Annie Ernaux, Die Jahre: Unterschied zwischen den Versionen
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Der über eine steile steinerne Treppe erreichbare, tief unter dem Haus liegende Keller ist Angst einflößend mit seinen schlecht beleuchteten Gewölbedecken, den modrig dunklen Nischen und verriegelten Türen, den Spinnweben, dem schwarz staubigen Kohlenkeller, der kalten Feuchtigkeit im Bierkeller mit seinen Fässern und der großen hölzernen Eis-Truhe. Aber ein Mal im Jahr wird der Keller zum zentralen Festplatz für die Familie, wenn hier bei der Hausschlachtung ein ganzer Raum zur unterirdischen Küche wird, mit riesigen Bottichen für die Würste, das Büchsenfleisch, und Pfannen für die Grieben, alles auf dem großen glühend heißen Kohleherd, die Luft von Fleischdunst schwer. Wenn der Metzger mit hochgekrempelten Ärmeln bis zum Ellbogen die Gewürze in der Blutwurstmasse verrührt. | Der über eine steile steinerne Treppe erreichbare, tief unter dem Haus liegende Keller ist Angst einflößend mit seinen schlecht beleuchteten Gewölbedecken, den modrig dunklen Nischen und verriegelten Türen, den Spinnweben, dem schwarz staubigen Kohlenkeller, der kalten Feuchtigkeit im Bierkeller mit seinen Fässern und der großen hölzernen Eis-Truhe. Aber ein Mal im Jahr wird der Keller zum zentralen Festplatz für die Familie, wenn hier bei der Hausschlachtung ein ganzer Raum zur unterirdischen Küche wird, mit riesigen Bottichen für die Würste, das Büchsenfleisch, und Pfannen für die Grieben, alles auf dem großen glühend heißen Kohleherd, die Luft von Fleischdunst schwer. Wenn der Metzger mit hochgekrempelten Ärmeln bis zum Ellbogen die Gewürze in der Blutwurstmasse verrührt. | ||
Die geräucherten Würste und Schinken kommen zum Trocknen auf den Speicher. Zu dem gelangt man über eine aus der Flurdecke herausklappbare und ausziehbare enge Holzleiter. Oben ist trockene, stickige Luft. Diverse Kamine unterteilen als wuchtige Pfeiler den Raum, ehemalige Taubenschläge, kleine, staubige Fenster, die mit einem Bügel aufgesperrt werden können, Untersicht auf Dachpfannen, abgestellte | Die geräucherten Würste und Schinken kommen zum Trocknen auf den Speicher. Zu dem gelangt man über eine aus der Flurdecke herausklappbare und ausziehbare enge Holzleiter. Oben ist trockene, stickige Luft. Diverse Kamine unterteilen als wuchtige Pfeiler den Raum, ehemalige Taubenschläge, kleine, staubige Fenster, die mit einem Bügel aufgesperrt werden können, Untersicht auf Dachpfannen, abgestellte Gerätschaften. Holzdielen, Wäscheleinen, weil hier im Winter auch die Wäsche getrocknet wird. Eine Nachbarin, heißt es, hat sich neulich auf ihrem Speicher mit einer Wäscheleine erhängt. | ||
Die Fremdenzimmer mit den nummerierten Türen befinden sich im ersten und zweiten Stock, rechts und links der langen Flure. Die Zimmer unterscheiden sich nur durch ihre farbliche Gestaltung, das Rostrot oder Lindgrün der schweren Kapok-Steppdecken, der Fußbodenläufer, Stuhlkissen und Nachttisch-Lampenschirme. Jedes Zimmer besitzt ein Waschbecken mit kaltem Wasser, die Gemeinschaftstoiletten befinden sich auf Höhe der Zwischenpodeste des Treppenhauses. Wenn die Räume über einige Zeit leer stehen, ist die Luft abgestanden, unpersönlich, in allen Zimmern gleich. Unangenehm intim ist das Herrichten der Zimmer von Übernachtungsgästen durch die Berührung mit den sehr persönlichen Spuren dieser Fremden. | Die Fremdenzimmer mit den nummerierten Türen befinden sich im ersten und zweiten Stock, rechts und links der langen Flure. Die Zimmer unterscheiden sich nur durch ihre farbliche Gestaltung, das Rostrot oder Lindgrün der schweren Kapok-Steppdecken, der Fußbodenläufer, Stuhlkissen und Nachttisch-Lampenschirme. Jedes Zimmer besitzt ein Waschbecken mit kaltem Wasser, die Gemeinschaftstoiletten befinden sich auf Höhe der Zwischenpodeste des Treppenhauses. Wenn die Räume über einige Zeit leer stehen, ist die Luft abgestanden, unpersönlich, in allen Zimmern gleich. Unangenehm intim ist das Herrichten der Zimmer von Übernachtungsgästen durch die Berührung mit den sehr persönlichen Spuren dieser Fremden. |
Version vom 25. September 2020, 17:15 Uhr
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Annie Ernaux schildert in ihrer „unpersönlichen Autobiographie“ (253)[1] das Leben der Protagonistin im Frankreich der Jahre 1941 bis 2006. Die Unpersönlichkeit bzw. Überpersönlichkeit dieser Autobiographie bewirkt, dass sich der Leser in die Darstellung des geschilderten Lebens und der geschilderten Zeit mit einbezogen fühlt. Eigene Erinnerungen werden heraufbeschworen, die Setzung des „Wir“ und des „Man“ fordert im Duktus der Allgemeingültigkeit Zustimmung, aber auch Widerspruch und Abgrenzung heraus. So sind die Beiträge der einzelnen TeilnehmerInnen der Projektgruppe individuelle Reaktionen auf Ernaux‘ Text. Es sind zum Einen theoretische Auseinandersetzungen damit, die unter dem Namen der jeweiligen AutorIn erscheinen, zum Andern aber auch sehr persönliche autobiografische, aus diesem Grund anonym veröffentlichte, Erinnerungen einzelner Projektgruppenmitglieder, zu denen sie der Ernaux-Text animiert hat.
Analytische Beiträge
Das Bild des Alter(n)s
Annie Ernaux‘ von ihr selbst so genannte „unpersönliche Autobiografie“ (253) mit dem Titel „Die Jahre“ behandelt den Zeitraum von 1940, dem Geburtsjahr der Autorin, bis zum Jahr 2006. Dargestellt werden 66 Jahre des Lebens einer Frau. Dabei liegt es nahe, dass die verschiedenen Lebensalter und das Altern als Prozess vor dem Hintergrund ihrer Zeit zum Thema werden.
Die Erinnerungen an Kindheit und frühe Jugend werden ausdrücklich als unsicher gekennzeichnet. So heißt es etwa „Schwer zu sagen, was sie denkt, wovon sie träumt, […]“ (34) und viele Aussagen beginnen mit „Vielleicht ist sie “ […] (35). Schon als Sechzehnjährige stellt sie rückblickend fest: „Wegen des schlechten Erinnerungsvermögens […] ist ihre Kindheit für sie ein Stummfilm in Farbe" (68). Die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen wirken distanziert, die Kinder leben in ihrer eigenen Welt, merken aber, dass „ihnen die namenlose Zeit, in der sie aufwuchsen, blass vor(kam)“ (23) im Vergleich zur ereignisreichen Vergangenheit, von der die Erwachsenen untereinander sprechen. Der Blick ist durch die Erwachsenen nach vorne gerichtet, „In den Reden hieß es, wir wären die Zukunft.“ (26) Allerdings können sich die Kinder von dieser keine Vorstellung machen. Das Ziel ist jedoch klar: „Sicher ist nur, dass sie schnell erwachsen werden will.“ (36) Denn die Gegenwart wird als endlose Wiederholung empfunden: „Gefangen in der unendlich langsamen Schulzeit […] hatten die […] Jugendlichen […] den Eindruck, dass nie etwas Bedeutungsvolles passierte.“ (62f.) Erwachsene und Kinder bzw. Jugendliche leben in getrennten Welten, sie „hörten den Gesprächen zu, ohne selbst etwas zu sagen“ (59).
Vergleicht man das von Ernaux skizzierte Bild der Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern mit dem heutigen Deutschland, so kann man wohl in unserer Zeit signifikante Unterschiede feststellen. Gerade bei Essen im Familienkreis, ein Motiv, das im Text immer wieder vorkommt, fällt auf, dass Essen im großen Familienkreis in Deutschland nicht dieselbe Tradition haben wie in Frankreich. In Deutschland war gemeinsames Essen in der Kleinfamilie üblich, bei dem die Kinder brav und still am Tisch zu sitzen hatten. Im Unterschied dazu stehen Kinder heute häufig im Mittelpunkt, mindestens aber werden sie in die Kommunikation einbezogen, und es wird ihnen erlaubt, sich von der Tafel zu entfernen, wenn es ihnen langweilig wird.
