Martin Walser, Mein Jenseits (von Monika Hartkopf)

Aus Literarische Altersbilder

Inhalts- und Handlungsanalyse

Die als Ich-Erzähler auftretende Figur des Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein, Chefarzt des psychiatrischen Landeskrankenhauses in Scherblingen, seit unbestimmter Zeit kraft eigenen Entschlusses 63 Jahre alt, stiehlt die Heiligblutreliquie aus der Stiftskirche und wird zur Vermeidung eines Skandals als Patient in die geschlossene Abteilung der bisher von ihm geleiteten Klinik eingewiesen. Soweit die in einem Satz zusammenfassbare äußere Handlung von Walsers Novelle, die in den letzten zwei von insgesamt sieben Kapiteln recht knapp erzählt wird.

Gleich mit den ersten beiden Sätzen der Erzählung („Je älter man wird, desto mehr empfiehlt es sich, darauf zu achten, wie man auf andere wirkt. Ich bin dreiund-sechzig.“, S. 11[1]) rückt Walser das Thema Alter und Altern ins Zentrum. Der überwiegende Teil des ersten Kapitels stellt die Erinnerungen des Ich-Erzählers an den in seinem Heimatdorf gepflegten Umgang mit dem Knecht Konrad dar, der „allmählich komisch wird“ (S. 11). Konrads Geschichte stellt der Ich-Erzähler am Ende des ersten Kapitels seine eigene Zielsetzung gegenüber, wobei er sich dem Leser gleichzeitig in seiner Rolle als Erzähler vorstellt, worauf im Folgenden noch näher eingegangen werden soll. Hier taucht erstmals der Titel der Novelle auf, indem der Erzähler ausdrücklich erklärt, es gehe ihm um „mein Jenseits“ (S. 21).

Das zweite Kapitel schildert eine dreitägige Reise des Erzählers nach Rom, wo der mehrfache Besuch der Kirche San Agostino mit Caravaggios Gemälde der Madonna dei Pelligrini seine Hauptbeschäftigung ist. Im Zentrum des durch Hin- und Rückflug abgerundeten Kapitels wird das Thema Jenseits wieder aufgenommen und nun einerseits auf die künstlerische Schönheit („Das Jenseits muss schön sein.“ S. 32) und Rom als deren Ort („Rom ist mein Jenseits.“ S. 36), andererseits auf die religiöse Dimension bezogen: es geht um Pilger und ihre Verehrung der Madonna („Mehr kann man sich zu nichts anstrengen als dieses Paar sich zur Anbetung[2] anstrengt.“ S. 31). Der Erzähler erkennt durch die Betrachtung des Bildes: „Das Jenseits ist eine andauernde Leistung. Wenn man aus irgendeinem Grund erschöpft ist, stellt es sich nicht ein.“ (S. 36f)

Die religiöse Thematik wird im dritten Kapitel mit der Schilderung eines Besuches der Stiftskirche des Klosters Scherblingen fortgesetzt. Der Erzähler trifft dabei auf den Mesner, der seine Funktion nach dreißig Dienstjahren im Alter von siebzig in Kürze aufgeben wird, und überrascht diesen ebenso wie den Leser mit der Feststellung, dass er „Lust hätte, sein Nachfolger zu werden“ (S. 44). Im Hauptteil des Kapitels erfährt der Leser gleichsam als Erklärung und Begründung der Eignung zum Mesner, dass „diese Kirche mein Element ist“ (S. 47); ausführlich stellt der Erzähler uns das Wirken seines Vorfahren dar, der es vom Bauernbub Franz Feinlein zum Chorherrn, Prior und zuletzt Reichsprälat Eusebius gebracht und nach der Auflösung des Klosters 1803 die Reliquien-Verehrung und damit „die Glaubensleistungen vergangener Jahrhunderte“ (S. 57) erforscht habe. Als wesentliches Ergebnis seiner Studien sei der Vorfahr zu der Erkenntnis gekommen: „Es ist nicht wichtig, dass Reliquien echt sind.“ (S. 57)

Das vierte Kapitel der Novelle ist das umfangreichste und stellt die Beziehung zwischen Feinlein und Eva Maria dar, die bisher nur einmal ganz am Rande (vgl. S. 40) erwähnt wurde. Die in der Erzählgegenwart des Textes neunundfünfzigjährige Eva Maria hat der Erzähler als junger Mann (Assistenzarzt) im Latein-Seminar an der Universität Konstanz kennen gelernt und offenbar auf Anhieb bewundert und begehrt. Er verliert seine Freundin jedoch schon nach kurzer Zeit an den Grafen von Wigolfing, den sie drei Wochen nach der ersten Begegnung heiratet. Anlässlich ihrer Hochzeit erhält der Erzähler erstmals eine Karte von ihr mit dem Text „Ich werde dich immer lieben. Bis bald. Eva Maria“ (S. 64). Sinngemäße Grußbotschaften erreichen ihn fortan jeweils einmal jährlich, persönliche Kontakte scheint es dagegen nicht zu geben. Dies gilt auch für die Zeit, als Eva Maria nach dem Unfalltod ihres Mannes Dr. Bruderhofer heiratet, der neunzehn Jahre jünger als sie und Feinleins designierter Nachfolger in der Klinikleitung ist, so dass gesellschaftliche Anlässe wie der im fünften Kapitel geschilderte Silvesterball eine Begegnung nahegelegt hätten.

Die Geschichte der nur auf Kunstpostkarten (!) erwiderten Liebe zu Eva Maria spiegelt gleichzeitig die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers wider, der eine zweite Dissertation über das in die klassische Depression führende Erschöpfungssyndrom verfasst hat und nüchtern feststellt: „So, also durch Eva Maria, bin ich überhaupt in die Psychiatrie gekommen“ (S. 66). Sie ist damit ebenfalls ursächlich für die Beschäftigung mit dem Glauben, als dessen Bedingung der Erzähler die „Aussichtslosigkeit“ erkennt – „So lange noch etwas möglich ist, glaubt man nicht.“ (S. 76). Die Reflexionen des Erzählers münden in diesem Kapitel in das Fazit: „IN LIEBE ist mein Jenseits. Glauben, was nicht ist. Dass es sei.“ (S. 80).

