstag der EU-Kommission: \u201eDa haben wir alles: ein Opfer des Rassismus, einen Widerstandsk\u00e4mpfer<ref>\u201eEr schloss sich im Juni 44 als J\u00fcngster der Widerstandsgruppe <Europe libre> an, das war die Gruppe um Jean-Richard Brunfaut\u201c. (S. 355) Hierdurch wird ein Zusammenhang zu Kommissar Emile Brunfaut, dem Sohn dieses Widerstandsk\u00e4mpfers, hergestellt.</ref>, ein Opfer von Kollaboration und Verrat<ref>\u201eDavid de Vriend wurde im August 44 verraten, verhaftet und nach Auschwitz deportiert.\u201c (S. 355)</ref>, einen Zeugen des Vernichtungslagers, einen Vision\u00e4r des nachnationalen Europas auf der Basis der Menschenrechte, die Geschichte und die Lehre aus der Geschichte in einer Person, in der Person dieses Lehrers.\u201c (S.355)\n\nAber etwas bleibt doch: Als Jos\u00e9phine, seine Betreuerin im Altenheim, nach seinem Tod sein Zimmer ausr\u00e4umt, findet sie einen Zettel, auf dem er \u00dcberlebende notiert hat. Der letzte Name auf dem Zettel ist sein eigener, im Unterschied zu allen anderen nicht durchgestrichen. Sie steckt den Zettel in die Tasche ihres Arbeitsmantels und denkt: \u201eSolange sein Name nicht durchgestrichen ist, so lange - \u201c (S. 453). Der Zettel mit dem nicht durchgestrichenen Namen eines \u00dcberlebenden entfaltet seine eigene Dynamik: das, wof\u00fcr de Vriend steht, soll weiter leben, auch wenn er individuell schon tot ist.\n\nTrotz der isolierten Stellung der Figur des David de Vriend schafft der Autor durch Orte Verbindungen zu anderen Figuren. Dies wird einerseits \u00fcber die Lage seiner Wohnung erreicht, die in unmittelbarer N\u00e4he der Wohnung von Martin Susman und des Hotel Atlas liegt, in dem Erhart w\u00e4hrend seiner Br\u00fcssel-Besuche wohnt. Andererseits hat der Schauplatz des Friedhofs eine verbindende Funktion im Roman. Neben seiner allgemeinen Bedeutung als auf den Tod verweisende Dimension ist er ein \u00e4sthetischer und ruhiger Ort des R\u00fcckzugs und Gedenkens im Anblick von Soldatengr\u00e4bern, normalen Gr\u00e4bern und dem Erinnerungsmal der ewigen Liebe, das Prof. Erhart besucht. F\u00fcr Kommissar Brunfaut und seinen Freund und Kollegen Philippe ist der Friedhof ein versteckter konspirativer Ort.\n\n===Prof. Alois Erhart===\n\nAlois Erhart d\u00fcrfte in \u00e4hnlichem Alter sein wie David de Vriend, diese beiden Figuren geh\u00f6ren als einzige im Roman der Generation der Alten an. Erhart ist emeritierter Professor f\u00fcr Volkswirtschaftslehre aus Wien. Er nimmt in Br\u00fcssel an dem Think-Tank 'New Pact for Europe' teil und h\u00e4lt dort das Eingangsreferat. Die Schilderungen der Sitzungen dieser Gruppe konzentrieren sich auf die Abl\u00e4ufe, an denen Erhart beteiligt ist. Dieser Handlungsstrang hat dadurch Verbindung zum Haupterz\u00e4hlstrang, dass im Referat von Erhart die Bedeutung von Auschwitz betont wird, so dass der Professor Menasses Ursprungsgeschichte der EU vertritt und die Gleichsetzung von Nationalgef\u00fchl und Nationalismus<ref>vgl. das am 06.01.2019 in der WELT ver\u00f6ffentlichte Interview mit Aleida Assmann</ref>.\n\nProf. Erhart wird als \u00e4lterer Herr mit traurigem, besorgtem Gesicht (vgl. S. 13) eingef\u00fchrt. Als er vor dem Hotel Atlas Blaulicht sieht, denkt er sofort an einen Selbstmord: \u201eDie Seele als schwarzes Loch, das alle Erfahrungen, die er ein Leben lang gemacht hatte, aufsaugte und verschwinden lie\u00df, bis sich nur noch das Nichts ausdehnte, absolute Leere\u201c (S. 26). Im Gegensatz zu diesem momentanen Gef\u00fchl, hat er die Einladung zur Teilnahme am <New Pact for Europe> angenommen, weil er hofft, dort dazu beizutragen, die Gr\u00fcndungsideen der EU in Erinnerung zu rufen.\n\nErhart ist als unsportlicher Sohn des Inhabers eines Sportartikelgesch\u00e4fts in Wien aufgewachsen. Zwei pr\u00e4gende Ereignisse seiner Jugend sind f\u00fcr seine Auftritte in Br\u00fcssel von besonderer Bedeutung. Sein Vater hat ihm erfolgreich Verl\u00e4sslichkeit als extrem wichtige Tugend eingebl\u00e4ut. So h\u00e4lt er aus dem Gef\u00fchl, Zusagen einhalten zu m\u00fcssen, an seinem Referat fest, obwohl er schon bei der ersten Sitzung erkannt hat, dass er mit seiner Position auf verlorenem Posten steht. Sein Studium und sein sp\u00e4terer Werdegang haben sich an Prof. Armand Moens orientiert, einer von Menasse erfundenen Figur, der bereits in den sechziger Jahren aus volkswirtschaftlichen Gr\u00fcnden auf \u201edie Notwendigkeit [...] eine Vereinte Europ\u00e4ische Republik zu gr\u00fcnden\u201c (S. 89) hingewiesen habe. Erhart referiert in seinem Vortrag Positionen von Moens und bekr\u00e4ftigt seine Argumentation sowohl durch empirische Belege als auch durch die Schilderung pers\u00f6nlicher Begegnungen mit Moens. Erhart hat dessen Aufforderung, seine Meinung mit existentiellem Einsatz zu vertreten, verinnerlicht. Sein Vortrag orientiert sich an dem Leitsatz von Moens, so zu schreiben, als w\u00e4re es der letzte Beitrag im Leben.\n\nBereits bei der einleitenden Diskussion im Think-Tank muss Erhart feststellen, dass sich die anderen Teilnehmer \u00fcberwiegend an nationalen Interessen orientieren und die bestehende Krise der EU durch eine konsequentere Fortsetzung bisheriger Ans\u00e4tze l\u00f6sen wollen. Erhart geht angesichts dieser vorherrschenden Meinung auf Konfrontationskurs: \u201eDas war ja das Gespenstische, dass in dieser Runde von Anfang an der Konsens geherrscht hatte, dass die Krise Europas nur mit eben den Methoden gel\u00f6st werden k\u00f6nne, die zu dieser Krise gef\u00fchrt hatte. More of the same\u201c. (S. 258) Erhart \u00e4u\u00dfert seine Kritik in heftigen Zwischenrufen. Nachtr\u00e4glich stellt er selbstkritisch fest: \u201eEr hatte sich aufgef\u00fchrt wie einer dieser antiautorit\u00e4ren Studenten, mit denen er vor vielen Jahren zu tun bekommen hatte.\u201c (S. 257)\n\nNach der Erkenntnis beim ersten Treffen der 'Reflection Group' - \u201eNie und nimmer w\u00fcrde er einen aus diesem Kreis \u00fcberzeugen k\u00f6nnen\u201c (S. 301) - hat Erhart das Konzept seines Vortrags bewusst so ge\u00e4ndert, dass der Vortrag als Provokation aufgefasst werden muss. Er sieht seinen Vortrag als Verm\u00e4chtnis, da er danach seine Mitgliedschaft in der Gruppe aufk\u00fcndigen will. Menasse l\u00e4sst den Erz\u00e4hler in auffallender Weise diesen Vortrag von Erhart bewerten als den \u201eVortrag, der im Grunde eine Rede \u00fcber die Freiheit war. \u00dcber Befreiung. Zumindest eine Rede der Selbstbefreiung.\u201c (S. 342)\n\nErhart beginnt sein Referat damit, die Vorstellungen seines Lehrers Armand Moens zur EU zu erl\u00e4utern, \u201edass wir etwas v\u00f6llig Neues brauchen, eine nachnationale Demokratie, um eine Welt gestalten zu k\u00f6nnen, in der es keine National\u00f6konomie mehr gibt.