Erst nach dem Schulabschluss ändert sich in Ernaux‘ Werk das Lebensgefühl der Jugendlichen grundlegend. In der allmählichen Ablösung vom Elternhaus und durch die nun gewonnenen Freiheiten entsteht das „Gefühl einer absoluten, flüchtigen Jugend, ganz so, als würde man am Ende der Ferien sterben“ (74). Mit dem Näherrücken des vorher so heiß ersehnten Lebens als Erwachsener verändert sich die Wahrnehmung des eigenen Alters: „Angesichts der für uns vorgesehenen Zukunft wären wir gern noch etwas länger jung geblieben.“ (80)
Mit Anfang 20 „beteiligte man sich bereitwillig und ein wenig unbeholfen an den Gesprächen“ der Erwachsenen, die dabei gleichzeitig als der Vergangenheit angehörig empfunden werden. „Man hörte sich höflich ihre Meinungen und Ratschläge an, ohne etwas darauf zu geben. Man selbst würde nie alt werden.“ (123) Das Ende der Ausbildung bzw. des Studiums und die Einordnung ins Berufsleben führen zu einem neuen Bewusstsein des eigenen Alters: „[…] weil das Gefühl, jung zu sein, verflog […] war man im Handumdrehen verheiratet und wurde Eltern. Das […] beschleunigte das Älterwerden. […] Man war von heute auf morgen erwachsen geworden“ (95).
Hinsichtlich der kurzen Spanne zwischen 1963 und 1973, in der bei Ernaux der Übergang von der Jugend in das Leben eines Erwachsenen dargestellt wird, kann man in Deutschland auch schon zur beschriebenen Zeit und erst recht heute wesentliche Unterschiede feststellen. Angesichts der großen Vielfalt möglicher Lebensentwürfe ist das Erwachsen-Sein schon lange nicht mehr an Elternschaft gekoppelt. Durch längere Ausbildungszeiten, ausgedehnte Auslandsaufenthalte, oft spätere finanzielle Selbständigkeit und die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln werden Spielräume für individuelle Prozesse des Erwachsenwerdens eröffnet, Elternschaft, in der Regel später, ist nur eine Möglichkeit von vielen.
Die Lebensmitte der Protagonistin, also das Alter zwischen Anfang 30 und 65 bzw. bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben, wird als „alterslos“ (128) erlebt. „Je älter man wurde, desto altersloser fühlte man sich. Wenn <Only you> […] lief […], überkam uns ein jugendliches Wohlgefühl, die Gegenwart schien bis in unsere Zwanziger zurückzureichen.“ (182) Der wehmütige Rückblick auf die Jugend lässt diese positiver erscheinen, als sie damals wirklich erlebt wurde: „[…] sieht sie ihre Jugend als einen unendlichen Raum voller Licht [und…] kann nicht fassen, dass diese Welt hinter ihr liegt.“ (148) In dem Verhältnis zur eigenen Jugend kündigt sich zugleich die Angst vor dem Alter an. „Die Hoffnung verlagerte sich von den Dingen, die man besitzen wollte, auf die Instandhaltung des eigenen Körpers und das Streben nach ewiger Jugend.“ (160) Dieses Streben ist durchaus von Erfolg gekrönt: „[…] man war schöner und gesünder als je zuvor, und die Vorstellung krank zu werden und zu sterben, wurde immer absurder.“ (231) Trotzdem wächst die Angst vor dem Alter: „[…] sie weiß um die zerbrechliche Schönheit ihres Alters. Sie hat Angst vor dem Älterwerden […]“ (164). Gleichzeitig fehlt es an konkreten, insbesondere positiven Vorstellungen des eigenen Alters. Als Zweiundfünfzigjährige stellt sie sich vor, „wie sie in zehn oder fünfzehn Jahren hier steht […]. Diese Frau kommt ihr genauso unwirklich vor, wie ihr mit fünfundzwanzig die Vierzigjährige vorkam […]“ (186). „Sie denkt nicht an das eigene Alter, sondern lebt in einer gewohnheitsmäßigen Verleugnung […] sie fühlt sich nicht anders als Frauen mit fünfundvierzig oder fünfzig – eine Illusion“ (246), wie der Kontakt mit jüngeren Menschen zeigt, die in ihr die „alte Frau“ sehen. Das Älterwerden und das Alter werden der Protagonistin auch deutlich im Verhältnis zum Konsum, speziell im Ungang mit der Technik. „Wer nichts mehr anschaffte, war alt. […] Unser Verfall und die Welt bewegten sich in entgegengesetzte Richtungen.“ (232)
Die Darstellung dieser Lebensphase scheint heute unverändert aktuell. Die Bemühungen um Gesundheit, Fitness und allgemein Jugendlichkeit haben eher zu- als abgenommen und sind durchaus erfolgreich; unsere Eltern wirkten mit fünfzig älter als Fünfzigjährige heute durchschnittlich wirken, weil sie sich in Kleidung, Auftreten und vor allem Lebensweise an der Jugend orientieren. Das Konzept des aktiven Alterns[2] trägt hierzu entscheidend bei. Geändert hat sich außerdem, dass sich heute durch die ständig zunehmende Lebenserwartung das hohe Alter[3] mit seiner Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit weiter nach hinten verschiebt. Im Alter von 65 Jahren, in dem Ernaux ihr Werk fertigstellte, brauchen wir uns noch nicht direkt damit konfrontiert zu fühlen, wir haben etliche Jahre gewonnen für einen neuen Lebensabschnitt des aktiven Alters, für den wir viele positive Leitbilder haben. In den Medien werden häufig Meldungen von den 70., 80. und 90. Geburtstagen Prominenter verbreitet. Die eigenen Eltern vermitteln konkrete Vorstellungen vom Alter, weil sie länger leben als die der Protagonistin, die ihre Mutter mit 46 verliert, ihren Vater sogar schon mit 26 Jahren (vgl. 249). Allerdings bleiben denen, deren Eltern alt genug werden, auch die schlimmen Erfahrungen des hohen Alters, vor dem wir unverändert ratlos und ängstlich stehen, nicht erspart.
Mit zunehmendem Alter denkt die Protagonistin auch immer häufiger an das Alter und schwankt zwischen widersprüchlichen Erklärungen; mal heißt es, sie hat […] jetzt das Gefühl, sich nicht mehr zu verändern, während die Welt um sie rast“ (246), dann aber sieht sie den Grund der Veränderungen nicht in der Welt, sondern in ihrem eigenen Gefühl: „Im Grunde hat sich nur ihr Zeitgefühl verändert, und die Wahrnehmung ihrer selbst in der Zeit. […] Ihr ist das Gefühl für die Zukunft abhandengekommen, dieser unerschöpfliche Vorrat an Zeit […]“ (248f.). Vom Leben der Menschen im hohen Alter hat sie offenbar recht deutliche Vorstellungen und durch diese verursachte Ängste: „[…] Angst, dass ihr Erleben im Alter wieder so nebelhaft und stumm sein wird wie in ihren ersten Lebensjahren […]“ (250) und „[…]sie wie andere Hochbetagte in einer Betrachtung der Welt vor sich hindämmern wird […]“ (251). In diesen Überlegungen zeigt sich sehr deutlich der Topos der Altersklage[4], während die klassischen Topoi des Alterslobs und des Altersspotts in Ernaux‘ Text keine Rolle spielen. Sie setzt sich „mit den subjektiven Erfahrungen des Altseins und Altwerdens, […] und den Bildungsprozessen älterer Menschen auseinander, in denen Selbst- und Weltverhältnisse noch einmal grundlegend verändert werden“[5] .
(Monika Hartkopf)
Man-o-man: Zur Perspektive
Die weibliche Protagonistin und zugleich Erzählfigur verwendet fast durchgängig im Text das Sprechen in der 3. Person Singular. Anders als in vielen modernen Romanen finden wir hier aber nicht den personalen Erzähler, aus dessen Sicht Innen- und Außenwelt erzählt werden, sondern der Blick richtet sich von außen auf die Protagonistin: „Sie lächelt zurückhaltend und leicht abwesend …“ (211). Die Frage der Perspektive wird im Text explizit thematisiert. „Für entscheidend hält sie Frage, ob sie in der ersten oder dritten Person schreiben soll. Das <ich> ist zu beständig, eng, fast schon beklemmend, beim <sie> ist die Außensicht, der Abstand zu groß.“ (188) In der Abwägung der Vor- und Nachteile hat sich die Erzählerin offensichtlich für die Distanz der 3. Person entschieden.
Das Personalpronomen der 1. Person findet sich dagegen so gut wie gar nicht im Text. Es kommt in einigen Redewendungen vor und in Zitaten aus dem Tagebuch der Protagonistin, z.B. „<Wenn ich mit fünfundzwanzig noch keinen Roman geschrieben habe, bringe ich mich um.>“ (125) Nur an einer einzigen Stelle, nämlich bei der Reflexion über das letzte Foto, das im Text vorkommt und die Protagonistin als ältere Frau mit ihrer Enkelin zeigt, heißt es: „ […] das bin ich = ich bin seitdem nicht mehr gealtert.“ (246) Hier findet also die vollständige Identifikation mit der auf dem Foto abgebildeten Person statt, Selbstbild und Frembild stimmen überein.