Parallel zur Liebesgeschichte rückt die Figur des vorher nur am Rande erwähnten Bruderhofer als Kontrahent des Ich-Erzählers in diesem Kapitel in den Vordergrund und wird dem Leser sowohl in seinem beruflichen Handeln als Kritiker Feinleins als auch im Freizeitbereich vorgestellt.

Bruderhofer steht im fünften Kapitel im Mittelpunkt, in dem hauptsächlich die Ereignisse während des letzten Silvesterballs in der Klinikkantine geschildert werden. Der Erzähler erleidet eine zweifache Niederlage: zu Beginn des Kapitels bietet der Kantinenpächter Bruderhofer das Du an, das zuvor nur dem „Chef“ (S. 84) zustand, der darin also den Verlust seiner Position vorweggenommen sehen muss; weit schwerer jedoch wiegt der dementsprechend dramatisch inszenierte Verlust des Vertrauensverhältnisses zu seiner Sekretärin. Ihr widmet Bruderhofer den ersten Tanz im neuen Jahr und macht aus diesem eine „Schau“ (S. 89), auf die der in seiner Wehrlosigkeit als Nicht-Tänzer resignierte Erzähler so reagiert, dass er sich betrinkt und seiner Sekretärin öffentlich die Ehe anbietet, worauf er sich von Mitarbeitern unauffällig nach Hause bringen lassen muss. Nüchtern wird ihm klar, „dass ich Luzia Meyer-Horch verloren hatte“(S. 92) und in der Folgezeit bestätigt sich dies durch ihr verändertes Verhalten: „Jetzt merkt sie überhaupt nicht mehr, wie mir zumute ist. Zumute in allem. Zumute überhaupt.“ (S. 94) Das Kapitel schließt damit, dass der Ich-Erzähler das Auseinanderklaffen seiner Gefühlswelt und der Wirklichkeit feststellt und an sich selbst appelliert, sich innerlich der Welt anzupassen (vgl. S. 96).

Die im sechsten Kapitel erzählte und ausdrücklich als solche bezeichnete „Handlung“(S. 97) sieht der Ich-Erzähler als sich notwendig aus seiner Situation ergebend an. Diese Notwendigkeit entsteht durch den von Bruderhofer in der Ärzteversammlung durchgesetzten „Schweigeschwur“ (S. 98f), der alle dazu verpflichten soll, die Reliquienforschung ihres Chefs totzuschweigen. Feinlein wird jedoch von dem einzigen ihm gegenüber loyalen Kollegen Dr. Häuptle informiert und bewertet das verordnete Schweigen als Ausdruck der „herablassenden Verlogenheit der Gebildeten“ (S. 98), vor der er die Reliquie schützen will.

Zwei Tage vor Christi Himmelfahrt holt der Erzähler, der schon lange vom Mesner alle Schlüssel zur Stiftskirche ausgehändigt bekommen hat, um sich dort jeder Zeit aufhalten zu können, die Monstranz aus der Sakristei, versteckt sie vorübergehend in seinem alten Arbeitszimmer auf dem Klostergelände und bringt sie zwei Tage später in seiner Aktentasche nach Hause. Wie von Feinlein erwartet, findet der Blutritt mit einer Ersatz-Monstranz statt, ohne dass jemand etwas bemerkt. Sein Plan sieht vor, dass er den Austausch erst zur Veröffentlichung seines Werkes über die Reliquien aufdecken will, um damit als „Anfang [...] einer neuen Glaubenspraxis“ zu beweisen, „dass es nicht wichtig ist, ob Reliquien echt oder unecht sind“ (S. 107).[3] Für das Innenleben des Protagonisten entscheidend ist, dass er sich erstmals „als Sieger“ (S. 105) fühlt und für sich das Fazit zieht: „Ich habe glauben gelernt“(S. 108).

Das kurze siebte Kapitel schließt die Handlung in unerwarteter Weise ab, insofern der Diebstahl nicht verheimlicht, sondern angezeigt wird. Bei der Hausdurchsuchung wird die Reliquie gefunden und der Erzähler gesteht die Tat im Verhör, das er als „Chance, mich mitzuteilen“ (S. 114) nutzt. Noch am selben Tag wird Feinlein zur Feststellung seiner Schuldfähigkeit in der Klinik „einquartiert in K VII, das wir die Burg nennen“ (S. 116). Innerlich bleiben dem Erzähler die Erinnerung an sein Siegergefühl und die Gewissheit: „Eva Maria wird es erfahren. Alles. Mir kam es jetzt vor, als sei alles nur geschehen, dass es von ihr bemerkt werde“ (S. 117).


Gattungseinordnung

Walser bezeichnet seinen Text ausdrücklich im Untertitel als Novelle, was nahe legt, die Formmerkmale zu suchen, die diese Erzählung zu einer Novelle machen. Die vielleicht einzig unumstrittene, dafür aber auch bloß formale und inhaltlich leere Bestimmung der Novelle als Erzählung mittlerer Länge[4] trifft auf Walsers Text sicher zu und lässt sich dadurch erklären, dass bei seiner „Arbeit am Roman «Muttersohn» [...] sich eine Partie verselbständigt [hat]“[5]. Auch die durch den relativ geringen Umfang bedingte Konzentration in der Gestaltung wird man im Sinne der einsträngigen Handlungsführung, der engen Begrenzung der Figurenanzahl und des Verzichts auf epische Breite überwiegend zugestehen können.

Ihren Namen hat die Novelle vom lateinischen Wort novella, was als Neuigkeit übersetzt werden kann und zu Goethes viel zitierter Definition der Novelle „als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“[6] passt. „Das Charakteristische der Novelle liegt vor allem in der Beschränkung auf eine Begebenheit“[7], womit die grundsätzliche Vorrangigkeit des Ereignisses vor den Figuren, Umständen etc. betont wird. Mit dem Diebstahl der Reliquie erfüllt Walsers „Mein Jenseits“ immerhin formal das Kriterium der unerhörten Begebenheit, die auch gleichzeitig einen auffälligen Wendepunkt bildet, von dem an die Handlungskurve rasch zum Ende hin fällt.