\u201c (S. 389) Erhart sieht sich als jemand, der die Wahrheit sucht und glaubt, sie gefunden zu haben. Aus dieser Position greift er die vorherrschende Meinung, die sich aus seiner Sicht an nationalen Interessen orientiert, frontal an: \u201eSie suchen nicht nach der Wahrheit, weil sie den Mainstream f\u00fcr den letzten Stand der Wahrheit halten.\u201c (S. 387).\n\nEr pl\u00e4diert f\u00fcr \u201edie Herstellung von Rahmenbedingungen, die aus dem Europa konkurrierender Kollektive ein Europa souver\u00e4ner, gleichberechtigter B\u00fcrger machen w\u00fcrde.\u201c(S. 392) Gleichzeitig benennt er die gegen dieses Ziel stehenden Widerst\u00e4nde: \u201eAber das alles ist nicht durchsetzbar, solange das Nationalbewusstsein gegen alle historischen Erfahrungen weiter gesch\u00fcrt wird und solange der Nationalismus weitgehend konkurrenzlos ist als Identifikationsangebot an die B\u00fcrger.\u201c (S. 392) Als Identifikationsangebot und als \u201estarkes Symbol f\u00fcr den Zusammenhalt\u201c (S. 392) fordert Erhart:\u201c Die Europ\u00e4ische Union muss eine Hauptstadt bauen, muss sich eine neue, eine geplante, eine ideale Hauptstadt schenken. [\u2026] Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte sp\u00fcrbar und erlebbar bleibt\u201c (S. 393f.). Erst mit seinen letzen S\u00e4tzen l\u00e4sst Erhart die Katze aus dem Sack: \u201eIn Auschwitz muss die neue europ\u00e4ische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. 'Nie wieder Auschwitz' ist das Fundament, auf dem das Europ\u00e4ische Einigungswerk errichtet wurde.\u201c (S. 394)<ref>vgl. Fu\u00dfnote 5</ref>\n\nDie von der Figur des Prof. Erhart im Roman vertretene Vorstellung des zuk\u00fcnftigen Europa stimmt weitgehend \u00fcberein mit der Position, f\u00fcr die der Autor Robert Menasse in Essays und Vortr\u00e4gen wirbt. Es stellt sich die Frage, warum er ausgerechnet Prof. Erhart zu seinem Sprachrohr macht, der selbst wei\u00df, dass seine Rede nichts bewirkt, der alt und ohne Einfluss ist, was satirisch geschildert wird<ref>vgl. die Art, wie Erhart sich an seine altmodische Tasche klammert</ref>  und - wie Martin Susman, der ebenfalls Menasses Position vertritt - am Ende bei dem Attentat umkommt. Beide sind tragische Figuren, die einerseits den Leser mit ihren Visionen einnehmen, andererseits aber an der politischen Realit\u00e4t scheitern.\n\n===Fenia Xenopoulou===\n\nDie \u00fcberaus ehrgeizige und karrierebewusste Fenia geh\u00f6rt mit Ende 30 zur Gruppe der j\u00fcngeren EU-Beamten. Ihre Herkunft aus armen Verh\u00e4ltnissen gibt ihr die \u201egl\u00fchende Energie, die oft jenen Menschen eigen ist, denen die Misere ihrer Herkunft ewig in der Seele brennt\u201c (S. 48). Als zypriotische Griechin gelingt es ihr aufgrund guter Schulleistungen und durch die Unterst\u00fctzung ihrer Eltern, vor allem der Mutter, die Insel zu verlassen und in Athen zu studieren. Im Gegenzug erwartet die Familie finanzielle Zuwendungen durch den erhofften beruflichen Erfolg. Diese Erfahrungen f\u00fchren schon fr\u00fch bei ihr zu der Erkenntnis: \u201eLiebe ist eine Fiktion\u201c. (S. 143) Merkantiles Denken bestimmt auch ihre Ehe mit einem Athener Anwalt, der ihr ein sorgenfreies Studium erm\u00f6glicht (vgl. S. 148), w\u00e4hrend sie aufgrund ihres attraktiven \u00c4u\u00dferen und ihres gewinnenden Charmes sein Prestige steigert, so dass f\u00fcr beide ein Nutzen entsteht. Als ihr Mann ihr l\u00e4stig wird, l\u00e4sst sie sich scheiden und widmet sich ganz der Karriere. Auch dabei setzt sie ihre weiblichen Reize gezielt ein, so denkt ihr Mitarbeiter Martin Susman w\u00e4hrend einer dienstlichen Besprechung: \"[...]sie hatte einen schwarzen Rock an, mit einem diagonal verlaufenden Rei\u00dfverschluss [...] als w\u00e4re ihr Scho\u00df  durchgestrichen! Und doch mit einem Mechanismus versehen, um ihn blitzschnell \u00f6ffnen zu k\u00f6nnen!\" (S. 183)\n\nNach dem Abschluss ihres \u00d6konomie-Studiums in London und Stanford (vgl. S.33) f\u00e4llt sie \u201eals hervorragender Teil eines perfekt funktionierendes B\u00fcros\u201c (S. 32) der Generaldirektion f\u00fcr Wettbewerb auf. Sie steigt auf ins Kabinett des Kommissars f\u00fcr Handel und wird von dort zur Leiterin einer Abteilung in der Generaldirektion f\u00fcr Kultur bef\u00f6rdert, was sie selbst wegen der Bedeutungslosigkeit dieser Organisationseinheit als Karriereknick empfindet. Sie setzt alle ihr zur Verf\u00fcgung stehenden Mittel ein f\u00fcr einen Wechsel zum wichtigen Handels-Department. Zun\u00e4chst hofft sie auf Hilfe durch Frigge, der die Generaldirektion f\u00fcr Handel leitet und damit sehr einflussreich ist und mit dem sie eine Aff\u00e4re hat. Auch in dieser Beziehung zeigt sich ihr N\u00fctzlichkeits-Ma\u00dfstab: \u201cEr t\u00e4uschte Begehren vor, sie t\u00e4uschte einen Orgasmus vor. Die Chemie stimmte.\u201c (S. 35)\n\nIm 'Jubilee Project' zum 50. Geburtstag der EU, das sie \u201erasch an sich zog\u201c, sieht sie die \u201eChance, auf die sie gewartet hatte, um visibilit\u00e9 zu zeigen\u201c. (S. 62) Allerdings schiebt sie die konkrete Arbeit an dem Projekt, das sie inhaltlich nicht wirklich interessiert, ihrem \u201eSherpa\u201c (S.62) Martin Susmann zu. Als das Projekt grandios scheitert, zeigt ihr Frigge einen Ausweg aus ihrer Misere; durch den Austausch ihres griechischen Passes gegen einen zypriotischen kann sie den Aufstieg in eine wichtigere Position erreichen, weil Zypern nicht gen\u00fcgend qualifizierte Leute hat, um die ihnen in der EU-Kommission zustehenden Posten zu besetzen. Dieser Vorschlag st\u00fcrzt Fenia zun\u00e4chst in Verwirrung; sie, die sich selbst als Pragmatikerin sieht und keine nationale Bindung an Griechenland oder Zypern hat, entwickelt Skrupel (vgl. S.427). Um ihrer Karriere willen entscheidet sie sich dann aber doch f\u00fcr den Wechsel, obwohl sie die Nationalit\u00e4t als Beschr\u00e4nkung ihrer Freiheit empfindet, gewisserma\u00dfen als den Appell: \u201eBleib, wo du bist!\u201c (S. 427) Ihre vor\u00fcbergehenden Skrupel verdanken sich also nicht einem sp\u00e4t erkannten Nationalgef\u00fchl, sondern sind Ausdruck ihrer Aufsteigermentalit\u00e4t.\n\nFenia erscheint die Arbeit in der EU durchaus wichtig: \u201eSie glaubte wirklich, dass die Karriere, die sie vor sich sah, ihr Lohn daf\u00fcr sein werde, dass sie an einer Verbesserung der Welt Anteil hatte.\u201c (S. 32f.) Dabei denkt sie an die Beseitigung von Handelsschranken und den fairen Welthandel. Mit ihren Vorstellungen ist Fenia weit entfernt von den Ideen der Gr\u00fcnderv\u00e4ter der EU, sie ist keine Idealistin oder Europa-Ideologin, sondern Pragmatikerin mit Aufsteigermentalit\u00e4t, die Herkunft und Generationenbindung hinter sich gelassen hat. Ihre Ablehnung des Nationalen verdankt sich ihrer Vorstellung von Europa als Reich der Freiheit, das durch Leistung entsteht.