Häufiger als das Personalpronomen sie verwendet die namenlose Erzählfigur das generalisierende Personalpronomen man. Es findet sich weit über 1000 Mal im Text. Die Besonderheit des Wörtchens man besteht darin, dass es zwar grammatisch eindeutig die 3. Person meint, gleichzeitig aber offenbleibt, auf wen sich das Generalpronomen bezieht[6]. So ist z.B. das ich miteingeschlossen. Gegenüber den Indefinitpronomen wie jemand, wer, mancher hat das man den Vorzug, dass man sich mit ihm wiederholt auf dieselbe Person bzw. Gruppe beziehen kann, also ein konstantes Subjekt darstellt.
Gesprochen wird also nahezu permanent über sie, man, die Leute, aber nicht über Personen. Weder die Erzählfigur noch sonst jemand trägt einen Namen, es gibt Personen nur als Vertreter sozialer Rollen wie Familienmitglieder, Nachbarn, Mitschüler usw. oder als in der Öffentlichkeit stehende konkrete individuelle Personen, insbesondere Politiker, Künstler, Intellektuelle.
Die gelegentlich stakkatoartige Wiederholung des man mag den Leser stören, haben wir doch alle in der Schule gelernt, dass dies kein guter Stil sei. Ernaux setzt das man gezielt als Stilmittel ein, um das Unpersönliche ihrer Autobiograhie zu verdeutlichen, es geht ihr um „ein umfassendes Gefühl für die Gesellschaft, in dem ihr Bewusstsein, ja ihr ganzes Sein enthalten ist.“ (252)[7] Diese Vorstellung ist insofern überraschend, als Ernaux von ihrer Protagonistin behauptet, dass sie den „Existenzialismus […] aufgesogen“ (90) hat und Sartre im Text mehrfach erwähnt. Gerade die Existenzphilosophie, die bis in die sechziger Jahre die bestimmende Strömung war, macht die „Existenz des Einzelnen als solchem – als Mensch, der (nur) (s)ein Leben zu leben hat –„[8] zum Thema. Martin Heidegger, dessen Hauptwerk „Sein und Zeit“ auch Sartre stark beeinflusst hat, widmet dem „Man“ ein ganzes Kapitel. Heidegger spricht von der „Diktatur“ des Man und erläutert diese wie folgt: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man[9] genießt; wir lesen, sehen und urteilen […], wie man sieht und urteilt; […] wir finden <empörend>, was man empörend findet. Das Man […] schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“[10] Ernaux‘ Darstellung liest sich in weiten Teilen als Illustration dieser Überlegungen. Sie bleibt jedoch auf dieser durch „Uneigentlichkeit“[11] bestimmten Form der Existenz stehen, ja zementiert sie geradezu, wie die o.a. Textstelle (252) belegt. Die von Heidegger wie auch den französischen Existenzialisten angestrebte Form der Existenz ist aber die eigentliche Existenz. „Das Selbst des alltäglichen Daseins[12] ist das Man-Selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.“[13] Ernaux schickt ihre Protagonistin durchaus auf die Suche nach sich selbst, das sie schließlich im Schreiben, „der Erzählung ihres Lebens“ (187), zu finden glaubt. Durch das Fehlen des Ich verfehlt diese Erzählung jedoch das Eigentliche.
(Monika Hartkopf)
Einspruch: Apologie des Uneigentlichen
„In dem, was sie als unpersönliche Autobiographie begreift, gibt es kein ‚ich‘, sondern nur ein ‚man‘ oder ‚wir‘…“ (253).
Ernaux selbst thematisiert in ihrem Werk „Die Jahre“ damit sowohl die Frage des Genres wie die der Erzählperspektive: Weder hat sie einen autobiographischen Roman geschrieben, in dem sie etwa in Ich-Form oder mit Hilfe eines auktorialen Erzählers ihre eigene Lebensgeschichte fiktionalisiert hätte, noch hat sie sich für die Form der „klassischen“ Autobiographie entschieden, die, ob als „Ich-Erzählung“ oder in der 3. Person verfasst, jedenfalls das Individuum als Subjekt in den Mittelpunkt rückt und somit zur Selbstvergewisserung der Identität durch die Rekonstruktion des eigenen Lebens beitragen will:
„Das Buch soll nicht das sein, was man üblicherweise unter Erinnerungsarbeit versteht, bei der es darum geht, ein Leben nachzuerzählen und sich zu erklären.“ (252)
Ernaux’ Anspruch ist es vielmehr, Dokumentaristin der Jahre zu sein, „die sie durchdrungen haben“, Dokumentaristin der Welt, „die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat.“(251) Und mehr noch: „Sie will aus dem Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat, eine gesellschaftliche Zeit rekonstruieren“ (252).
Hierzu brauchte es empirisches Material, dass sie in Dokumenten/Objekten zur Alltagsgeschichte fand: Zitate von Filmtiteln und Fernsehsendungen und ihren ProtagonistInnen, von Büchern, Autorinnnen und Autoren, Werbeslogans, von Politikern und Politikerinnen konstituieren den Text ebenso wie die Beschreibung von Familienritualen, politischer und gesellschaftlicher Prozesse und persönlicher Erinnerungssplitter. All dies hat Ernaux sortiert und so zusammengefügt, dass sich ein durchkomponierter Text ergibt, dem nichts Willkürliches anhaftet, mögen die Erinnerungen auch noch so subjektive Gedanken der Autorin spiegeln, die die Leserin/der Leser nur schwer nachvollziehen mag. Beispielhaft:
- „die Begegnung mit dem Mann im Sommer 1990, auf einer Straße in Padua…“ (9)
- „das Casino am Strand von Fécamp, wo sie an einem Sommernachmittag gebannt zusah, wie sich ein Paar engumschlungen auf der leeren Tanzfläche drehte.“ (68)
Die Entscheidung der Autorin, „in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen zu wollen“ (252) führt sie bei der jahrzehntelangen Suche nach der geeigneten Form zur fast vollständigen Dekonstruktion des Ich und zum entpersonalisierten „man“, „wir“ oder „sie“ – je nachdem wie nah die Autorin als Zeitzeugin zeitlich an den beschriebenen Ereignissen ist (a), wie generalisierend die Beschreibung eines gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Lebensgefühls intendiert ist (b) oder wie intensiv ihre faktische Identifikation mit den beschriebenen historischen oder gesellschaftlichen Zuständen ist (c). Beispielhaft:
- (a) „Allerdings redeten sie nur über Dinge, die sie selbst gesehen hatten und die beim Essen hervorgeholt werden konnten. Sie hatten nicht genug Vorstellungskraft…“ (22)
- (b) „Man wusste genau, was sich gehörte und was nicht, was gut war und was böse, man las es in den Blicken der anderen.“ (47)
- (c) „Es gab keine Linke mehr. Das politische Leben verlor an Leichtigkeit. Wer war schuld. Was hatten wir getan.“ (226)
Das Ernaux-Ich scheint neben dem Zitat einiger Tagebucheinträge nur auf in den Fotos, die dem Text als „Standbilder der Erinnerung“ (253) eine Struktur durch die Jahre hindurch geben. Aber auch hier, in diesen scheinbar privatesten Zeugnissen des eigenen Lebens, nimmt Ernaux sich als Subjekt zurück: Die Fotos werden nicht gezeigt, sondern „nur“ beschrieben, in der Deskription aber jeweils zeitlich zugeordnet und damit in ihren historisch-gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Die Fotos werden so selbst zu Objekten, die sich der Zeitzeugenschaft anderer, von der Autorin ausgewählter Dokumente und Objekte anpassen.
Selbst in der Beschreibung des letzten Fotos (245f.), bei dem die Zeit der Aufnahme des Fotos (Cergy, 25. Dezember 2005) und die der Niederschrift des Textes nahezu zusammenfallen, verweigert die Autorin die vollständige Identifikation: „das bin ich“ (246) notiert sie nur „mit einem hohen Maß an Gewissheit“ (246), aber eben nicht in vollständiger Selbstvergewisserung. Sie bleibt wie auf allen Fotos „immer eine andere“ (253):
Indem die Autorin auf Distanz zu sich selbst geht, sich als Subjekt auflöst, werden die Dokumente/Objekte zur Projektions- und Reflexionsfläche, zu Merkmalen einer Epoche, die das Leben der Autorin konstituiert haben, während sie als handelndes Subjekt diese Zeit und ihre Jahre in dieser Zeit ebenfalls mit geprägt hat. Die Spuren, die sie hinterlassen hat, finden sich im Kontext der Familie, in ihrer Rolle als Lehrerin, als Ehefrau und Mutter, als Geliebte usw.