Von einem „streng tektonischen Aufbau der Novelle, den sie mit dem Drama gemeinsam hat“[8] wird man dagegen nur eingeschränkt sprechen können. So erfüllt das erste Kapitel nur teilweise die Funktion einer Exposition, indem eine Figur in den Mittelpunkt gestellt wird, die nicht wieder auftritt, allerdings leitmotivischen Charakter hat und insofern auch wieder aufgegriffen wird; so heißt es im sechsten Kapitel unmittelbar vor der unerhörten Begebenheit: „Konrad von Letzlingen, mein Patron“ (S. 100). Verbindung schafft weiterhin das Leitmotiv der Barfüßigkeit, das im ersten Kapitel bei Konrad eingeführt und im zweiten Kapitel für den Ich-Erzähler verwendet wird, der nach seiner Meditation über die Caravaggio-Madonna barfuß durch Rom läuft und schließlich im sechsten Kapitel barfuß den Diebstahl begeht. Die Barfüßigkeit kann einerseits im sozialen Kontext als Zeichen des Bruchs mit Konventionen, andererseits im religiösen Kontext als Zeichen für Armut, Demut, Ehrfurcht und Buße[9] verstanden werden.

Der stärkste Einwand gegen Walsers Gattungseinordnung dürfte in der Handlungsarmut der Erzählung liegen, in der von einer „Dominanz des Ereignishaften“[10] und straffer Handlungsführung keine Rede sein kann, sondern Reflexionen überwiegen[11].


Analyse der Erzählsituation

Einen Ich-Erzähler finden wir in manchen Novellen, zum Beispiel bei Storm (Der Schimmelreiter), E.T.A. Hoffmann (Der Sandmann) oder in der modernen Literatur bei Uwe Timm (Die Entdeckung der Currywurst), jedoch stellt man bei näherem Hinsehen erhebliche Unterschiede zu Walsers Text fest. Während der Ich-Erzähler in den genannten Beispielen eher eine Herausgeberfunktion hat und eine Authentizitätsfiktion für das von ihm erzählte Geschehen erzeugt, steht der Ich-Erzähler hier als Charakter mit seinem Erleben im Zentrum und ist selbst der Gegenstand der Erzählung, also eine Erzählsituation, die häufig in Romanen verwendet wird.

Dagegen wird für die Novelle ein „nahezu objektive(r) Berichtsstil ohne Einmischung des Erzählers“[12] gefordert, wovon Walsers Text denkbar weit entfernt ist. Ganz im Gegenteil findet sich hier ein durch und durch subjektiver Erzähler, der von Anfang an aus seiner Subjektivität keinen Hehl macht, sondern sie sogar offensiv gegenüber dem Leser vertritt. So heißt es am Ende der Exposition: „Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst“ (S. 21). Dazu passt der in weiten Strecken monologisierende Erzählstil, der für viele Romane Walsers - angefangen von der „Halbzeit“ über „Das Einhorn“ bis hin zu „Ein liebender Mann“ - charakteristisch ist und die Innerlichkeit des Protagonisten ins Zentrum stellt, dabei jedoch in den meisten Fällen die personale Erzählperspektive verwendet. Mit der oben zitierten Passage blendet der Ich-Erzähler den Leser als Rezipienten streng genommen aus und gibt damit dem Text den Charakter von privaten Aufzeichnungen, die dazu dienen, sich über sich selbst und seine Gedanken und Gefühle klar zu werden, nicht aber eine Botschaft an einen Leser zu richten. Folgerichtig schließt das erste Kapitel: „Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst. Wenn mir das [...] gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch in dieser Welt“ (S. 21). Dadurch wird die Illusion erzeugt, als könne der Leser aus der Voyeur-Perspektive dem Erzähler weniger bei Handlungen als primär bei seinem Denken zuschauen.

Die Novelle weist damit in ihrer erzählerischen Anlage auffallende Parallelen zu den Confessiones des Augustinus auf, auf den bereits der Name des Protagonisten[13] hinweist, die aber auch ausdrücklich in der Novelle genannt werden (vgl. S. 74) ebenso wie die unter seiner Patronage stehende Kirche in Rom sowie die „Mutter Augustins“ (S. 38)[14]. Anders als Feinleins erklärte Absicht, nur sich selbst überzeugen zu wollen, ist allerdings Augustinus’ Schrift gleichzeitig eine Werbung für die christliche Botschaft und hat durchaus Adressatenbezug.

Dass der Leser auch bei Walser nicht vollständig ausgeblendet wird, beweisen wenige Stellen der Novelle, an denen das Verhältnis des Ich-Erzählers zum Leser explizit in Form von Leser-Ansprachen hergestellt wird. So heißt es gleich auf der ersten Seite des Textes: „dann entscheide jeder selbst, ob es in seinem Dorf, seiner Stadt, seiner Gesellschaft dergleichen gebe“ (S. 11) – „jeder“ kann nur der implizite Leser sein, den der Erzähler damit also doch offensichtlich im Auge hat. Auch im Schlussteil findet sich in der Reflexion des Schreibvorgangs eine Illusionsdurchbrechung, wenn es heißt: „Jetzt die Handlung. Sollte es mir bis hierher gelungen sein, meine Situation verständlich zu machen, ergibt sich die Handlung von selbst. Es ist kein Einfall von mir“ (S. 97). Hier erscheint erneut ein Erzähler, dem es darauf ankommt, dem Leser etwas verständlich zu machen, der also in der Situation der Rechtfertigung und Erklärung auf einen Adressaten bezogen ist.