\n\n===Martin Susman===\n\nDer 38-j\u00e4hrige (vgl. S. 121) \u00d6sterreicher entstammt einer katholischen Bauernfamilie. Er ist der j\u00fcngere Bruder von Florian, der nach dem Tod des Vaters den Hof \u00fcbernommen und zu einem florierenden Betrieb f\u00fcr Schweineproduktion ausgebaut hat. Martins katholische Sozialisation zeigt sich darin, dass er als 20-J\u00e4hriger wegen eines dummen Witzes, den er \u00fcber die Umst\u00e4nde beim Unfalltod seines Vaters gemacht hat, zur Beichte geht, weil ihn diese Schuld belastet. Im Gegensatz dazu sieht er als Erwachsener in der Existenz von Motten, die ins Licht fliegen, einen \u201eBeweis, dass es keinen Gott gab, keinen Sinn in der Sch\u00f6pfung, also keine Sch\u00f6pfung\u201c. (S. 245) Martin wurde als Kind in der Familie als ungeschickt, lebensunt\u00fcchtig und versponnen abgewertet, ihn besch\u00e4ftigten die B\u00fccher. \u201eSchau nicht schon wieder ins Narrenkastl!, hatte seine Mutter gezischt, wenn er vor einem Buch gesessen und mit verlorenem Blick vor sich hin gestarrt hatte\u201c (S. 19), anstatt bei der Arbeit auf dem Hof zu helfen. Nach dem Tod des Vaters kann er mit seinem Erbteil Studium, Promotion und Berufsfindung bequem finanzieren, von seinem Studium der Arch\u00e4ologie, bleibt ihm ein tieferer Blick auf Spuren und Schichten des Vergangenen (vgl. S. 137 f.).\n\nMartin macht Karriere und findet wie seine sp\u00e4tere Chefin Fenia Xenopoulou ohne nationale Quote eine Stellung bei der EU-Kommission im Ressort \u201eBildung und Kultur\u201c; sie macht ihn f\u00fcr das 'Jubilee Project' \u201ezu ihrem Sherpa, der die Last des Projektes schleppen sollte\u201c (S. 62). \n\nIn seinem Wesen und seiner Lebensf\u00fchrung erscheint Martin leicht depressiv, entscheidungsschwach und in praktischen Dingen ohne Initiative. So gestaltet er z.B. die Wohnung, in der er in Br\u00fcssel lebt, nicht zu einem wirklichen Zuhause, sondern sinniert \u00fcber die merkw\u00fcrdigerweise im ungenutzten Kamin vom Vorg\u00e4nger zur\u00fcckgelassenen B\u00fccher. Er verachtet sich f\u00fcr seine Lebensunt\u00fcchtigkeit und Antriebslosigkeit, sei es in Bezug auf Ver\u00e4nderungen in der Wohnung, z.B. das Austauschen des Duschvorhangs gegen eine Trennwand (vgl. S. 65), sei es in Bezug auf seine Lebensf\u00fchrung (ungesunde Ern\u00e4hrung, Gewichtszunahme) oder seine Kleidung. \u201eEr  war jetzt 38 Jahre alt und noch immer nicht imstande, sich alleine, in einer Situation und ihren Anforderungen entsprechend , anzuziehen.\u201c (S. 121) Er legt wenig Wert auf \u00c4u\u00dferlichkeiten und tr\u00e4gt Tag f\u00fcr Tag einen unauff\u00e4lligen grauen Anzug, den seine Chefin Xeno in Gedanken \u201eMaus-Kost\u00fcm\u201c (S. 181) nennt. Da ihn die Fahrt mit der Metro zur Arbeit deprimiert und er Angst vor Krankheitskeimen hat, schlie\u00dft er sich der EU-Cycling-Group an und trifft seinen Kollegen und Freund Bohumil und die B\u00fcroleiterin Kassandra meist auf der gemeinsamen Fahrt ins B\u00fcro (vgl. S. 50).\n \nSein Bruder Florian, mit dem sich Martin notgedrungen bei dessen regelm\u00e4\u00dfigen Besuchen in Br\u00fcssel trifft, versucht ihn f\u00fcr seine Lobby-Arbeit zugunsten der europ\u00e4ischen Schweineproduzenten einzuspannen und verweist dazu auf seine Familienpflichten. Er f\u00fchlt sich dem j\u00fcngeren Bruder immer noch \u00fcberlegen, was dieser klaglos hinnimmt.\n\nSeine Dienstreise nach Auschwitz zur j\u00e4hrlichen Gedenkfeier f\u00fcr die Befreiung des Lagers tritt Martin widerwillig an und mit \u201eAngst vor dem Schock, zu sehen, was unbeschreiblich war\u201c. (S.135) Vor Ort aber macht er die Erfahrung: \u201e[...] die Musealisierung t\u00f6tet den Tod, und das Wiedererkennen verhindert den Schock des Erkennens.\u201c (S. 135f.) Viel mehr verst\u00f6rt ihn die makabre Normalit\u00e4t an diesem Ort: Getr\u00e4nkeautomaten der Firma \u201eEnjoy\u201c und M\u00fcsliriegel, Besuchergruppen, sein Badge mit der Aufschrift \u201eGuest of Honour in Auschwitz\u201c usw. Trotz der warmen \u201edeutschen Unterw\u00e4sche\u201c (S. 108) gegen die K\u00e4lte friert er entsetzlich und kehrt krank nach Br\u00fcssel zur\u00fcck. Innerhalb seiner f\u00fcnf Genesungstage entwickelt er ein erstes Konzept f\u00fcr das Jubil\u00e4um.\n\nAuschwitz hat ihn ver\u00e4ndert. Gleich am ersten Arbeitstag verst\u00f6\u00dft er gegen\u00fcber den nach seinem Befinden fragenden Kollegen gegen die Konvention und gibt zu, dass es ihm nicht gut geht. Seine Projektidee \u201eAuschwitz als Geburtsort der Europ\u00e4ischen Kommission\u201c (S. 182) vertritt er gegen\u00fcber Xeno k\u00e4mpferisch, indem er auf die Gr\u00fcndungsdokumente verweist. Er argumentiert, das Jubil\u00e4um solle der \u00d6ffentlichkeit zeigen, dass die Kommission \u201evor allem auch die H\u00fcterin des gr\u00f6\u00dferen und umfassenderen Schwurs [sei], dass sich ein europ\u00e4ischer Zivilisationsbruch wie Auschwitz nie wieder ereignen w\u00fcrde.\u201c (S. 265) Zeugen dieser Ursprungsidee der EU sollen die \u00dcberlebenden von Auschwitz sein, sie will er ins Zentrum der Feier stellen.\n\nDie Suche nach diesen \u00dcberlebenden gestaltet sich als \u00fcberaus schwierig, es gibt keine entsprechenden Dokumente und auch die Anfrage bei der Europ\u00e4ischen Statistik-Beh\u00f6rde ist nicht zielf\u00fchrend. Daher l\u00e4sst Martin  zun\u00e4chst offen, ob die Feier mit einer gr\u00f6\u00dferen oder kleineren Gruppe von Shoa-\u00dcberlebenden stattfinden kann oder auch nur mit einem \u201eexemplarischen Repr\u00e4sentanten\u201c (S. 265). Auch als sein Bruder schwer verungl\u00fcckt und Martin ihn mehrere Wochen tatkr\u00e4ftig pflegt und unterst\u00fctzt (die Rollen haben sich vertauscht), arbeitet er weiter an dem Projekt, ohne zu ahnen, dass das Projekt inzwischen abgeblasen ist. Bei seiner R\u00fcckkehr nach Br\u00fcssel kommt er bei dem Bombenattentat um, gleichzeitig mit Xeno, Prof. Erhart und De Vriend, dem letzten Holocaust-\u00dcberlebenden.\n\nInteressant ist, dass Menasse gerade Martin, den zun\u00e4chst unauff\u00e4lligen, pflichtbewu\u00dften, aber wenig ambitionierten EU-Beamten durch die Erfahrungen beim Besuch von Auschwitz eine Metamorphose erfahren l\u00e4sst und ihn zu seinem Sprachrohr macht. Er l\u00e4sst ihn f\u00fcr die Grundidee der EU k\u00e4mpfen (S. 185ff.), die Menasse selbst in seinen Essays vertreten hat<ref>vgl. Ulrike Gu\u00e9rot/Robert Menasse, Es lebe die europ\u00e4ische Republik! in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. M\u00e4rz 2013</ref>. Der Verweis auf Jean Monnet und dessen angebliches Zitat:\u201e'Alle unsere Anstrengungen sind die Lehre unserer historischen Erfahrung: Nationalismus f\u00fchrt zu Rassismus und Krieg, in radikaler Konsequenz zu Auschwitz.'\u201c (S. 266) entspricht jedoch ebenso wenig den Tatsachen wie der Bezug auf die angeblichen \"Gr\u00fcndungsdokumente[n]\" (S. 183) und die Behauptung, \"der erste Kommissionspr\u00e4sident [...] Hallstein [habe] seine Antrittsrede in Auschwitz gehalten.