Die Vergewisserung der eigenen Existenz, ihre Einordnung in einen größeren Zusammenhang, die Angst, im Alter „die Wirklichkeit nicht mehr in Worte fassen (zu) können“ (250), die Gewissheit, dass mit dem Tod „Alle Bilder … verschwinden“ (9) und „sich auf einen Schlag alle Wörter auflösen“ (13) werden, sind Motivation ihres Schreibens, um für sich, ihre Zeitgenossen und für die, die danach kommen, „Etwas von der Zeit (zu) retten, in der man nie wieder sein wird.“ (256)
Durch die konsequent durchgehaltene Rücknahme des Ich und den Rückzug auf die entpersonalisierten Formen des „man“, des „wir“ und des „sie“, durch die Ansammlung und Anordnung von Dokumenten und Objekten gelingt Ernaux so das Paradox einer „unpersönlichen Autobiografie“. Der Leserin/dem Leser bleibt es überlassen, die Fundstellen, Dokumente und Beschreibungen mit eigenen Erfahrungen abzugleichen und Leerstellen zu füllen – und aus dem Uneigentlichen bei Ernaux zum eigenen Ich und damit zur Reflexion des eigenen Lebens zu kommen. Was will, was kann Literatur mehr?
(Rainer Smits)
Bilder und Wörter
Der 1. Satz von Ernaux‘ Text „Die Jahre“ lautet: „Alle Bilder werden verschwinden.“ (9) Bilder, auch in Form von Fotos, spielen denn auch im Text eine wichtige Rolle und stehen den ebenfalls im Prolog (vgl. 9 – 17) hervorgehobenen Wörtern gegenüber: „Auch werden sich auf einen Schlag alle Wörter auflösen […]“ (13).
Insgesamt 16 Fotos bzw. Film/Video-Aufnahmen gliedern den Text in Zeitabschnitte, die chronologisch aufeinander folgen. Jeweils wird zu Beginn einer solchen Einheit ein häufig auf der Rückseite datiertes Foto relativ ausführlich beschrieben und bildet dann den Auftakt für die Darstellung der durch das Foto ausgelösten Erinnerungen. Als Beispiel sei hier der Abschnitt von S. 100 bis S. 123 angeführt, in dem die Lebensphase zwischen 1967 und 1972/73 behandelt wird.
Der Entstehung des Buches vorausgegangen sein muss wohl die Sammlung und spätere Sichtung und Auswahl des Bildmaterials. In den Passagen, in denen die Arbeit am Text thematisiert wird, finden sich Hinweise auf die Recherche und die Fülle des Materials, das es anzuordnen gilt (vgl. 235, 250). Der Text ist als „fließende Erzählung“ (253) geplant, als „Fluss, der immer wieder durch Fotos und Videosequenzen unterbrochen wird […] sie sind Standbilder der Erinnerung und zeigen gleichzeitig den Verlauf ihres Lebens […]“ (253). Der Leser sieht die Autorin förmlich vor sich, wie sie Foto für Foto anschaut und jeweils ihre Erinnerungen wachruft und festhält.
Die Verwendung von Bildern in erzählenden Texten hat eine lange Tradition, man denke nur an die vielfältig illustrierten Bibel-Ausgaben, seit der Erfindung des Buchdrucks an Zeichnungen in Geschichten, wie sie bis ins 19. Jh. weit verbreitet waren, z.B. bei Wilhelm Busch. Seit der Erfindung der Fotografie gewinnt das Bild in der erzählenden Literatur eine neue Dimension. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Einbindung des Fotos selbst in den Erzähltext und dem erzählten Foto.
Ersteres findet sich sehr ausgeprägt in einem zwischen Essay und Erzählung changierenden Text von Roland Barthes, „La chambre clair“ (Die helle Kammer) von 1980. Von Barthes stammt auch die folgende Überlegung: „Jeder Akt der Lektüre eines Fotos, und davon gibt es Milliarden an einem Tag der Welt, jeder Akt des Einfangens und Lesens eines Fotos ist implizit und in verdrängter Form ein Kontakt mit dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod.“[14] Hier wird das Foto in den Kontext des Erinnerns gestellt, was bei Ernaux ebenso im Zentrum ihrer Autobiographie steht wie bei ihrem wohl bedeutendsten literarischen Vorgänger Marcel Proust in „A la recherche du temps perdu“ (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). In der deutschsprachigen Literatur stellen die Bücher von W. G. Sebald, besonders der Roman „Austerlitz“ von 2001, aber auch die Erzählungen „Die Ausgewanderten“ von 1992, herausragende Beispiele dar für die Verwendung von Fotografien im Dienst der Erinnerungsarbeit.
Ernaux‘ „Die Jahre“ wollen zwar keine Erinnerungsarbeit sein, „bei der es darum geht, ein Leben nachzuerzählen und sich zu erklären“ (252), aber sie will „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird“ (256), wie es im letzten Satz des Textes heißt. Dies tut sie anders als die oben erwähnten Autoren im Wort, das bekanntlich alles erschafft und auch das Vergangene lebendig werden lässt. Sie verwendet erzählte Fotos, wir sehen die Fotos selbst nicht, sondern sie werden uns beschrieben. Außerdem handelt es sich ausschließlich um Fotos, auf denen die Protagonistin zu sehen ist, während die vielen, manchmal geradezu in langen Listen aufgerufenen Erinnerungsbilder im Kopf (vgl. 9-13, 56, 83, 117,254-256 und viele andere Stellen, die sich gut bebildern ließen) nicht als Fotos zu sehen sind.
Die sicher bewusst getroffene Entscheidung, sich auf wenige Fotos zu beschränken, die die Lebensgeschichte der Protagonistin nachzeichnen, wird damit zu tun haben, dass die Autorin dem Wort eindeutig den Vorrang gibt. Dies zeigt sich auch darin, dass die Protagonistin von Jugend an davon träumt einen Roman zu schreiben, nicht etwa zu fotografieren. Vielleicht spielt aber auch die Erfahrung als Leser eine Rolle, als der man hin- und hergerissen wird zwischen Text und Bild, ein Gefühl, das gerade passionierte Leser nicht mögen.
So verwendete Thomas von Steinaecker in seinem 2012 erschienenen Roman „Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen“ Fotomaterial und stellte fest: „Die Reaktionen auf den Roman haben mir immer wieder gezeigt, es gibt komischerweise immer wieder Leute, die scheinen ein Verhältnis zur Fotografie und auch kein Problem zu haben, wenn das in Romanen auftaucht, aber merkwürdigerweise die Mehrheit der Leute, der Leser, ist tatsächlich noch immer irritiert, wenn im Roman Fotos auftauchen, was ja irgendwie im 21. Jahrhundert seltsam ist, weil wir ja in einer Bilderwelt leben.“[15]
In einer Welt von Bildern leben wir laut Platon in diesem irdischen Leben ausschließlich. Im Höhlengleichnis lässt Platon seinen Lehrer Sokrates den Zugang des Menschen zu philosophischer Bildung, sprich zur Wahrheit, erklären und legt damit in Kurzform seine ontologische[16] und erkenntnistheoretische Position dar. Wir werden verglichen mit Höhlenbewohnern, die gefesselt nur auf eine Wand der Höhle blicken können, auf der sie die Schatten von Dingen und Menschen sehen, die in ihrem Rücken im Schein eines Feuers vorbeigetragen werden. Es ist nun Aufgabe der Philosophen, den Gefesselten zu befreien und aus der Höhle hinaus ans Tageslicht zu bringen, wo er allmählich lernt zu sehen, bis er schließlich das Licht selbst erblickt. Die Höhlenbewohner haben „Ehrenstellen und Preise untereinander ausgesetzt […] und Auszeichnungen für den Menschen, der die vorbeiziehenden Gegenstände am schärfsten erkannt und sich am besten gemerkt hat […] und daher am besten auf das Kommende schließen“ kann und der in die Höhle Zurückkehrende würde „ausgelacht werden und bespöttelt“ wegen seiner im Dunkel der Höhle zunächst geblendeten Augen; „wenn er sie dann lösen und hinauf führen wollte, würden sie ihn töten“[17].
Gibt es eine Verbindung zwischen Ernaux und Platon? Auf den ersten Blick kann diese Frage nur mit nein beantwortet werden, denn nichts an ihrem Text weist daraufhin, dass sie ein idealistisches Weltbild, also die Annahme eines Nebeneinanders von Ideenwelt und sinnlich wahrnehmbarer Welt, vertreten würde. Sie will „ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie […] in sich abgespeichert hat.“ (251) Ernaux‘ Darstellung haftet geradezu an den sinnlich wahrnehmbaren Oberflächen. Entsprechend der physiologischen Ausstattung des Menschen liegt der Schwerpunkt natürlich bei den Bildern. Es geht um „reale oder imaginäre Bilder, […] die Millionen Bilder im Kopf der Großeltern, […] die Bilder im Kopf der Eltern […]“ (12), die Bilder der eigenen Erinnerung. Als explizite Ablehnung einer übersinnlichen Welt könnte folgender Satz verstanden werden: „Der Welt fehlt es am Glauben an eine transzendentale Wahrheit“ (17), der letzte Satz der im Prolog aufgereihten „Wörter […], mit denen man Ordnung in die Welt gebracht hat, […]“ (13).