Wie zuverlässig ist nun dieser Ich-Erzähler für den Leser[15]? Können und wollen wir Augustin Feinlein in seinen Überlegungen folgen und glauben? Für seine Glaubwürdigkeit sprechen zunächst einmal ganz vordergründig sein imposanter Titel und die mit ihm verbundene gesellschaftliche Stellung. Passend zu diesem äußeren Anschein lernen wir den Erzähler als gebildeten, nachdenklichen Menschen kennen: er liebt Caravaggio, liest Kierkegaard (vgl. S. 70), verfügt über umfangreiche historische und theologische Kenntnisse (vgl. S. 72f) und arbeitet an einer Schrift über die Reliquienverehrung im Bodensee-Raum, für die er offenbar gründlich (vgl. S. 46-58, S. 102) geforscht hat. Er ist weltoffen, fliegt mal eben für 3 Tage nach Rom, wo er sich bestens auskennt, auch das Treiben auf dem Corso (vgl. S. 34f) genießt und beim Hemdenkauf einen verfeinerten Geschmack beweist.

Dass Feinlein sich bei dieser Gelegenheit allerdings gleich 2 Hemden kauft, von denen er eines „nördlich der Alpen ohnehin nicht tragen konnte“ (S. 35) und „Hemden hatte (...) mehr als ich noch tragen konnte“ (S. 36), während er eigentlich einen Ersatz für seinen im Flugzeug liegen gelassenen Hut sucht, gehört zu den Verhaltensweisen, die den Leser an der Zuverlässigkeit des Erzählers zweifeln lassen. Was ist zu halten von einem Mann, der nicht sagt, „seit wie vielen Jahren ich jetzt schon dreiundsechzig bin“ (S. 19), der nach dem Besuch der Kirche seines Namenspatrons barfuß (vgl. S. 33) durch Rom läuft, der die jährlichen Kartengrüße seiner Jugendfreundin Eva Maria wie Reliquien hütet und gegen alle Fakten an deren Liebe glaubt, der seiner Sekretärin in aller Öffentlichkeit betrunken einen Heiratsantrag macht (vgl. S. 91) und schließlich eben einen Diebstahl begeht, dessen baldiger Aufklärung er sich hätte sicher sein können? All diese Zweifel münden in die Frage, ob der Leser nicht einen Erzähler vor sich hat, der selbst schon eine Fülle der von ihm als „Mödelen“ (S. 17) bezeichneten Altersskurrilitäten aufweist, deshalb „nicht mehr für voll genommen“ (S. 18) werden kann, sondern dem Altersspott ausgesetzt wird[16].

Die Sympathie, die der Leser dennoch für den Protagonisten entwickelt, wird vor allem durch Feinleins Schwächen und die Ehrlichkeit, mit der er zu ihnen steht, verursacht. Je mehr wir Einblick gewinnen in die Lebensgeschichte Feinleins, desto mehr erleben wir ihn als geborenen Verlierer („Ich bin ein Versager“ S. 77), der aber seine Niederlagen nicht bejammert, sondern tapfer weiter kämpft. „Siege sind mir fremd“ bekennt der Erzähler, als er nach dem Raub der Reliquie „(z)um ersten Mal“ (S. 105) das Sieger-Gefühl empfindet. Wie bei den meisten Romanen Walsers ist der Held eben der Anti-Held, der in sich gekehrte, grüblerische, bedürftige Mensch, der der Welt die Erfüllung seiner Sehnsüchte abzutrotzen versucht. „Die Welt entspricht dir nicht, aber du sollst ihr entsprechen“ (S. 82) stellt Feinlein mit einem Anflug von Resignation fest. Der Inbegriff dessen, was der Erzähler braucht und sucht und als Glaubensleistung erschafft, ist sein „Jenseits“. Dieser titelgebende Begriff wird in der Novelle mit verschiedenen Inhalten gefüllt, erscheint insofern als polyvalent und steht für Grenzüberschreitungen, das nicht Zähl- und Messbare, das Immaterielle. “Mein Jenseits ist auch nichts. Es ist ein Wunsch. Ein Bedürfnis. Ein Mangel. Ein Fehl“(S. 80). In dieser existentiellen Bedürftigkeit jedes Menschen gründet die Bereitschaft und Fähigkeit des Lesers zum Mitgefühl, zur Identifikation mit dem Protagonisten.


Figurenkonstellation

Unterstützt wird die Identifikation durch die ebenfalls Walser-typische Konstellation der Konkurrenz zu einem echten Siegertypen. Als solcher tritt Bruderhofer spätestens in der Szene des Silvesterballs unverkennbar in Erscheinung. Der als Richard Wagner kostümierte Rivale „hatte eine viel höhere Temperatur und eine Geschwindigkeit, gegen die wir ein Tisch der Abgestorbenheit waren. [...] Er redete größer. Gewaltiger. Hinreißender. [...] Der Ball war ein einziger Jubel. Sein Jubel.“ (S. 88). Bruderhofer ist Feinleins Rivale im Kampf um die Gunst der Frauen, er erobert nicht nur die Frau des Kantinenpächters sowie Feinleins Sekretärin, sondern vor allem Eva Maria. Zu diesen Erfolgen mögen sowohl sein Alter (41 Jahre) und Aussehen („Einsneunundachtzig groß“ S. 76) als auch seine vitale Sportlichkeit beitragen: „In seinem Praxisraum sind alle Wände mit Seglerphotos bedeckt. Er in verschienenen Booten. Immer hart am Wind. Sprühende Gischt. Und er auch in der schrägsten Lage ganz entspannt“ (S. 72). Als leidenschaftlicher Segler passt Bruderhofer hervorragend zu Eva Maria, die „Wasser braucht. Sie ist eine Schwimmerin“ (S. 60). Weiterhin ist Bruderhofer sein Rivale in beruflicher Hinsicht und „kann es nicht erwarten, dass ich gehe“ (S. 19), weil er Feinlein für „Unverantwortlich [...]. Gefährlich. Romantisch. Spinnig. Von vorgestern“(S. 68) hält, während er sich selbst als aufgeklärt, rational und fortschrittlich (vgl. S. 99) ansieht[17]. Die Feindschaft zwischen Bruderhofer und Feinlein ist damit nicht nur als klassischer Generationskonflikt zu sehen, sondern auch als Auseinandersetzung gegensätzlicher Charaktere – der Altersaspekt ist nur ein, wenn auch wesentlicher Aspekt unter anderen.