\" (S.266)\n===Kai-Uwe Frigge===\n\nKai Uwe Frigge geh\u00f6rt zu den ranghohen Beamten der Europ\u00e4ischen Kommission. Er ist Kabinettschef in der Generaldirektion f\u00fcr Handel und \u201edamit der einflussreiche B\u00fcroleiter von einem der m\u00e4chtigsten Kommissare der Union\u201c. (S.29) Schon im Prolog erf\u00e4hrt der Leser wichtige Charakterz\u00fcge seines Wesens. Er kommt z. B. nicht gern zu sp\u00e4t zu einem Termin, weil er sein \u00c4u\u00dferes noch vorher auf der Toilette \u00fcberpr\u00fcfen und in Ordnung bringen will. \n\nFrigge ist ein schlaksiger, wendiger Mann Mitte 40. Er stammt aus einer Lehrerfamilie aus Hamburg (vgl. S. 131). \"Hanseatischer Internationalismus\" hat ihn gepr\u00e4gt, ebenso wie die Werte, die in seinem Elternhaus wichtig waren. Dazu geh\u00f6rte \u201eEinsicht in die historische deutsche Schuld und ein gro\u00dfer abstrakter Anspruch auf Friede und Gerechtigkeit in der Welt, pers\u00f6nlicher Flei\u00df und Anstand, Misstrauen gegen Moden und Mainstream \u2013 das waren die Pfl\u00f6cke, die seine Eltern eingeschlagen hatten\u201c (S. 131), hei\u00dft es im Roman und ist damit eine Betonung seiner Wertvorstellungen. Frigge ist schon seit 10 Jahren in Br\u00fcssel und lebt dort ohne eigene Familie mit einer Haush\u00e4lterin. \n\nBei der Neuordnung der Europ\u00e4ischen Kommission hat er einen gewaltigen Karrieresprung gemacht, wobei der Erz\u00e4hler offen l\u00e4sst, ob das dem Zufall oder der geschickten Strategie von Seiten Frigges zu verdanken war. Wahrscheinlich war es beides, wie man aus der anschlie\u00dfenden fragmentarischen Darstellung seines beruflichen Werdegangs schlie\u00dfen kann, der mit einer Fahrt auf Schienen verglichen wird (vgl. S. 35). Er braucht nicht \u00fcber sein Leben nachzudenken, es hat immer alles funktioniert, d.h. er hat immer funktioniert. Er hat den Ruf eines knallharten Pragmatikers, findet aber originelle L\u00f6sungen, damit der Aufwand, den er betreiben muss, um aus jeder Situation das Optimale herauszuholen, m\u00f6glichst effizient und effektiv ist - \u201eum beim Mitlaufen etwas weniger zu schwitzen oder beim Mitschwimmen etwas weniger nass zu werden.\u201c (S. 110) Auch die Tatsache, dass er montags  seinen Dresscode f\u00fcr jeden Anlass der Woche durch seine Sekret\u00e4rin festlegen l\u00e4sst, aber selbst genau kontrolliert, was sie vorschl\u00e4gt, und die Liste dann an seine Haush\u00e4lterin weiter gibt, zeigt, wie wichtig es ihm ist, in jeder Situation passend aufzutreten. (vgl. die Anekdote einer Kommilitonin S.110). Er inszeniert sich erfolgrreich.\n \nSp\u00e4testens hier wird die satirische \u00dcberzeichnung der Figur durch den Autor deutlich. Es dr\u00e4ngt sich das Klischee des \u00fcberkorrekten, pflichtbewussten Deutschen auf, was gleichzeitig zu einer gewissen Distanz des Lesers zu der Figur f\u00fchrt, obschon sie offensichtlich dem Anspruch des gl\u00e4nzend arbeitenden europ\u00e4ischen Beamten entspricht, wie Menasse ihn im \u201eEurop\u00e4ischen Landboten\u201c<ref>a.a.O. S. 21 ff.</ref> beschrieben hat.\n\nBeispielhaft wird an dem Verhalten Frigges die Arbeit der einzelnen Ressorts der Kommission dargestellt. Frigge versucht mit seinem Kollegen von der DG Agri (Directorate General forAgriculture und Rural Developement) George Morland, einem Briten, den Konflikt um den Schweinehandel zu l\u00f6sen. Die DG Agri will die Subventionen f\u00fcr die Schweinemast k\u00fcrzen, um den Preisverfall im Binnenmarkt zu stoppen (vgl. S. 128). Sie will den Binnenmarkt regulieren, bilaterale Vertr\u00e4ge mit Drittstaaten, also den Au\u00dfenhandel, aber in der Souver\u00e4nit\u00e4t der einzelnen Staaten belassen. Die DG Trade, also Frigge, will die Schweineproduktion f\u00f6rdern und ein Mandat der EU erreichen, um f\u00fcr alle Mitglieder der EU den Export der Schweinefleischproduktion mit Drittl\u00e4ndern, z. B. mit China, verhandeln zu k\u00f6nnen (vgl. S. 130).\n\nIn diesem Konflikt zeigt sich Frigge als \u00fcberzeugter Europ\u00e4er. Er bleibt dabei Pragmatiker und versucht mit Morland zu einem Kompromiss zu kommen. Er geht auf ihn ein und versucht ihn zu \u00fcberzeugen. Dabei ist Frigge kein Idealist oder Vision\u00e4r, hat aber feste \u00dcberzeugungen, und seine Logik folgt den Grunds\u00e4tzen der Europ\u00e4ischen Wirtschaftsgemeinschaft, in denen der gemeinsame Au\u00dfenhandel zu den Grundprinzipien geh\u00f6rt. Er ist der Auffassung, dass es durch Einzelhandelsvertr\u00e4ge der Nationen, z.B. mit China, nicht nur zu einem gr\u00f6\u00dferen Preisverfall kommen w\u00fcrde, sondern auch die Konkurrenz zwischen den europ\u00e4ischen Staaten wachsen und Europa auseinander dividiert w\u00fcrde. \u201eEs ist doch absurd, wenn die europ\u00e4ischen Staaten einen gemeinsamen Markt bilden, aber im Au\u00dfenhandel keine Gemeinsamkeit herstellen.\u201c (S. 133) Zum Schluss des Gespr\u00e4chs deutet Frigge gegen\u00fcber dem britischen Kollegen jedoch an, dass Deutschland in der n\u00e4chsten Zeit einen bilateralen Vertrag mit China abschlie\u00dfen wird, wodurch England ins Hintertreffen geraten k\u00f6nnte. Frigge setzt sich f\u00fcr den gemeinsamen Au\u00dfenhandel der EU ein, kann aber in dem genannten Beispiel offensichtlich nicht viel erreichen. Hier zeigt sich, wie das gemeinsame Handeln der EU-Staaten an eigenen und nationalen Interessen einzelner Beamter scheitert.\n\n===Romolo Strozzi===\n\nAn dem Scheitern des 'Jubilee Projects' ist der Italiener Romolo (Augusto Massimo) Strozzi ma\u00dfgeblich beteiligt. Er kann als Gegenbild zu dem korrekten, angepassten Deutschen Kai Uwe Frigge angesehen werden. Als Kabinettschef des Kommissionspr\u00e4sidenten geh\u00f6rt auch er zu den ranghohen Beamten und sitzt an herausragender Stelle im Machtgef\u00fcge der Kommission.\n\nEr ist der letzte kinderlose Spross einer alten italienischen Adelsfamilie. In seiner unangepassten Art gilt er in der Kommission als \"'bunter Hund'\"(S. 278), was, wie Fenia feststellt, schon in seiner Kleidung sichtbar wird. Seine Rede unterstreicht er wie ein Operettendirigent mit gro\u00dfer Gestik. Trotzdem wirkt er ehrfurcht- und respektgebietend. Er spricht mehrere Sprachen, so empf\u00e4ngt er Fenia z. B. in Altgriechisch (vgl. S. 279), \u00fcberrumpelt sie mit seiner Bildung und verunsichert sie gezielt so sehr, dass er sie manipulieren kann.\n\nAuch bei Strozzi kann man von einer satirischen \u00dcberzeichnung bestimmter Merkmale seiner Pers\u00f6nlichkeit sprechen. Er entspricht dem Klischee eines etwas sprunghaften, undurchsichtigen und theatralischen S\u00fcdl\u00e4nders und erinnert Fenia an einen \u201ebarocken italienischen Grafen\u201c (S. 278). Mit ihm findet der kom\u00f6diantische Ton, der den Roman z.B. auch mit der Schweinemetapher durchzieht, seine Fortsetzung. Strozzi ist mit dem Adel von Halbeuropa verwandt, und unter seinen Vorfahren befinden sich Vertreter aller politischen Richtungen. W\u00e4hrend sein Gro\u00dfvater als faschistischer Kriegsverbrecher 1941/42 an Massenerschie\u00dfungen beteiligt war, geh\u00f6rte sein Vater dem Verhandlungsteam der italienischen Regierung an, die den Fusionsvertrag der Europ\u00e4ischen Gemeinschaft vorbereitete. Strozzi wird das Zitat \u201eL\u2019Europe, c\u2019est moi!