Zwar taucht auch bei Ernaux an wenigen Stellen das Motiv des Lichts auf, das in Platons Höhlengleichnis von zentraler Bedeutung ist. Im Prolog ist die Rede von „Momentaufnahmen, beschienen von einem Licht, das allein ihnen gehört“ (12). Als Gegenstück dazu heißt es im Epilog: „[…] mittlerweile ist es ihr wichtiger, das Licht einzufangen, […], das schon in den Erzählungen ihrer Kindheit da gewesen war, […], und das sich seither auf alles gelegt hat, was sie erlebte, ein früheres Licht.“ (254) Hier entsteht der Eindruck, dass Ernaux den Menschen als ganz und gar durch seine Umwelt geprägtes Wesen sieht, er erlebt sein Leben im Licht seiner Zeit, dieses Licht ist also veränderlich und damit in keiner Weise vergleichbar mit Platons Licht, das im Gleichnis für die unvergängliche und unwandelbare Welt der Ideen des Wahren, Guten und Schönen steht, von dem die empirische Welt nur mehr oder weniger schwache Schatten zeigt.
Mit Platons Höhlengleichnis hat sich auch Susan Sontag in ihrer 1977 erstmals erschienen Essay-Sammlung „On photography“ (Über Fotografie)[18] auseinandergesetzt. Der erste Essay hat den Titel „In Platos Höhle“. Hier finden sich manche Positionen, die zu Ernaux‘ Sicht der Fotos passen. So heißt es etwa: „Fotografien sind tatsächlich eingefangene Erfahrung“ und „Fotografieren heißt sich das fotografierte Objekt aneignen“[19].Diese Erkenntnis kommt in „Die Jahre“ sehr deutlich zum Ausdruck, wenn es heißt „Immer ist er es, der filmt.“ (124, vgl. auch 101)
Die bei Ernaux deutlich werdende Sorgfalt und Intensität, mit der Fotos gesammelt, betrachtet und beschrieben werden, spiegelt sich in Sontags Bevorzugung der Fotografie gegenüber den filmischen Mitteln: „Fotos sind einpräsamer als bewegliche Bilder – weil sie nur einen säuberlichen Abschnitt und nicht das Dahinfließen der Zeit zeigen.“[20] In der äußerst kritischen Haltung gegenüber der veränderten Rolle des Bildes im Internet (vgl. 234f.) könnte sich Ernaux auf Susan Sontags Überlegungen berufen, die schon 1977 vor der Flut "allzu wahllos aneinander gereihter Bilder“[21] warnt.
Noch deutlicher sind die Parallelen, wenn es bei Sontag heißt: „Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge).“[22] Gerade das Festhalten der Erinnerungen im Bewusstsein der Vergänglichkeit ist für Ernaux der Antrieb für das Schreiben: „Gerettet werden soll […] (254).
Fast wortgleich lesen sich die Betrachtungen zur Rolle der Fotografie im Familienleben. Wenn Sontag schreibt: „Mit Hilfe von Fotografien konstruiert jede Familie eine Portät-Chronik ihrer selbst […]“[23], so heißt es bei Ernaux: „Das Foto trägt zur Konstruktion der Kleinfamilie bei […]“ (101). Beiden Autorinnen gemeinsam ist außerdem die grundlegende Bevorzugung des Wortes vor dem Bild. In einer Würdigung von Susan Sontags Beitrag zur Theorie des Fotos wird festgestellt, „dass es sich bei der Amerikanerin um eine überzeugte Literatin und konsequente Schriftapologetin handelt, die der Fotografie letztlich nie anders als voller Skepsis zu begegnen imstande war […] ihre Fototheorie ist in erster Linie eine – in theoretischer Hinsicht avancierte – Kritik am Foto.“[24]
Die Begründung dieser Kritik hängt im Innersten mit Platons Höhlengleichnis bzw. dem damit ausgedrückten Weltverständnis des Menschen zusammen. Susan Sontag eröffnet ihren Essay mit folgender markanten These: „Noch nicht zu höherer Erkenntnis gelangt, hält die Menschheit sich noch immer in Platos Höhle auf und ergötzt sich […] an bloßen Abbildern der Wahrheit.“[25] Der Erläuterung dieser These dient letztlich der gesamte Essay. „Durch Fotografie, wird die Welt zu einer Aneinanderreihung beziehungsloser, freischwebender Partikel, und Geschichte […] zu einem Bündel von Anekdoten und faits divers.“[26] Genau so stellt Platon die vermeintliche Welterkenntnis der in der Höhle Gefesselten dar: sie sehen einzelne Gegenstände und Menschen ohne inneren Zusammenhang, eine atomisierte Realität. „Die Fotografie impliziert, daß wir über die Welt Bescheid wissen, wenn wir sie so hinnehmen, wie die Kamera sie aufzeichnet. Dies ist aber das Gegenteil von Verstehen, das damit beginnt, dass die Welt nicht so hingenommen wird, wie sie sich dem Betrachter darbietet.“[27]
Nun präsentiert Ernaux zwar kein Fotoalbum, sondern einen Text, aber sie liefert sprachliche Abbilder der Welt. „Die Jahre“ besteht zu weiten Teilen in Sontags Worten aus „faits divers“[28]: die Dinge des Alltags werden regelrecht aufgezählt, die Konsumgüter der Supermärkte, die Einrichtungsgegenstände der Wohnungen (vgl. 92f.) usw.; genauso wird verfahren mit den Gesprächsthemen bei gemeinsamen Mahlzeiten (vgl. 98f.), mit politischen Ereignissen – Salman Rushdies Bedrohung, Glasnost und Perestroika, „Streiks in der Danziger Werft bis zum Platz des Himmlischen Friedens“ (177) und dem Fall der Berliner Mauer, alles in wenigen Zeilen - , ebenso mit der Kulturgeschichte in Form von Filmen, Literatur und Musik, Intellektuellen (110) und Denkweisen. Der Leser, der selbst in dieser Zeit gelebt hat, und das wird der ganz überwiegende Teil der Leser dieses Buches sein, kann von Seite zu Seite befriedigt feststellen: ja, so war es, ich erinnere mich. Affirmation wird zur vorherrschenden Haltung des Lesers, auch wenn er hier und da auch auf Unterschiede zur eigenen Lebenserfahrung stoßen mag. Die Dinge, Personen und Vorgänge ziehen vorbei wie die Schatten in Platons Höhle – das Verstehen, die Erkenntnis, die Wahrheit oder gar Weisheit bleiben auf der Strecke. Literatur kann mehr.
(Monika Hartkopf)
Erzählerische Beiträge
Foto: Weihnachten
Das Foto zeigt einen etwa zweijährigen Jungen in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, der, auf dem Boden hockend, mit einem Traktor mit Anhänger spielt – offenbar einem Weihnachtsgeschenk. Zu sehen ist ein runder, mit einer großen Tischdecke versehener Tisch, auf dem ein geschmückter Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen steht. Unter dem Baum stehen Teller mit Weihnachtsgebäck, Nüssen und Obst.
Im linken Bildausschnitt ist der Teil eines Sessels, im rechten ein Wohnzimmerschrank zu sehen, auf dem eine Blumenvase abgestellt ist. In der Zimmerecke, vor dem Fenster mit geschlossenen Vorhängen, steht ein Fernsehgerät, links am Fenster eine Stehlampe. Auf dem Boden des Zimmers, der aus Holzdielen besteht, liegt ein Teppich. Der Junge erinnert sich nicht mehr an die Farbe des Spielzeugs und die des Teppichs, wohl aber an das Dunkelrot des Sessels, von dem es einen weiteren im Raum gibt, an das Dunkelbraun des Wohnzimmerschrankes und an einige der dort aufbewahrten Utensilien der Familie: das Porzellan, das Besteck, die Gläser einschließlich der Kristallgläser, die nur zu besonderen Anlässen hevorgeholt werden. Er fühlt das Raue des Teppichs an den auch im Winter, wenn er drinnen spielt, oft nackten Knien, eines Teppichs, der aus der nahegelegenen Fabrik kommt, in der der Bruder des Vaters arbeitet und in der Seile und Teppiche aus Sisal hergestellt werden. In Erinnerung ist dem Jungen der leicht süßliche Duft der Tannennadeln in der Nähe der Kerzen und der wunderbare Geruch des Tannenbaums, wenn er im Januar, abgeschmückt und in kleinere Stücke zersägt, in der Feuerung des mit Holz und Bricketts geheizten Backofens in Flammen aufgeht und die Backstube des Vaters durchdringt.