Nun ließe sich einwenden, dass gerade Bruderhofer manchen Leser zur Identifikation reizen könnte. Dies verhindert der Autor, indem er dem Ich-Erzähler die Rolle des Schelms gibt, der sowohl bei sich selbst als auch bei anderen Figuren Schwächen entlarvt, was komische Effekte erzeugt und manchen Grund zum Schmunzeln gibt. So durchschaut Feinlein das betont heitere und freundliche Auftreten des Rivalen als bloße Fassade. „Seine Mundwinkel zeigen [...] immer nach oben [...] eine Freundlichkeitsschau schlechthin“ (S. 72). Auch der Tanz mit Luzia wird als „die Schau“ (S. 89) bezeichnet und die von jedem Hafen verschickten Kartengrüße aus der Ägäis „landen am Schwarzen Brett, dass alle lesen, wie sich Herr Dr. Bruderhofer im Hafen von Fethiye befand“ (S. 70). Das Identifikationspotential des jungen Konkurrenten wird durch den Erzähler erschüttert, wenn er in lakonischem Ton das Bild eines eher tumben Blenders vermittelt: „Ach ja, Homer ist auch von dort, und Heraklit. Aber immerhin, Dr. Bruderhofer segelt wenigstens vorbei“ (S. 73). Während diese ironische Darstellung der Figur die Gunst des Lesers entzieht, führt der unmittelbar folgende Satz „Ich hab es nie auch nur in die Nähe geschafft“ dazu, dass der Ich-Erzähler wegen seiner Selbstironie beim Leser Sympathie gewinnt. Durch solche Gegenüberstellungen löst Walser immer wieder Verunsicherungen und Irritationen aus, die gewohnte Sicht- und Deutungsmuster im Hinblick auf Alter und Altern in Frage stellen.


Sprache

Ironie und lakonischer Stil wie in der oben zur Herabsetzung Bruderhofers dienenden Textstelle verschaffen der Novelle trotz der ernsten Thematik immer wieder einen heiteren Ton, weshalb sie von der Kritik sogar als „Liebes- und Gesellschaftskomödie“[18] bezeichnet worden ist. Das Glanzstück komödiantischen Erzählens ist zweifellos die Schilderung des letzten Silvesterballs, besonders des Aussehens und Verhaltens der verschiedenen Figuren und der Tänze von Bruderhofer (vgl. S. 83-90). Aber auch in anderen, ernsteren Passagen der Novelle finden sich immer wieder ironisch-satirische Formulierungen, die den kritischen Blick des Erzählers auf die Welt erkennen lassen: „Es gibt ja jetzt Menschen, die stellen sich in Metropolen auf belebteste Punkte und verharren reglos. Man soll sie für Kunstwerke halten. Aber es gibt auch Statuen, die aussehen wie stehengebliebene Menschen. Man soll sie für Menschen halten.“ (S. 29) Sprachkritische Komik verbunden mit der bekannten Heimatverbundenheit Walsers findet sich zum Beispiel in folgender Formulierung: „Ich [...] ließ die Schuhe an den Schuhbendeln baumeln. Dass Norddeutschland sich mit Schnürsenkeln gegen Schuhbendel durchgesetzt hat, ist schwer zu begreifen.“ (S. 33).

Die Verwendung der Ironie als Stilmittel wird innerhalb der Novelle sogar explizit begründet, wenn es heißt: „Je ernster einer den Prozess gegen sich betreibt, desto mehr wird daraus Ironie“ (S. 79) – eine Haltung der heiteren Abgeklärtheit, die von Ferne an das Lachen der Unsterblichen in Hesses „Steppenwolf“ erinnert.

Komische Effekte werden u.a. durch Hyperbeln[1] erzielt, z.B. heißt es von seiner großen Liebe Eva Maria „“Sie schwamm eigentlich Tag und Nacht“ (S. 60), während passender Weise Bruderhofer „(i)n einem Interview sagte [...],er sei zum Segeln auf die Welt gekommen.“ (S. 64). Ein weiteres Stilmittel im Zusammenhang der Komik ist die Verwendung der Umgangssprache: „Er [gemeint ist Bruderhofer] hat doch total den Vierzehnjährigen im Gesicht“ (S. 20) oder „Alle angebotenen Traumdeutungen [...] sind Müll“ (S. 68) oder „Als sie die Monstranz fanden, waren sie erstaunt, überrascht, frappiert. Ja, geschockt“ (S. 110) oder – immerhin der letzte Satz der gesamten Novelle – „Mein Gott, sagten jetzt alle, die um ihn herumstanden, du bist wirklich ein Luxustyp.“ (S. 119). Aber auch durch die Verwendung des entgegengesetzten Repertoires, nämlich der durch Fremdwortgebrauch und Fachbegriffe gekennzeichneten Bildungssprache, erreicht Walser komische Effekte: „Dr. Bruderhofers aggressives Leiden unter der Feinleinschen Missachtung der europäischen Verstandes-Kultur verrate paranoide Züge“ (S. 99).

Das oben genannte Beispiel sprachkritischer Komik weist gleichzeitig ein anderes für die Novelle sehr typisches stilistisches Merkmal auf, nämlich das Monologisieren. Der Erzähler denkt über die Welt nach, vor allem über sich und sein Leben in dieser Welt, an der er ohne sein „Jenseits“ verzweifeln müsste, und verteidigt die Notwendigkeit des Glaubens; diese Verteidigungsrede kann nur die Form des Monologs haben, der gespickt ist mit Sentenzen und Aphorismen[2]: „Glauben heißt, Berge besteigen, die es nicht gibt“ (S. 58). Der aphoristische Stil verbindet sich mit einem Hang zum Paradoxen, das sich besonders in den Passagen über den Gegensatz von Glauben und Wissen sowie die Existenz Gottes bzw. das Unerklärliche gehäuft findet: „Erst wenn uns auffällt, dass wir daran glauben, merken wir, dass wir nicht daran glauben“ (S. 79). Zum Aphorismus passt weiterhin die Verkürzung und Zuspitzung, die in Walsers Novelle häufig zu Ellipsen[3] führt, die im Stakkato von Ein-Wort-Sätzen gipfeln:

„Glauben ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Eine Kraft“ (S. 77) oder „Ich habe durch die Wälder laufen müssen. Rennen müssen. Und schreien. Nicht laut schreien. Laut schreien liegt mir nicht. Leise habe ich schreien müssen. Tagelang. Und nächtelang.“ (S. 65)

Die Ellipsen erzwingen eine Verlangsamung des Lesetempos, lassen jeden Gedanken einzeln in Erscheinung treten, betonen damit vielfach auch das Gegensätzliche, vom Leser nicht Erwartete. Eher selten, deshalb aber umso auffallender ist die Verwendung von Metaphorik[4]: „Dass jetzt niemand an mich denkt, ist ein Spazierstock“ (S. 81) oder „Gott [...] ist die Schaufensterpuppe, die mir winkt, wenn ich vorbeigeh’.“ (S. 67). Mit dem Verhältnis von Sprache und Bild setzt Walser sich im Text auch mehrfach explizit auseinander, zum Beispiel wenn er seinen Ich-Erzähler bei der Betrachtung der Kunstwerke in der Kirche San Agostino klagen lässt:

„Aber die naseweisen Wörter ließen sich nicht abhalten, mir zu sagen, dass ich doch bei einem Satz gelandet war: Du glaubst, was nicht ist. Dann ist es. Schrecklich, diese Unabwendbarkeit der Wörter. Das war noch zu üben, die Gegenwart von Erwünschtem ohne Wörter. Wär ich doch ein Kirchenmaler“ (S. 38f)

Sprache erscheint also hier als Mittel des Denkens, der Bewusstheit, des Wissens und steht damit im Kontrast zum Glauben, zu dem die Kraft der Bilder gehört. Deshalb „tun die Wörter [seinem Vorfahr] weh“ (S. 58) und der Erzähler „möchte [sich] auch durch Sprachlosigkeit unangreifbar machen“ und das „Wörterschlendern“ (S. 79) einstellen – ein Unterfangen, das für einen Erzähler unmöglich ist, hieße es doch zu verstummen.

Die Verbindung der oben genannten Stilmittel – Aphorismus, Ellipse, Metapher – findet sich in folgender Textstelle: „Not lehrt Glauben. Der Hochsprung. Von der Schwere geschleudert. Ans Firmament. Es küssend, erwachst du“ (S. 76), die Feinleins Glaubensverständnis und dessen Doppelbödigkeit sehr pointiert zum Ausdruck bringt. Ein zur Glaubensthematik genauso wie zur Liebesklage besonders passendes sprachliches Mittel ist die Verwendung bzw. Verfremdung des Psalms. So findet sich der bei Begräbnissen oft zu hörende Psalm[5] 130 abgewandelt bei den Reflexionen über das Jenseits während der Rom-Reise (vgl. S. 37). Den Höhepunkt in dieser Hinsicht bildet zweifellos der auch ausdrücklich als „mein Psalm“ (S. 114) bezeichnete Text kurz vor dem Ende der Novelle, in dem sich in einer Art Anti-Gebet Glaubensbekenntnis und Liebessehnen mit Glaubensverlust und Verzweiflung durchdringen.


Alterstopoi

Daran, dass Walsers Novelle nicht nur ein Alterswerk im Sinne eines von einem alten Menschen geschriebenen Textes ist, sondern das Alter selbst zum Thema macht, kann kein Zweifel bestehen. Wie schon zu Anfang festgestellt, rückt der Autor das Thema im ersten Kapitel in den Mittelpunkt und kommt auch immer wieder im Verlauf der Erzählung explizit auf das Thema zurück.

„Ich werde nie älter sein als dreiundsechzig. [...] Ich glaube nicht an Zahlen[19]. Ich weiß, was man alles machen kann mit Zahlen, aber ich weiß auch, was man mit Zahlen nicht machen kann. Und doch macht. Ich habe aufgehört, das mitzumachen.“ (S. 18f).

Diese Stelle aus dem ersten Kapitel verbindet das Thema Alter mit dem für den gesamten Text grundlegenden und daher auch den Titel bestimmenden Thema des Glaubens, der Transzendenz – eben des „Jenseits“. Der Ich-Erzähler lehnt das Zählen als angemessenen Umgang mit dem Alter ab – eine Empfindung, die wohl viele Menschen spätestens um die fünfzig herum kennen lernen, dass man spontan sein Alter nicht als Zahl angeben kann, sondern nachzählen muss, Zeichen dafür, dass man sich nicht so fühlt, wie die Zahl klingt. Das Alter erscheint in Walsers Novelle als Möglichkeit zum Ausstieg, zum Bruch mit Konventionen, zum Ausbruch aus Zwängen, wird also vom traditionellen Topos der Altersschelte zum Alterslob umgewertet. So verbindet die humorvolle Schilderung der Entwicklung von Konrad dessen Komisch-Werden eindeutig mit Wertschätzung („Man schätzt den Komischwerdenden“ S. 13 – „Konrad (ist) interessanter als alle anderen“ S. 15) und lobt die „Kultur des Umgangs mit solchen, die im Alter allmählich komisch wurden“ (S. 11). Allerdings wird diese positive Sicht vom Ich-Erzähler relativiert durch die Feststellung: „man selber möchte in eine solche Rolle nicht geraten“ (S. 16). Nur ansatzweise klingt bei der Darstellung der mundartlich als „Mödelen“ (S. 17) bezeichneten Altersskurrilitäten auch der Topos des Altersspotts an, der aber von Walser umgewertet wird, indem das traditionell verspottete Aus-der-Rolle-Fallen als positive Leistung dargestellt wird. Denn der Protagonist verschafft sich durch die Anerkennung als komischer Kauz, als Altersnarr, der nicht mehr schuldfähig ist, am Ende die Möglichkeit, weiter „der Pfahl in seinem[20] Fleisch“ (S. 115) zu sein – „Wenn sie sagen: Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, geben sie zu, dass ich ihnen auf die Nerven gehe mit dem, was ich noch zu sagen habe“ (S. 18).