\u201c (S. 280) zugeschrieben. Er f\u00fchlt sich als Nachfahre einer schillernden Familientradition und berechtigt, die Macht, die er in seiner Position hat, in seinem Sinne einzusetzen. Ein europ\u00e4ischer Vision\u00e4r oder Idealist ist er sicher nicht, aber ein Pragmatiker, der sich, wie das Zitat zeigt, als Europ\u00e4er f\u00fchlt, und das, was ihm daran gef\u00e4llt, zu nutzen wei\u00df.\n \nErfahrung und Menschenkenntnis bef\u00e4higen Strozzi dazu, sofort zu erkennen, dass es Fenia bei dem 'Jubilee Project' vor allem um ihre eigene Karriere geht, und es ist f\u00fcr ihn von Anfang an klar, dass er dieses Projekt zu Fall bringen wird. Strozzi kennt sich in Br\u00fcssel bestens aus und ist gut vernetzt. Um gegen das Projekt zu intervenieren, trifft er sich mit seinem Freund, dem Protokollchef des Pr\u00e4sidenten des Europ\u00e4ischen Rates, dem Ungarn Attila Hidegkuti. Bewusst umgehen die beiden die Zust\u00e4ndigkeit von Lars Ekel\u00f6f, dem Kabinettschef des Ratspr\u00e4sidenten , \u201eein Hardcore-Lutheraner aus Schweden, dem der barocke italienische Graf naturgem\u00e4\u00df unheimlich war. [...] und der jeden Kompromiss als Verrat an seiner Moral empfindet\u201c (S. 328).  \n \nStrozzi und Hidegkuti \u201ehatten schon viele Probleme zwischen Kommission und Rat in feiner Abstimmung miteinander gel\u00f6st\u201c. (S. 328) Sie sind beide der Ansicht, dass das 'Jubilee'-Konzept zu Konflikten vor allem mit dem Europ\u00e4ischen Rat f\u00fchren w\u00fcrde, und setzen, um es zu stoppen, das Ger\u00fccht in die Welt, dass die Kommission unter dem Vorwand von Jubil\u00e4umsfeierlichkeiten einen Prozess einleiten wolle, der die Abschaffung der europ\u00e4ischen Nationen zum Ziele habe (vgl. S. 331). Dass auf dieser Basis kein Land dem 'Jubilee Project' zustimmt, ist verst\u00e4ndlich und die Idee damit gestorben.\n\n===Ryszard bzw. Mateusz Oswiecki===\n\nDer Pole Oswiecki - im Roman meist Matek genannt - begegnet dem Leser erstmals im Prolog beim schnellen, aber zugleich bewusst unauff\u00e4lligen Verlassen des Hotels Atlas, in dem kurz zuvor ein Mord geschehen ist. Obwohl sich keine explizite Textstelle finden l\u00e4sst, muss der Leser Matek f\u00fcr den M\u00f6rder halten, der offenbar im Auftrag gehandelt hat.\n\nOswiecki hat weder seinen Gro\u00dfvater noch seinen Vater kennen gelernt. Sein Gro\u00dfvater starb vor der Geburt seines Vaters, so dass auch sein Vater seinen Vater nie kennen lernte. Die V\u00e4ter waren jeweils Widerstandsk\u00e4mpfer, die Opfer ihrer Mission bzw. verraten wurden. Der Gro\u00dfvater k\u00e4mpfte 1940 im polnischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer, der Vater erlebte 1956 den von sowjetischen Truppen niedergeschlagenen Aufstand, ging in den antikommunistischen Widerstand und wurde nach einer Sabotageaktion 1964 verraten, gefoltert und schlie\u00dflich hingerichtet. Matek und sein Vater haben also ihre V\u00e4ter nur indirekt durch Erz\u00e4hlungen oder eher noch durch Haltungen der M\u00fctter den jeweiligen Kindsv\u00e4tern gegen\u00fcber kennengelernt. \u201eDie Polen, das war Mateks Lehre, hatten immer f\u00fcr die Freiheit Europas gek\u00e4mpft, jeder, der in den Kampf eintrat, war im Schweigen aufgewachsen und k\u00e4mpfte, bis er ins Schweigen einging.\u201c  (S.23)\n\nMateks Mutter \"vertraute auf den Schutz, den die Kirche gew\u00e4hren konnte. [...]\" und brachte ihren Sohn schlie\u00dflich \"bei den Schulbr\u00fcdern in Pozna\u0144 unter\u201c.  (S. 23) Dort wurde er mit teilweise drakonischen Erziehungsmethoden (vgl. S. 23-25) sozialisiert. Seine religi\u00f6sen Vorstellungen sind daher gepr\u00e4gt von Leiden mit masochistischen Z\u00fcgen (vgl. S. 207), Opfer und Lebensabgewandtheit bzw. Todesn\u00e4he. Das geht bis zur v\u00f6lligen Verkehrung: \u201eIm Grunde beneidete Mateusz Oswiecki seine Opfer. Sie hatten es hinter sich.\u201c (S. 25) Seine Religiosit\u00e4t ist auch gepr\u00e4gt von sexuellen bzw. erotischen Assoziationen (vgl. S. 116f.).\n\nSeine Sehnsucht nach einer geborgenen Kindheit erf\u00fcllt sich ganz kurz, als er im Flugzeug nach Krakau in die Augen einer Frau sieht, die die Abschiebung eines Asylbewerbers verhindern will. Er empfindet \"das Gef\u00fchl einer Geborgenheit, das er gekannt, aber vergessen hatte\" (S. 125). \n\nMateks Weg von den Schulbr\u00fcdern zu den konspirativen Geheimdienstkreisen, denen er offenbar zur Zeit der Romanhandlung angeh\u00f6rt, bleibt wie Vieles im Dunkel von Andeutungen und Verschw\u00f6rungstheorien. Nach einer abenteuerlichen Katz-und-Maus-Episode zwischen Br\u00fcssel, Krakau, Warschau und Istanbul stirbt er bei einem Zugungl\u00fcck auf dem Weg in die Zentrale des kirchlichen Geheimdienstes nach Pozn\u00e1n. Sein Sterben wird von ihm als etwas Sch\u00f6nes erlebt und mit einer \"Frauenstimme\" und dem \u201eGef\u00fchl von Geborgenheit\u201c (S. 398) verbunden. Vor seinem inneren Auge sieht er sich mit einem Drachen, den er steigen l\u00e4sst und gegen Angreifer verteidigt und festh\u00e4lt, bis er seine applaudierende Mutter sieht und losl\u00e4sst, \u201eder Drachen stieg hinein in die Sonne, dorthin wo sie nicht mehr blendete, sondern tiefrot und schlie\u00dflich schwarz wurde.\u201c (S. 399) Dieses Bild kann man deuten als Sterbeprozess, als Loslassen des Lebens.  \n\nZur Frage nach der Funktion dieser Figur und des allein durch sie bestehenden Erz\u00e4hlstrangs mit Krimielementen und kruder Verschw\u00f6rungstheorie ist darauf hinzuweisen, dass Matek f\u00fcr die Tradition des polnischen Widerstands steht, ein polnisches Narrativ verk\u00f6rpert, aber auch f\u00fcr die generationale Tradition steht, \u00e4hnlich wie die Figuren de Vriend und Brunfaut. Durch Matek wird die extreme Fremdheit des polnischen Nationalismus und Katholizismus und die irritierende Verbindung von Religion und Politik bzw. von Kirche und Gewalt verdeutlicht. Die sowohl hier als auch im Erz\u00e4hlstrang des Brunfaut angesprochene Vernetzung des Vatikans \u00fcber die ganze Welt wird vom Leser als unheimlich empfunden, kann aber auch als Karikatur der katholischen Kirche als weltweites Bespitzelungsnetzwerk verstanden werden.\n\nVielleicht soll durch die Figur des Matek und den dazu geh\u00f6rigen Erz\u00e4hlstrang auf die fundamentalistischen Z\u00fcge der Religiosit\u00e4t in Polen und den Nationalismus auch anderer osteurop\u00e4ischer Mitgliedsl\u00e4nder verwiesen werden, f\u00fcr die die Grundideen der EU eher wenig Bedeutung haben.