Der Junge auf dem Foto blickt nicht direkt in die Kamera. Er schaut sich mit dem erinnernden Blick von heute in dem Zimmer um und sieht den Fotografen, vermutlich seinen Vater, vor dem Tisch an der anderen Seite des Zimmers, das Wohn- und zugleich Essraum der Familie ist. Um Platz im Raum zu gewinnen, ist der Tisch an die Wand gerückt und von zwei Holzstühlen und einem Hochstuhl umstellt. Komplettiert wird das Mobiliar von einem Sofa und einem niedrigen Couchtisch, an dem der Junge an Sonntagnachmittagen, wenn Bäckerei und Geschäft geschlossen sind, mit seinen Eltern spielt und bastelt und an dem er wenige Jahre später Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und seine Hausaufgaben machen wird.
Der Junge spürt die Kälte des Holzbodens, je weiter er von dem Ofen entfernt ist, der mit Kohlen und Bricketts geheizt wird, die mit einer großen Schütte aus dem Kohlenkeller geholt werden. Der Ofen ist die einzige Heizquelle nicht nur des Zimmers, sondern der gesamten Wohnung, die noch aus einem kleinen Flur besteht, in dem sich eine Anrichte mit zwei Kochplatten, ein Waschbecken mit kaltem Wasser und das WC befindet. Angrenzend liegt das Schlafzimmer der Familie, einem nachträglich nach dem Krieg errichteten Anbau mit einem Flachdach aus Teerpappe, das oft ausgebessert werden muss, weil die Feuchtigkeit nach innen dringt, die in kalten Wintern für dicke, Geschichten erzählende Eisblumen an den Fensterscheiben sorgt.
Auf der anderen Seite des Wohn-/Esszimmers führt eine Tür in das Geschäft der Familie und direkt hinter die Verkaufstheke der kleinen Bäckerei und Konditorei der Eltern. Hier steht die Mutter in ihrer weißen Schürze und verkauft das Brot und den Kuchen, die Torten und das Gebäck, das der Vater hergestellt hat. Der Geruch des warmen Grau- und Weißbrotes bleibt über die Jahre, auch der intensive Geschmack der frischen, vor Hitze noch dampfenden Teilchen, die gerade auf großen Blechen aus dem Backofen kommen: Schnecken mit Rosinen, Streuselkuchen, mit Pudding und Obst gefüllte Teigwaren.
Es bleiben die dumpfen, stampfenden Geräusche der großen Teigmaschine, die nachts, wenn der Vater mit der Arbeit beginnt, von der dem Schlafzimmer gegenüber liegenden Backstube herübergetragen werden und die nichts Erschreckendes, den Schlaf Störendes haben, sondern in ihrer Monotonie beruhigend auf den Jungen im Halbschlaf wirken. Die Tür zwischen dem Laden und dem Wohnraum ist der einzige direkte Zugang zu den privaten Räumen der Familie, Leben und Arbeit sind eins.
Einige der Weihnachtsbaumkugeln auf dem Foto überdauern die Jahrzehnte und schmücken noch heute den Strauß mit Tannenzweigen in der Bodenvase in einer anderen Wohnung, in einer anderen Stadt. Überdauern werden auch die großen, aus Holz geschnitzten Formen und die kleine metallene, klappbare Form, mit denen der Junge seinem Vater in der Weihnachtsbäckerei geholfen hat, Spekulatius und Schweinchen aus Marzipan herzustellen. Der Holztraktor mit Anhänger, der auf dem Foto zu sehen ist, existiert nicht mehr. Aber es macht dem Jungen von damals Freude, Jahrzehnte später seinen beiden Enkeln zum Geburtstag, an dem sie so alt werden, wie er es auf dem Foto war, ein solches Spielzeug zu schenken. Und vielleicht nehmen sie, selbst älter geworden, eines Tages diese Erinnerungen des Großvaters mit in die Geschichte der Familie.
Foto: Straßenkinder
Annie Ernaux‘ „unpersönliche Autobiografie“ regt mich dazu an, meiner eigenen Biografie nachzuspüren und zu schauen, wo Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede sind - schließlich ist sie nur zwei Jahre älter als ich – und wie bei mir Erinnerung funktioniert.
Wie sie gehe ich von einem Foto aus, das mir für meine Kindheit aufschlussreich zu sein scheint. Es zeigt eine „Straßenkinder“- Szene etwa 1949/50 vor dem Haus Grafenwerthstraße 18 in Köln-Sülz, in dem ich meine gesamte Kindheit und Jugend bis zum Studium verbrachte.
Neun Kinder im Alter von 2 -8 Jahren bestaunen eine Sensation: eine Vespa. Die Straße wirkt grau und trist, besonders durch die im Krieg beschädigten oder notdürftig geflickten Häuser gegenüber. Es gibt keine Autos oder Fahrräder, auch keine Passanten. Der unbekannte Fotograf steht vermutlich vor dem Haus Nr.18. Ich bin das Mädchen rechts außen, etwas abseits, mit Zöpfen bzw. sog. Affenschaukeln, 7- 8 Jahre alt, das als einziges nicht zur Vespa, sondern zum Fotografen oder zur elterlichen Wohnung hinter oder neben dem Fotografen schaut. Vor mir der vier Jahre jüngere Bruder, den ich meist mitnehmen muss, was ich aber gerne tue. Das Foto erinnert an die Aufnahmen von Chargesheimer aus der Straße „Unterkranenbäumen“, die zeigen, dass auch in der zerstörten, tristen Stadt Köln das alltägliche Leben weitergeht.
Bei der Betrachtung des Fotos steigen Erinnerungen auf: immer viele Kinder auf der Straße zum Spielen, die Hälfte der Namen weiß ich noch, Abenteuer auf Trümmergrundstücken, Mutproben (Springen aus dem ersten Stock), Funde in den ausgebombten Wohnungen, Obsternte in den verwahrlosten Gärten, Verfolgungsjagden, Spielen auch im Klettenbergpark mit dem „Affenfelsen“, den wir trotz Verbot besteigen, oder im Beethovenpark. Viel Freiheit und Abenteuer. Zugleich der Schutz der Eltern, die es offensichtlich schafften, existentielle Nöte und Kriegstraumata von uns fern zu halten. Ich erinnere mich an Schule Spielen auf unserm Balkon, wir hatten eine Stehtafel, Kindergeburtstage, Familienfeste usw. Mir fallen wunderbare Episoden ein, Gefühle, Gerüche, Erzählungen …
Ich könnte jetzt das Lied von der glücklichen Kindheit zwischen Geborgenheit und Abenteuer singen, aber wen interessiert das? Das hat man hundertmal gehört oder gelesen. Ich bewahre diesen Schatz, aber es langweilt mich, meine Erinnerungen im Detail aufzuschreiben. Interessanter ist für mich die Frage, warum mir nichts Negatives einfällt. Behält man eher das Positive? Oder ist das typisch für mich, mir das Leben „schön zu lügen“(Formulierung meines Bruders). Es kamen nach dieser Idylle schlechtere Zeiten mit Belastungen durch Tod und Krankheit und zuviel Verantwortung für mich, Konflikte, Brüche, aber auch in diesen Phasen sehe ich meine Tendenz des Akzeptierens und positiv Einordnens. Bei Ernaux hat mich beim ersten Lesen bedrückt, dass Glücksmomente und positive Gefühle weitgehend fehlen, ja Gefühle überhaupt, oder sie sind versteckt hinter einer scheinbaren Objektivierung, dem Verschwinden in der Gesellschaft.
In der Kindheit hat man keinen Blick für Gesellschaftliches oder Historisches, wie auch Ernaux zeigt. So habe ich durchaus bei uns und den Nachbarskindern Unterschiede in der Herkunft (kaum eins der Kinder sprach Kölsch), der Wohnsituation und den finanziellen Möglichkeiten bemerkt, aber sie spielten kaum eine Rolle. Kinder nehmen vermutlich Unterschiede wahr ohne zu bewerten. So wohnte eine Familie noch in einer Kellerwohnung, eine andere hatte eine Art Hütte auf einer planierten Fläche über der ersten Etage eines zerstörten Hauses errichtet, eine dritte Familie in unserm Haus hatte bereits wieder eine luxussanierte Wohnung mit Heizung und weißem Flauschteppich, in der es uns immer beim Spielen zu warm war. Bei uns funktionierte die Heizung noch nicht wieder. Geheizt wurde mit Kohleofen meist nur in der Küche. Gebadet wurden wir einmal in der Woche in einem Badezuber in der Küche. An Mangel – außer bei Schuhen, ich musste hohe Schuhe mit Hufeisen tragen, damit der Absatz länger hielt - kann ich mich nicht erinnern.