Das Alter erscheint aber auch als notwendige („Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt“ S. 66) Hinwendung zum Glauben, mit dem sich unser Erzähler unausgesetzt beschäftigt. Dabei reflektiert er die Altersabhängigkeit seines Denkens selbst, wenn er von seinem Antagonisten sagt: „das zeigt nur, dass er jünger ist und noch glaubt, recht zu haben sei möglich“ und „Er wird dahin kommen, wo ich jetzt bin“ (S. 20). Aus diesen Sätzen spricht unverkennbar nicht nur die Abgeklärtheit, sondern auch die Resignation des alternden Menschen gegenüber dem Leben, gegen das man nicht recht haben kann.

Topoi der Altersklage finden sich denn auch an einigen Stellen der Erzählung. Statt der „lieben Verklärungsbereitschaft“, der Konrad im seinem Dorf begegnet, muss der Erzähler feststellen: „Wo ich jetzt lebe, wird man, wenn man anfängt, komisch zu werden, nicht mehr für voll genommen. Man kommt nicht mehr in Frage“ (S. 18). Er sieht es als „schwer“ an, sich „in die hineinzuversetzen, denen ich allmählich komisch vorkomme“ (S. 18). Ganz beiläufig heißt es auch: „Man muss es aushalten, sich zum Rätsel zu werden“ (S. 36), wobei der Leistungsgedanke, das Aushalten-Können, die Klage mildert, sie tapfer wirken lässt. Indirekte, aber doch recht deutliche Altersklage drückt auch die wehmütige Erinnerung an die Jugend aus:

„Der in keinem Namen zu fassende Reichtum, über den wir verfügten, ohne es auch nur im geringsten zu wissen, hat damals[21] unser Dasein gestimmt. Auch das Entsetzlichste machte keinen Eindruck. [...] Es gab schlechthin keine Gegenwart, keine Vergangenheit, es gab nur den ungeheuren Sog, den man jetzt Zukunft nennen kann.“ (S. 75f).

Der bereits im Rahmen der Figurenkonstellation behandelte Generationskonflikt ist ein weiteres Thema, das mit dem Topos der Altersklage verknüpft ist. Indem Feinlein sich durch die Erforschung der Geschichte des Klosters und seines Vorfahren in eine Tradition stellt, schafft er Parallelen zu seiner Situation, die ihm helfen, sein Alter zu ertragen, was ihm aus der Sicht der Außenwelt jedoch Spott einträgt und ihn als komischen Kauz erscheinen lässt, für den die Reliquie zum Placebo für die verlorene gesellschaftliche Anerkennung wird.

Während die Darstellung körperlichen Verfalls – die vielleicht häufigste Form der Altersklage - in Walsers Novelle auf geradezu auffallende Weise fehlt, findet sich die Angst vor dem Tod, die der Erzähler zwar an keiner Stelle direkt ausspricht, die aber doch unterschwellig vorhanden zu sein scheint. Auf dem Flug nach Rom erschreckt Feinlein ein im Gang stehender Passagier, vom dem er sich zunächst „Ausdruckslos. Reglos“ angestarrt fühlt - „So angeschaut zu werden, hält kein Mensch aus.“ (S. 23). In Größe, Kleidung und schließlich auch durch den „immerfreundliche(n) bruderhofersche(n) Bubenblick“ (S. 23) erinnert der Passagier den Erzähler an seinen Rivalen, während der Leser sich entfernt an die Todesboten erinnert, die Thomas Mann im „Tod in Venedig“ seinem Protagonisten Aschenbach begegnen lässt, deren erster ein Wanderer mit Hut ist und von denen einige mit der Farbe gelb verbunden werden. Zeichen des Todes ist besonders der Geigenkasten, der auf Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ verweist[22]. Gerade die Versicherung „Nicht dass ich Angst gehabt hätte vor ihm“ (S. 26) lässt das Gegenteil des Gesagten vermuten. Diese Vermutung bestätigt sich, als am nächsten Tag ein „Moment der Unsicherheit genügte, den Strohhutmann herzuzaubern“ (S. 27). In einem statuenhaft an der Straße stehenden Mann, der durch einen offenen Geigenkasten um Geld bittet und außerdem barfuß[23] ist, glaubt Feinlein erneut den Mitreisenden aus dem Flugzeug zu erkennen und weicht ihm aus, wozu er sich „quer über die Straße, auf der der Verkehr mit der Natürlichkeit eines Flusses vorbeitrieb [...] durch Autos, Motorroller und Radfahrer durchkämpfen“ (S. 28) musste. Spätestens der Satz „Ich schaffte es mit ums Leben bittenden Fuchteleien“ (S. 28) lässt die Anspielung auf die griechische Mythologie mit Acheron und Charon erkennen.

Eher parodistische Züge hat die Verwendung des Todesmotivs dagegen im Rahmen des Silvesterballs, bei dem Häuptle „aufgemacht als Gevatter Tod“ (S. 86) erscheint, der Lieblings-Pfleger Alfons als „schüchterner Vampir“ (S. 86) auftritt und die Runde als „Tisch der Abgestorbenheit“ (S. 88) bezeichnet wird.