\n\n===Emile Brunfaut===\n\nKommissar Emile Brunfaut leitet die Ermittlungen zum Mordfall im Hotel Atlas. Er wird als \u201eZwei-Meter-Mann\u201c (S. 98) beschrieben, muss deutlich \u00fcber 50 Jahre alt sein und f\u00fchlt selbst, dass er alt zu werden beginnt (vgl. S. 80).\n\nBrunfaut stammt aus Br\u00fcssel und liebt die Stadt, weshalb er auch deren negative Ver\u00e4nderungen, z.B. durch den Massentourismus, beklagt. Er ist der Sohn von Jean-Richard Brunfaut, der w\u00e4hrend des Zweiten Weltkriegs die Widerstandsgruppe 'Europe libre' gegen die Deutschen leitete (vgl. S. 355). St\u00e4rker als sein Vater bestimmen jedoch die Erinnerungen an seinen Gro\u00dfvater, Widerstandsk\u00e4mpfer im Ersten Weltkrieg, die Erinnerungen und das Denken von Emile Brunfaut. Er hat den Gro\u00dfvater als Kind gef\u00fcrchtet und erst nach dem Tod der Eltern begonnen, \u201eRespekt und Bewunderung f\u00fcr den Mann zu empfinden\u201c (S. 93); als Erwachsener besucht er j\u00e4hrlich am Todestag das Grab des Gro\u00dfvaters und weint sogar um ihn, dessen entschiedene Urteile ihm oft einfallen.\n\nDass Brunfaut f\u00fcr seinen Beruf geeignet ist, l\u00e4sst sich bereits im 1. Kapitel erkennen, wo er als sehr aufmerksamer Beobachter gekennzeichnet wird, dem als einzigem der alte Mann am Fenster des Abbruchhauses gegen\u00fcber dem Hotel Atlas auff\u00e4llt und der dann klare Anweisungen an seine Mannschaft gibt. Schon hier wird damit eine Verbindung zu David de Vriend hergestellt, den Brunfaut nicht kennen lernt, obwohl die beiden Figuren mehrfach am selben Ort, in dieser Szene sogar zur selben Zeit sind. Die Ermittlungen zum Mordfall werden bereits nach zwei Tagen auf \u201eWeisung von h\u00f6chster Stelle\u201c (S. 98) eingestellt, und der Kommissar stellt fest, dass ausnahmslos alle Unterlagen und Daten verschwunden sind, so dass der Mord, von dem auch keinerlei \u00f6ffentliche Notiz genommen wurde, scheinbar niemals stattgefunden hat. Brunfaut wird in Urlaub geschickt und soll seine \u00dcberstunden abbauen.\n\nDieser Vorgang weckt Brunfauts Kampfgeist, denn er widerspricht seinem Berufsverst\u00e4ndnis. \u201eEr hatte einen seltsamen Gedanken: War das jetzt der Moment, wo er endlich zum Enkel [des ber\u00fchmten Widerstandsk\u00e4mpfers] werden musste?\u201c (S. 100) Sp\u00e4testens hier wird deutlich, dass der Autor durch das Motiv des politischen Widerstands die Figuren de Vriend, Matek und Brunfaut in einen Kontext bringt, den nur der Leser erkennen kann. Zur Bekr\u00e4ftigung der politischen Dimension hinterl\u00e4sst der Kommissar auf der Flipchart in seinem B\u00fcro die Aufschrift: \u201eLa Loi, la Libert\u00e9!\u201c (S. 100)\n\nSein Widerstand wird befeuert durch die zur Panik gesteigerte Sorge um seinen Gesundheitszustand, der sich allerdings als weniger schlimm erweist als bef\u00fcrchtet und ihm nach drei Wochen die R\u00fcckkehr in den Dienst zu belanglosen Schreibtischt\u00e4tigkeiten erlaubt. Insgeheim arbeitet er jedoch zusammen mit seinem besten Freund Philippe Gaultier, dem Leiter des EDV-Zentrums der Br\u00fcsseler Polizei, der f\u00fcr den offenbar allein stehenden Brunfaut zugleich Familie bedeutet, an der Ermittlung des Mordfalls bzw. dessen systematischer Vertuschung. Als Philippe ihn bei einem geplanten Treffen auf dem Friedhof versetzt, entsteht bei Brunfaut ein ihn sehr belastender Vertrauensverlust, in dem er selbst die von ihm stets gef\u00fcrchtete \u201eD\u00e9formation professionnelle\u201c (S. 337) erkennt. Wieder erinnert er sich an einen erst sp\u00e4ter von ihm verstandenen Satz seines Gro\u00dfvaters: \u201eWer die Freiheit liebt und wer die Wahrheit liebt, der verlernt zu lieben. (S. 336) Zwar kl\u00e4rt ihn Philippe bei einem sp\u00e4teren Treffen ausf\u00fchrlich \u00fcber die Ergebnisse seiner Hacker-Ermittlungen auf, der Leser erlebt Brunfaut jedoch bei seinem letzten Auftreten im Roman als desillusionierten, schwer angeschlagenen, alten Mann. Als Drahtzieher des Mordes pr\u00e4sentiert ihm sein Freund die Nato, die \u201eeine Art von Todesschwadron\u201c der katholischen Kirche beauftragt, \u201emutma\u00dfliche Terroristen oder so genannte Hassprediger\u201c (S. 370) zu liquidieren - eine Verschw\u00f6rungstheorie, von der nicht nur Kommissar Brunfaut \u201ekein Wort\u201c (S. 372) glaubt, durch die aber die Handlungsstr\u00e4nge von Brunfaut und Matek eng miteinander verbunden werden. Beide Figuren sind in starke Machtstrukturen eingebunden, diesen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Der Liquidierung Mateks entspricht im Fall des Kommissars die von oben angeordnete Vertuschung des Mordes.\n\n==Europa?==\n\nDurch die satirisch klischeehafte Darstellung der einzelnen europ\u00e4ischen Beamten werden einerseits die Schw\u00e4chen des Systems der EU-Kommission beleuchtet, die nicht zuletzt durch pers\u00f6nliche Pr\u00e4gungen und Eigeninteressen entstehen, gleichzeitig wird aber auch die Vielschichtigkeit, Komplexit\u00e4t und Internationalit\u00e4t der Beh\u00f6rde sichtbar und es zeigt sich, dass trotz aller Unterschiede in Kultur und Selbstverst\u00e4ndnis die Idee eines gemeinsamen Europas als Basis der Arbeit und als Zusammenhalt noch existiert. Dass aber alle Anstrengungen, diese Idee zu f\u00f6rdern und wieder zu beleben, scheitern, unterstreicht die Krise, in der das Projekt Europa steht.\n\nNach der Analyse der einzelnen Hauptfiguren des Romans l\u00e4sst sich feststellen, dass nur zwei der insgesamt sieben Protagonisten, n\u00e4mlich Erhart und Susman, als gl\u00fchende Verfechter der europ\u00e4ischen Idee anzusehen sind. Sie sind Vertreter unterschiedlicher Generationen und ihr k\u00e4mpferischer Einsatz f\u00fcr ihre Vorstellung von Europa speist sich aus unterschiedlichen Quellen. W\u00e4hrend Erhart seine Position \u00f6konomisch begr\u00fcndet und ganz auf der Basis wissenschaftlicher Theorie argumentiert, motiviert gerade den eine Generation j\u00fcngeren Susman die Erfahrung der Geschichte. Sein Besuch in Auschwitz gibt den entscheidenden Ansto\u00df f\u00fcr seine Arbeit am 'Jubilee-Project'. M\u00f6glicher Weise bef\u00f6rdert sein Arch\u00e4ologie-Studium das Denken in historischen Dimensionen.\n\nBei den \u00fcbrigen Figuren aus dem Kreis der EU-Beamten sind ebenfalls Zusammenh\u00e4nge zwischen ihrer Biographie und ihrer Einstellung zu Europa erkennbar. Die Motivation f\u00fcr ihre Arbeit bei der EU entspringt ihrem Ehrgeiz, ihrem Streben nach Erfolg und Karriere. Dies gilt besonders f\u00fcr Fenia Xenopoulou, f\u00fcr die Europa die Freiheit zu gesellschaftlichem Aufstieg und Selbstverwirklichung durch Leistung bedeutet. Kai-Uwe Frigge verk\u00f6rpert Perfektionismus und Pragmatismus in seiner erfolgreichen Arbeit f\u00fcr die EU. Strozzi ist gewisserma\u00dfen durch seine Herkunft dazu pr\u00e4destiniert, eine Position mit Macht und Einfluss auszuf\u00fcllen, und tut dies anscheinend mit Gelassenheit und Vergn\u00fcgen. Auch er erscheint aber nicht als idealistischer K\u00e4mpfer f\u00fcr die europ\u00e4ische Idee, sondern als routinierter Pragmatiker und F\u00e4denzieher.