Je länger ich das Foto betrachte, desto mehr Details fallen mir ein. Aber wen interessieren sie? Müssen sie zu Papier gebracht werden? Meine Erinnerungen sind eher privat und mündlich erzählbar in der Familie oder im Abgleich mit Gleichaltrigen. Auch ich möchte Kindheitserinnerungen nur lesen, wenn sie Literatur sind, d.h. eine eigene Sprache und Struktur haben und/oder einen bemerkenswerten Inhalt.
So wird mir bei der Beschäftigung mit meiner Kindheit die Bedeutung von Annie Ernaux‘ Roman deutlich: Sie hat eine neue Form der Autobiografie geschaffen, indem sie versucht, in einem individuellen Gedächtnis das kollektive zu finden, und entwirft so ein Panorama der Jahre 1940 – 2006. In einem konstruktiven Dialog mit dem Leser animiert sie viele, sich mit der eigenen Biografie zu beschäftigen und sich auf sich selbst zu besinnen, so auch mich, bei der aber die Begabung zum literarischen Schreiben nicht vorhanden ist.
Foto: Kommunion
Wir waren immer viele - in der Schule, in der Kirche, an der Uni, auf dem Arbeitsmarkt.
Das Foto zeigt die Kommunionfeier 1963 in der Agnes-Kirche in Köln. Mehr als 60 Mädchen und vermutlich ähnlich viele Jungen füllen die vorderen Kirchenbänke, links die Mädchen, rechts die Jungen, sauber getrennt. Man lernte sich einzureihen, nicht aufzufallen, im Schutz der vielen nicht aufzufallen. Die Kleidung, obwohl in Einzelheiten unterschiedlich und von der Mutter sorgsam ausgewählt, gleicht einer Uniform. Angespannt, mit schweißfeuchten Händen, hochkonzentriert galt es unter den Augen der Eltern und Paten von hinten und des Priesters von vorne alles richtig zu machen. Alle Wege; Bewegungen und Gesten waren lange einstudiert, dementsprechend fühlte es sich an wie der Auftritt auf der Bühne, wie ein Theaterstück. Alles richtete sich nach außen, innen nur die Angst, etwas falsch zu machen, und das Schuldgefühl, nicht die richtige Andacht, das Gefühl für das Heilige aufbringen zu können.
Später dann die Feier im Familienkreis kaum weniger angespannt, denn nun spielt man die Solistenrolle. Der Ehrenplatz am Kopfende der Tafel verlangt gute Manieren. Für die Geschenke artig danken, obwohl sie so ganz anders sind als bisher: die goldene Armbanduhr, das goldene Kreuz am passenden Kettchen, die Schmuckschatulle, das Poesiealbum, die rote Kleiderbürste mit Nähzeug. Solist zu sein war keine freie Wahl, sondern eine zugewiesene Aufgabe, ein Platz, an den man gestellt wurde. Wer sitzt am Mittelgang und führt die Bankreihe nach vorne? Das größte Mädchen. Schlimmer noch in der neuen Schule: die Lehrerin schafft Ordnung, sie lässt die Kinder sich der Größe nach aufstellen. Höhepunkt der Übung: das größte und das kleinste Mädchen stehen nebeneinander vor der Klasse. Erziehung zur Unauffälligkeit, man lernt sich zu ducken, klein zu machen.
Raumbilder
Ein Kellerraum im schwachen Licht einer Deckenleuchte mit Drahtgitter. Dunkle Brauntöne bestimmen die Atmosphäre. An zwei Wänden Holzregale mit Einmachgläsern und eingelagerten Äpfeln, daneben die große Kartoffelkiste, noch gut gefüllt. An der dritten Wand die schwere Werkbank und über ihr all die Werkzeuge mit ihren geschwungenen alten Holzgriffen, die so gut und warm in der Hand liegen beim Anreichen. In der Mitte der freie Raum, in dem jetzt ein kniehoher Baumstumpf steht, die Oberfläche von unzähligen Schlägen des Beils uneben mit leichten Einschnitten. Meine Bewunderung für den Vater, der mit kraftvollen Beilhieben selbst astdurchsetzte Eichenstücke in Scheiben zerteilt und diese wiederum in schmale Scheite. In kurzen und erahnten Pausen gilt es, das gespaltene Holz zu sammeln, an eine bestimmte Wand unterhalb der Kellertreppe zu bringen und aufzustapeln, so zu schichten, dass nichts verrutscht und die vordere Seite eine möglichst glatte Fläche bildet. Ein unausgesprochener Anspruch, allein bestärkt durch den Blick meines Vaters nach fast wortlosen Stunden der gemeinsamen Arbeit auf die neue Holzwand – und sein „gut“.
Eine Dorfstraße in Dunkelheit. Es ist Mitternacht, kein hellerleuchtetes Fenster in den graubraunen Häusern am Straßenrand, nur schemenhaft wahrnehmbar. Kein Fahrzeug, kein Mensch, der entgegenkommt. Der schimmernde Asphalt unter den Füßen. Wortlos gehen wir nach Hause. Ich bin 12 Jahre alt. Vor einer Stunde ist meine Mutter gestorben.
Durch die Tür betritt man ein rechteckiges Zimmer, etwa 3m mal 2,20m und schaut durch das gegenüberliegende große Fenster auf Baumwipfel und Dächer. An der rechten Längswand ein kleiner zweitüriger Schrank, gleich dahinter das Bett, am Tag mit einer Überdecke zu einer Art Couch umgeformt. Links vor dem Fenster ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl, an der linken Längsseite ein schmales Regal aus Metallleitern und Holzböden. Je 9 solcher Zimmer sind rechts und links eines Ganges im 5. Stockwerk angeordnet, in den Stockwerken darunter die Zimmer mit 3, 4 und 5 Betten, der Schlafsaal, die Aufenthaltsräume, die Klassenräume des Gymnasiums, das Refektorium. Es hat sieben Jahre gedauert, in das kleine Zimmer einzuziehen. In den folgenden zwei Jahren wird es sich von den anderen unterscheiden. Nach und nach füllen sich die Wände mit Filmplakaten - möglichst französisch -, die man in dem einzigen Kino erbittet, Ankündigungen von Lesungen in der Buchhandlung der Kleinstadt, originellen Zeitungsausschnitten und einer Sammlung von Quadraten in Grünfarbtönen. Kleine Übungen auf dem Weg zu einem Ich.
Das neue Zimmer ist etwa 12qm groß, mit einer Tür, durch die man nach draußen in den großen Garten mit Swimmingpool gehen kann. Der Umzug in diese Stadt ist seit Monaten geplant, das Zimmer hat ein Doppelstockbett, Holzregale und zwei Schreibtische mit Stühlen, die sich gegenüberstehen. Die beiden Mädchen, 8 und 11 Jahre alt, haben meinetwegen die andere Stadt verlassen und wohnen etwa zwei Jahre lang gemeinsam in diesem Zimmer, in einem Haus mit 240qm.
Eine breite hohe Treppe mit rotem Teppichboden führt in das obere Stockwerk mit unserem Zimmer Nr.7. Es ist vielleicht das dritte oder vierte Mal, dass wir dieses kleine Schlosshotel besuchen, beim Betreten des Zimmers bauscht der Wind die weiße Gardine vor dem tiefen Fensterflügel auf und das Licht glänzt in den Raum hinein. Wie ist es nur möglich, dass dieser Raum so fröhlich, geborgen und heiter macht?
Foto: Das Haus
Es ist ein altes, stolzes Haus. Der Tuffstein der dicken, mit Zwischenraum doppelt aufgemauerten Außenwände stammt aus den Steinbrüchen des kleinen Dorfes. Jeder Stein aufwändig von Hand behauen. Ganz oben, in einem der hintersten Zimmer unterm Dach, fast einer Abstellkammer, sind im Sommer, wenn alle Fremdenzimmer belegt sind, die Kinder untergebracht. Die Kleidung in einem kleinen Wäschekorb am Fußende des Betts. Ein Waschbecken. Die Luft ist heiß, staubig, süßlich vom Bohnerwachs der Holzdielen. Eltern und Großmutter sind dann abends weit weg, unten in der Gastwirtschaft, in der Küche, beschäftigt. Von dort her sind hier oben Stimmen, Lachen, Schlagermusik, Türenschlagen zu hören, näher ist das Tropfen eines Wasserhahns, das Knarren von Fußbodendielen, vielleicht schleicht sich gerade ein Mörder hierher. Er könnte auch unter dem Bett lauern, ein Messer durch die Ritze im Rahmen zwischen den beiden Hälften der Doppelbetten schieben.