Alles in allem oszilliert die Novelle zwischen den klassischen Alterstopoi (Klage, Spott, Lob) und gibt dem Leser keine eindeutige Bewertung vor, sondern stellt ebenso wie in den Themenfeldern Religion/Gott/Kirche/Reliquien, Liebe, Psychologie/Psychiatrie, Sprache grundsätzlich die zweiwertige Logik des ausgeschlossenen Dritten in Frage und entzieht sich damit den vorherrschenden Normen. Alterslob und Altersklage bleiben ebenso in der Schwebe wie die Fragen nach Gott und dem Unerklärlichen, nach der erfüllten Liebe, nach Johanneskraut oder Neuroleptika, nach dem Sein der Wörter. Die Novelle lässt sich daher gut mit dem Begriff der Ambivalenz[24]erfassen. Walsers Protagonist zeigt eine recht hohe Ambivalenz-Toleranz, was sowohl durch seine eigene Lebenserfahrung als auch die Erfahrungen aus der psychiatrischen Praxis verursacht sein mag. Dass aber Ambivalenz Kraft kostet und Handeln erschwert, zeigt sich sehr deutlich an folgender Stelle: „Nachts gebetet, dass mir am nächsten Tage jede Kreuzung erspart bleibe. Ich wusste, ich würde stehen bleiben. Sitzen bleiben. Oder einfach geradeausfahren. Egal wohin. Bloß keine Kreuzung mehr. Kein So-oder-so mehr“ (S. 67). Diese von Feinlein selbst als Depression bewertete Erschöpfung (vgl. S. 66) lernt der Erzähler zu überwinden und gewinnt seine Handlungsfähigkeit zurück, wie der Raub der Reliquie eindrucksvoll unter Beweis stellt.

Feinlein besitzt die Kraft zum Widerstand gegen Alter und Depression. Er ist „so lebendig, dass das Sterben zur Anregung“ wird - „Die gewöhnliche Enge hat sich gelöst. Anstatt [...] zu ersticken, tust du wieder alles, um Luft zu kriegen. Und kriegst Luft. Soviel Luft wie du brauchst für den Jenseits-Schrei.“ (S. 37). Walser entwirft dabei ein sehr diesseitiges Jenseits, das in der schöpferischen Verschönerung der Welt – „Glauben heißt die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist“ (S. 113) - und vor allem in der Liebe besteht – „Glauben heißt lieben“ (S. 114).

Den Gipfel der Ambivalenz stellt Walser an den Schluss der Novelle. Der „Luxustyp“ (S. 119) lebt aus der Sehnsucht nach „einem Martyrium [...], das ihm vorenthalten wird (S. 115) und das er doch zugleich fürchtet. Er lebt in beständiger Hoffnung, die seinem Dasein Kraft gibt, weil er gelernt hat: „Mit dem Unerklärlichen kann man nur leben, weil man auf die Erklärung hofft.“ (S. 118)


Anmerkungen

  1. Martin Walser, Mein Jenseits, Berlin 2010 (bup). Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
  2. Ob Walser den Begriff der Anbetung, der sich theologisch nur auf Gott bezieht, bewusst als Fachbegriff falsch verwendet, muss hier offen bleiben.
  3. Dass der Erzähler damit gleichzeitig einen wirksamen Werbegag hätte, der auf das Buch aufmerksam macht, mag der Leser vielleicht auch als einen augenzwinkernden Hinweis Walsers auf im Verlagsgeschäft übliche Tricks und auf die Wesensverwandtschaft von Autor und Erzähler erkennen.
  4. Gefunden unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Novelle, zuletzt gesehen am 04.08.14
  5. Interview mit Martin Walser, Die Berliner Literaturkritik, 08.02.10, gefunden unter: http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/interview-mit-martin-walser.html?tx_ttnews[backPid]=34&cHash=05be2bb407bdc4548d20734a74e8656c, zuletzt gesehen am 03.09.2011
  6. J.P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, Gespräch von Donnerstag abend, den (25.) Januar 1827, Sonderausgabe: Die Tempel-Klassiker, Wiesbaden o.J., S. 231
  7. Benno von Wiese, Die deutsche Novelle I, Düsseldorf 1963, S. 14
  8. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1969, S.526
  9. vgl. etwa den Orden der Barfüßer oder Heinrichs IV. Gang nach Canossa
  10. vgl. die Definition bei wikipedia
  11. Dass der Autor (vielleicht auf Wunsch des Verlags?) seinen Text als Novelle bezeichnet, was Vorrang vor den ohnehin kontroversen wissenschaftlichen Gattungstheorien haben muss, mag auch im Zusammenhang damit stehen, dass eines seiner erfolgreichsten Werke die Novelle „Ein fliehendes Pferd“ war.
  12. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1969, S. 526
  13. vgl. auch andere sprechende Namen in der Novelle, z.B. Eva Maria als Verbindung der erotischen und mütterlichen Seite des Weiblichen
  14. Walsers Beschäftigung mit Augustinus reicht zurück zu seinen literarischen Anfängen, so verwendete er in seinem Roman „Das Einhorn“ Zitate aus den Confessiones, die sowohl Schuld- als auch Glaubensbekenntnis sind und in denen der Heilige Augustinus sein Leben als Suche und Weg zu Gott beschreibt, weshalb der Text auch als erste Autobiographie der Literaturgeschichte angesehen wird. Vgl. dazu Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1969, S. 59
  15. Gemeint ist der Leser als Rezipient, sofern nichts anderes ausdrücklich genannt wird.
  16. vgl. hierzu den Abschnitt zu den Alterstopoi
  17. Die Figurenkonstellation erinnert an die Jugendfreunde Helmut Halm (grüblerisch, introvertiert) und Klaus Buch (sportlich, potent, extrovertiert , dynamisch) in Walsers überaus erfolgreicher Novelle (auch das eine Parallele) „Ein fliehendes Pferd“
  18. Die Figurenkonstellation erinnert an die Jugendfreunde Helmut Halm (grüblerisch, introvertiert) und Klaus Buch (sportlich, potent, extrovertiert , dynamisch) in Walsers überaus erfolgreicher Novelle (auch das eine Parallele) „Ein fliehendes Pferd“
  19. Hervorhebung der Verf.‘in
  20. gemeint ist Bruderhofer
  21. Hervorhebung der Verf.‘in
  22. vgl. die Verwendung als Leitmotiv in Walsers Roman „Brandung“
  23. vgl. die Ausführungen zum Leitmotiv der Barfüßigkeit im Abschnitt „Gattungseinordnung“
  24. vgl. Kurt Lüscher, Ambivalenz: Eine soziologische Annäherung, in: Walter Dietrich, Kurt Lüscher, Christph Müller, Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten, Zürich2009