\nAllen Figuren aus dem Spektrum der EU-Beamten gemeinsam ist ihre ausschlie\u00dflich auf die Arbeitswelt konzentrierte Lebensweise in Br\u00fcssel. Sie leben allein in unpers\u00f6nlichen Umgebungen, isoliert von Familie, Freunden und Heimat. Je nach Dauer ihrer Zugeh\u00f6rigkeit mag sich in ihnen das \u201eGef\u00fchl, hier irgendwie zwischen vielen Welten zu Hause zu sein\u201c (S. 66) entwickeln.\n\nEinen skeptischen Ausblick in die weitere Entwicklung der EU-Arbeit gibt Fenias Mitarbeiter Bohumil, wenn er \u00fcber junge Kollegen spricht: \u201eDas ist die neue Generation bei uns, [\u2026] keine Europ\u00e4er, sondern einfach Karrieristen in den europ\u00e4ischen Institutionen, sie sind wie Salamander, man kann sie ins Feuer werfen, aber sie verbrennen nicht, ihr Hauptmerkmal ist ihre Unzerst\u00f6rbarkeit.\u201c (S. 150) Verglichen mit den 'Salamandern' erscheinen die im Zentrum des Romans stehenden Figuren wohltuend menschlich und durchaus individuell gestaltet.\n\n==Erz\u00e4hltechnik und Leserlenkung==\n\nDas Personal-Tableau des Romans wirkt auf den Leser insgesamt recht vielf\u00e4ltig und l\u00e4sst vor allem keine eindeutige oder gar einseitige Parteinahme f\u00fcr eine bestimmte Richtung erkennen, in die Europas Zukunft sich entwickelt. Stattdessen wird der Leser herausgefordert, selbst einen Standpunkt in der Krise Europas zu finden. Dabei kann er sich wohl kaum an einer der Romanfiguren orientieren in dem Sinne, dass er eine Identifikationsfigur bzw. einen Sympathietr\u00e4ger findet. Dazu weisen sie alle zu starke Anteile an negativen bzw. abschreckenden Eigenschaften auf.\n\nEine letzte Steigerung erfahren die Orientierungsprobleme des Lesers durch den Romanschluss: vier der Hauptfiguren, darunter drei aus dem unmittelbaren Umfeld der EU-Thematik (Fenia, Martin und Erhart), sterben bei einem Bomben-Anschlag auf die Br\u00fcsseler Metro-Station Maelbeek. Menasse greift die am 22. M\u00e4rz 2016 in Br\u00fcssel ver\u00fcbten Terroranschl\u00e4ge auf und gibt seinem Europa-Roman damit aktuellen Z\u00fcndstoff und dem Leser ein Problem mehr mit auf den Weg. Einen weiteren aktuellen Bezug zu den Konflikten Europas stellt der Autor dadurch her, dass der Fl\u00fcchtlingszug auf der ungarischen Autobahn im Roman vorkommt (vgl. S. 221 f.), allerdings nur als Ausl\u00f6ser f\u00fcr den schweren Autounfall des Bruders von Martin Susman.\n\nDass die Probleme des islamistischen Terrors und die Fl\u00fcchtlingskrise im Roman nur ganz am Rande vorkommen, ist von der Literaturkritik<ref>z.B. Andreas Isenschmid in der ZEIT (vgl. die \u00dcbersicht der Rezensionen)</ref> negativ beurteilt worden. Man mag hierin das Bem\u00fchen um eine nur vordergr\u00fcndige Aktualit\u00e4t oder sogar eine absatzf\u00f6rdernde Strategie sehen. Andererseits h\u00e4tte die Behandlung dieser Themen das Konzept des Romans gesprengt, insofern er zur Auseinandersetzung \u00fcber das Fundament und die grunds\u00e4tzliche Richtung Europas anregen will. Diese Absicht w\u00fcrde auch erkl\u00e4ren, dass Menasse anders als in seinen Sachtexten zum Thema den Leser nicht einseitig zu \u00fcberzeugen versucht, sondern mit dem Mittel der Literatur \u00fcberhaupt erst die Besch\u00e4ftigung mit Europa initiieren will.\n\n===Erz\u00e4hlperspektive===\n\nDas Interesse der Leser an Europa zu wecken gelingt Menasse u.a. durch die Gestaltung der Erz\u00e4hlperspektive. Das Geschehen wird ganz \u00fcberwiegend aus der personalen Perspektive bzw. in interner Fokalisierung<ref>Eine hilfreiche Darstellung der verschiedenen Theorien bzw. Begriffe zu diesem Thema findet sich z.B. bei: Peter Wenzel (Hg.), Einf\u00fchrung in die Erz\u00e4hltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004</ref> erz\u00e4hlt, d.h. wir sehen mit den Augen der Figuren und k\u00f6nnen deren Empfinden und Denken nachvollziehen. Der Erz\u00e4hler ist selbst nicht Teil der erz\u00e4hlten Welt, sondern spricht in der dritten Person \u00fcber die Figuren, was dazu f\u00fchrt, dass eine Distanz zwischen Leser und Figur erhalten bleibt. Der als Figur im Text kaum wahrnehmbare Erz\u00e4hler verf\u00fcgt nicht \u00fcber uneingeschr\u00e4nkte Informationen, wie es bei einem auktorialen bzw. allwissenden Erz\u00e4hler der Fall ist; so wei\u00df der Erz\u00e4hler z.B. nicht, wer der M\u00f6rder aus dem Hotel Atlas ist oder was es mit dem mysteri\u00f6sen Schwein auf den Stra\u00dfen Br\u00fcssels auf sich hat. Diese Eingeschr\u00e4nktheit bei gleichzeitiger Kenntnis des Innenlebens der Figuren erlaubt dem Leser eine seiner eigenen Lebenserfahrung sehr \u00e4hnliche Haltung. Durch den h\u00e4ufigen Wechsel zwischen den Perspektiven der verschiedenen Figuren, aus deren Blickwinkel jeweils erz\u00e4hlt wird, wird der Leser immer wieder aus der Einf\u00fchlung in eine Figur herausgerissen und muss sich stattdessen auf ganz verschiedene Sichtweisen einlassen.\n\nJenseits dieser den Leser in den Strudel der verschiedenen Blickwinkel ziehenden Erz\u00e4hlweise finden sich an wenigen Stellen jedoch auch deutliche Zeichen eines Erz\u00e4hlers, der mehr wei\u00df als alle seine Figuren und den Leser f\u00fchren kann, wenn er denn nur wollte. So hei\u00dft es beispielsweise in einer aus Brunfauts Sicht erz\u00e4hlten Passage: \u201e\u00c9mile Brunfaut war ein poetischer Mensch. Er wusste es nur nicht, weil er wenig las. [\u2026] Aber da untersch\u00e4tzte er sich.\u201c (S. 363)\n\nEine \u00e4hnliche Stelle findet sich zu Prof. Erhart, dessen Gedanken kurz vor Beginn der Sitzung erz\u00e4hlt und dann mit folgendem Satz abgeschlossen werden: \u201eSeltsam, dass Alois Erhart, dieser im Grunde seines Herzens so gl\u00fccklich konservative Mensch, in dieser Runde zum traurigen Revolution\u00e4r werden sollte.\u201c (S. 194) Hier wird der Erz\u00e4hler nicht nur als wertender Kommentator der Figur sichtbar, sondern er weckt auch Spannung. Diese antizipierende Erz\u00e4hlweise, die Erwartungen des Lesers steuert, findet sich auch an anderen Stellen, z. B. bei einem Abschnitt \u00fcber Kommissar Brunfaut: \u201eEs sollte tats\u00e4chlich der Tag werden, an dem er Abschied nehmen musste.\u201c (S. 80) Bei der Schilderung dieses Abschiedes begibt sich der Erz\u00e4hler sogar auf eine Metaebene, indem er das Erz\u00e4hlen selbst thematisiert: \u201eDer Algorithmus, der alles M\u00f6gliche filtert und auch das bisher Erz\u00e4hlte geordnet hat, ist nat\u00fcrlich verr\u00fcckt \u2013 vor allem aber ist er beruhigend: Die Welt ist Konfetti, aber durch ihn erleben wir sie als Mosaik.\u201c (S. 100) Man k\u00f6nnte meinen, dass uns hier der Autor Sinn und Zweck der den Roman kennzeichnenden perspektivischen Gestaltung verr\u00e4t.\n\n===Ironie, Satire, Witz===\n\nTrotz des ernsthaften politischen Themas kennzeichnet Menasses Roman eine zum Teil humorvolle und damit heitere Erz\u00e4hlweise, die an vielen Stellen satirische Z\u00fcge hat. Dies soll beispielhaft am Schweine-Motiv verdeutlicht werden.\n\nDas im Prolog in der Br\u00fcsseler Innenstadt frei umher laufende Schwein erscheint zun\u00e4chst als ausgefallener Trick zur Exposition mehrerer der Hauptfiguren, l\u00e4sst den Leser aber ahnen, dass es auch im Verlauf der Romanhandlung eine Rolle spielen wird.\n\nDies best\u00e4tigt sich erstmals im zweiten Kapitel: Martin Susman trifft zum Abendessen seinen \u00e4lteren Bruder Florian, der den v\u00e4terlichen Hof zum Gro\u00dfbetrieb f\u00fcr Schweinezucht entwickelt hat, als \u201ePr\u00e4sident [\u2026] von 'The European Pig Producers'\u201c (S. 70) den j\u00fcngeren Bruder unter Hinweis auf Familienpflichten zur Unterst\u00fctzung seiner Lobbyarbeit benutzen will und selbstverst\u00e4ndlich \u201eSchwein in Kirschenbier\u201c (S. 73) isst, allerdings ohne davon etwas zu schmecken. Letzteres z\u00e4hlt zu den leicht zu \u00fcbersehenden Witzen, z.B. auch bei Fenia, die wenige Minuten vor ihrem Tod \u00fcberlegt, im Caf\u00e9 \u201e Het Lachende Varken\u201c  (S. 428) noch etwas zu trinken, wobei dem Leser hier das Lachen schnell im Halse stecken bleibt. Heiterer ist da schon der Hinweis auf die Verwechslung des K\u00fcrzels EPP, das sowohl die europ\u00e4ischen Schweineproduzenten als auch die \u201eEuropean People\u2019s Party\u201c  (S. 75) [https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Volkspartei] verwenden, wodurch Menasse eine Pointe setzt.\n\nIm f\u00fcnften Kapitel bietet das Schwein den Anlass f\u00fcr eine Mediensatire, die Menasse offenbar so wichtig ist, dass er den Epilog ganz dem Abschluss dieses Themas widmet. Das \u201ein k\u00fcrzester Zeit zum Medienstar\u201c (S. 172) avancierte Schwein wird n\u00e4mlich \u201ein den K\u00f6pfen einer verantwortungslos verunsicherten Bev\u00f6lkerung [\u2026] eine hysterische kollektive Projektion\u201c (S. 174). Daf\u00fcr haben sowohl Facebook als auch die Zeitung 'Metro' gesorgt, in der Professor Kurt van der Koot eine \u201efixe Kolumne\u201c (S. 319) schreibt und \u201eNamensvorschl\u00e4ge an die Redaktion\u201c (S. 320) erbittet.\n\nWie im Prolog so dient das Schwein auch im Hauptteil u.a. als Bindeglied zwischen den zentralen Figuren. So l\u00e4sst Kommissar Brunfaut in Ermangelung anderer Anhaltspunkte \u201edie Identit\u00e4t des Schweins herausfinden\u201c (S. 82) und beauftragt seinen Freund Philippe das sichergestellte Gen-Material des Schweins \u201emit der von allen Schweinen, die in der Europol-Datenbank registriert sind\u201c (S. 201) abzugleichen. Das Schwein r\u00e4cht sich sp\u00e4ter, indem es den Kommissar, der ausgerechnet auf dem Friedhof gespannt auf ein konspiratives Treffen mit einem Informanten wartet, zu Fall bringt, so dass er mit \u201eeinem stechenden Schmerz vom Stei\u00dfbein hinaus in den R\u00fccken\u201c (S. 313) f\u00fcr Tage gestraft ist.\n \nDavid de Vriend lernt im Altersheim Romain Boulanger kennen, der im Ruhestand als freier Autor \u201edie Geschichte mit dem Phantomschwein\u201c (S. 227) f\u00fcr die Zeitung schreibt. W\u00e4hrend eines Mittagessens im Lokal erkl\u00e4rt der alte Mann einem kleinen M\u00e4dchen die Bedeutung der vier chinesischen Zeichen ihres Klebetattoos folgenderma\u00dfen: \u201eAlle [\u2026] Menschen [\u2026] sind [\u2026] Schweine\u201c (S. 384).\n\nRomolo Strozzi sieht vor einem Stra\u00dfencaf\u00e9 einen Menschen \u201ein einem grotesken Schweinekost\u00fcm\u201c (S. 322), der Werbung f\u00fcr eine Metzgerei macht. Als Kabinettschef des EU-Pr\u00e4sidenten steht er \u00fcber den Konflikten der verschiedenen Abteilungen der Kommission. Deren \"Kompetenzstreit beruhte darauf, dass das Schwein eine Querschnittsmaterie war\" (S. 129).\n\nDie Rolle des Schweine-Motivs auf der gro\u00dfen europapolitischen bzw. marktwirtschaftlichen B\u00fchne wird deutlich in den Verhandlungen zwischen Frigge und seinem britischen Verhandlungspartner George Morland. Letzterer, der zu seinem Pech auch noch \u00c4hnlichkeit mit einem Schwein hat<ref>\u201eSein rundes, rosafarbenes Gesicht, seine platte Nase\u201c (S. 377)</ref>, torpediert aus \u00c4rger \u00fcber seine Niederlage im Kampf gegen einen \u201eGemeinschaftsvertrag der Union mit China\u201c (S. 378) das 'Jubilee-Project' der EU-Kommission und trifft damit besonders die Mitarbeiter der Abteilung f\u00fcr Kommunikation, also Fenia Xenopolou und ihre Mitarbeiter sowie die Leiterin Mrs. Atkinson, deren Position er gerne selbst gehabt h\u00e4tte (vgl. S.379). Die Arbeit der beiden wichtigen Abteilungen Handel und Landwirtschaft endet schlie\u00dflich ironischer Weise damit, dass die \u201eEU [\u2026] Stilllegungspr\u00e4mien f\u00fcr Schweinez\u00fcchter\u201c (S. 437) zahlt, w\u00e4hrend Deutschland und die Niederlande jeweils zu ihrem Vorteil bilaterale Handelsvertr\u00e4ge mit China abschlie\u00dfen k\u00f6nnen.\n\nIm Rahmen der Mediensatire wird die Zeit bis zum Einsendeschluss der Namensvorschl\u00e4ge f\u00fcr das Schwein mit \u201eder Serie 'Das Schwein als universelle Metapher'\u201c (S. 320) gef\u00fcllt. In der recht breit wiedergegebenen Zusammenfassung der Serie (vgl. S. 320f.) wird der Leser nicht nur unterhalten, sondern erh\u00e4lt mutma\u00dflich auch Einblick in die \u00dcberlegungen des Autors Menasse, die zur Wahl des Schweins als Leitmotiv f\u00fcr den Roman gef\u00fchrt haben.\n\n==Rezensionen (Auswahl)==\n\n*Andreas Isenschmid, Herrliche Drittmittelgedanken in: ZEIT online vom 06.09.2017/09.10.2017\n*Tobias Lehmkuhl, Im Schweinsgalopp durch Br\u00fcssel      in: SZ vom 09.09.2017\n*Bj\u00f6rn Hayer, EU-B\u00fcrokratie im Roman Europa, Union der Einzelk\u00e4mpfer in: Spiegel online vom 11.09.2017\n*Jochen Hieber, Die Leiden des Kulturbeamten Martin Susman  in: FAZ vom 13.09.2017\n*Harald J\u00e4hner, Die gl\u00fcckliche Langeweile des Friedens     in: Franfurter Rundschau vom 13.09.2017\n*Carsten Otte, Mehr als Gurkenkr\u00fcmmunsgrade  in: Tageszeitung vom 16.09.2017\n*Melanie Weidenm\u00fcller, Robert Menasse - Die Hauptstadt  https://www1.wdr.de/kultur/buecher/menasse-die-hauptstadt-104.html\n*Christian Dinger, Zwischen Br\u00fcssel und Auschwitz  https://literaturkritik.de/menasse-die-hauptstadt-zwischen-bruessel-und-auschwitz,23704.html\n*Dominik Nuese-Lorenz, Robert Menasse - Die Hauptstadt  https://www.booknerds.de/2017/11/europa-das-schwein-die-liebe-robert-menasses-roman-die-hauptstadt/\n*Christoph Bartmann, Ein Schwein geht um in Europa  in: FALTER 36/2017\n*Roland Freudenstein, Wie Robert Menasse Europa kaputtschreibt  in: Tagesspiegel vom 12.01.\n\n\n==Anmerkungen=="
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