In den düsteren Mauern, Nischen, Gewölben, den leeren Zimmern und langen Fluren des Hauses nistet die dunkle Vergangenheit als böses Geheimnis. Der gewaltsame Tod des Großvaters im Zuchthaus der Nazis, sein versiegelter Sarg, kein Grab auf dem Friedhof, kein Foto, kaum der Name. „Blutschande“, Verrat, Schuld, die Großmutter schweigt. Mustergültiges Verhalten ist die eiserne Pflicht der Kinder, jeden habt ihr freundlich zu grüßen, ihr habt immer „bitte“ und „danke“ zu sagen, ihr habt einen Knicks zu machen, wehe, ihr seid vorlaut.
Die Küche ist der Raum, in dem sich das Familienleben abspielt. Sonntags der Vater, mit weißem Hemd und Krawatte, nach Rasierwasser duftend, die Mutter in frischer weißer Kittelschürze, am Herd die Großmutter, Maria, immer noch stolz auf ihre Koch- und Backkünste, der Duft des Bratens, während sie „Maria zu lieben…“ oder „Maria breit‘ den Mantel aus…“ vor sich her singt. Die ersten Frühschoppengäste, gutgelaunt, mischen Zigarrenqualm in den Bratenduft, Vorfreude aufs Skatspielen und Kegeln. Nachmittags die Handballspieler, abends auch die Paare zum Essen. In der Küche hängt das fast öffentliche Telefon mit Zähler für die abzurechnenden Einheiten, eines der wenigen im Ort; wir Kinder am Küchentisch heucheln beim Zuhören Desinteresse.
Der erste und einzige Fernseher im Dorf zieht die Gäste magisch in die Gaststube, es können nicht genug Stühle herbeigeschafft werden. Euphorie angesichts des geschäftlichen Erfolgs, Pläne, Möglichkeiten überall. Große Hochzeiten, Jubiläumsfeiern, raumsprengende Karnevalspartys, experimentierfreudige Küche mit Fernsehkoch Wilmenrod, Pizza und kalten Buffets.
Der über eine steile steinerne Treppe erreichbare, tief unter dem Haus liegende Keller ist Angst einflößend mit seinen schlecht beleuchteten Gewölbedecken, den modrig dunklen Nischen und verriegelten Türen, den Spinnweben, dem schwarz staubigen Kohlenkeller, der kalten Feuchtigkeit im Bierkeller mit seinen Fässern und der großen hölzernen Eis-Truhe. Aber ein Mal im Jahr wird der Keller zum zentralen Festplatz für die Familie, wenn hier bei der Hausschlachtung ein ganzer Raum zur unterirdischen Küche wird, mit riesigen Bottichen für die Würste, das Büchsenfleisch, und Pfannen für die Grieben, alles auf dem großen glühend heißen Kohleherd, die Luft von Fleischdunst schwer. Wenn der Metzger mit hochgekrempelten Ärmeln bis zum Ellbogen die Gewürze in der Blutwurstmasse verrührt.
Die geräucherten Würste und Schinken kommen zum Trocknen auf den Speicher. Zu dem gelangt man über eine aus der Flurdecke herausklappbare und ausziehbare enge Holzleiter. Oben ist trockene, stickige Luft. Diverse Kamine unterteilen als wuchtige Pfeiler den Raum, ehemalige Taubenschläge, kleine, staubige Fenster, die mit einem Bügel aufgesperrt werden können, Untersicht auf Dachpfannen, abgestellte Gerätschaften. Holzdielen, Wäscheleinen, weil hier im Winter auch die Wäsche getrocknet wird. Eine Nachbarin, heißt es, hat sich neulich auf ihrem Speicher mit einer Wäscheleine erhängt.
Die Fremdenzimmer mit den nummerierten Türen befinden sich im ersten und zweiten Stock, rechts und links der langen Flure. Die Zimmer unterscheiden sich nur durch ihre farbliche Gestaltung, das Rostrot oder Lindgrün der schweren Kapok-Steppdecken, der Fußbodenläufer, Stuhlkissen und Nachttisch-Lampenschirme. Jedes Zimmer besitzt ein Waschbecken mit kaltem Wasser, die Gemeinschaftstoiletten befinden sich auf Höhe der Zwischenpodeste des Treppenhauses. Wenn die Räume über einige Zeit leer stehen, ist die Luft abgestanden, unpersönlich, in allen Zimmern gleich. Unangenehm intim ist das Herrichten der Zimmer von Übernachtungsgästen durch die Berührung mit den sehr persönlichen Spuren dieser Fremden.
Jahre später. Die Gaststube zeigt, dass ein überstürzter Aufbruch vieler Menschen stattgefunden hat. Stühle und Tische stehen durcheinander, leere und halbvolle Gläser, überfüllte Aschenbecher, Fußabdrücke und Schneematsch auf dem Linoleumboden, verbrauchte Luft, Zigarettenqualm. Der Rosenmontagszug hat sich an diesem Ende des Ortes aufgestellt, ist eben losgezogen. Keine Gäste sind mehr da, und auch später am Tag werden nur wenige wieder hierher kommen, seit vor einigen Jahren in der Dorfmitte eine Mehrzweckhalle gebaut worden ist, in der die Vereine des Dorfes, kostengünstig, Festveranstaltungen ausrichten. Die Eltern sind deprimiert, verbittert, müde, fühlen sich vom Dorf im Stich gelassen. Keine der beiden Töchter wird die Gaststätte weiterführen.
Viele Jahre später. In der ersten Etage wohnt die alte Frau, die Mutter der Kinder. Sie ist allein. Der Mann ist vor Jahren gestorben, aber die Frau vergisst das immer wieder, in Panik ruft sie ihre Töchter an und sucht den Vater. Sie hat ihre Wohnung schon seit einiger Zeit nicht mehr verlassen, die Treppen sind zu mühsam, sie muss immer wieder ausruhen. Früher hat sie viel gelesen, heute vergisst sie zu schnell. Sie liebt ihre Wohnung, liebt es, in ihr erinnert zu werden an ein ganzes langes Leben, hier wird sie niemals weggehen. Im Erdgeschoss, wo früher einmal die Gaststätte war, wohnen Betreuerinnen aus Polen, immer wieder andere Frauen, deren Namen sich die alte Frau nicht merken kann. Die langjährige Mieterin der Dachgeschosswohnung ist in hohem Alter gestorben, die andere Mieterin der Anbauwohnung, eine junge Frau, hat gerade ihre Wohnung gekündigt, mit ihrer Multiplen Sklerose kann sie nicht mehr die Treppen steigen. Im riesigen, leeren Haus ist schon fast alles Leben gestorben.
Die Maklerin, eine junge Frau aus dem Nachbarort, die mit dem Verkauf beauftragt wird, kauft das Haus kurzentschlossen selbst, sie wird die Mietwohnungen umgestalten. Von der Vergangenheit des Hauses weiß sie nichts. ‚Reset‘ nach mehr als hundert Jahren.
Anmerkungen
- ↑ Alle Seitenangaben beziehen sich auf: Annie Ernaux, Die Jahre, suhrkamp taschenbuch, Berlin 2019
- ↑ https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/67215/WHO_NMH_NPH_02.8_ger.pdf;jsessionid=26C79ECAF282B089A8DF8A6E90F90FE5?sequence=2
- ↑ Vgl. hierzu die Altersstufen der WHO - https://link.springer.com/article/10.1007/s00482-015-0034-0
- ↑ http://www.literarischealtersbilder.uni-koeln.de/index.php/Miriam_Haller:_Topoi_des_Alters_in_der_Literaturgeschichte_-_Altersklage,_Alterslob,_Altersspott
- ↑ a.a.O.
- ↑ Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Generalisierendes_Personalpronomen
- ↑ Hervorhebung im Original
- ↑ Christoph Helferich, Geschichte der Philosophie, Stuttgart 1992, S. 400
- ↑ Hervorhebung im Original, auch in weiteren Zitaten
- ↑ Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1972, S. 126f.
- ↑ a.a.O., S. 128
- ↑ Dieser Begriff bezeichnet bei Heidegger das Sein des Menschen im Unterschied zu anderem Seiendem
- ↑ a.a.O., S. 129
- ↑ Roland Barthes. Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Manderey (1979), In: Paradigma Fotografie, S. 85.
- ↑ https://www.deutschlandfunkkultur.de/erzaehlen-im-multimedialen-zeitalter-text-ist-nicht-alles.976.de.html?dram:article_id=379250
- ↑ Die Ontologie (im 16. Jahrhundert als griechisch ontologia gebildet aus altgriechisch ὄν ón ‚seiend‘ und λόγος lógos ‚Lehre‘, also ‚Lehre vom Seienden‘) ist eine Disziplin der (theoretischen) Philosophie, die sich mit der Einteilung des Seienden und den Grundstrukturen der Wirklichkeit befasst. https://de.wikipedia.org/wiki/Ontologie
- ↑ Platon, Der Staat, Siebentes Buch, Stuttgart 1989 (Reclam), S. 330
- ↑ Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt/M. 1980 (Fischer-TB)
- ↑ a.a.O., S.10
- ↑ a.a.O., S. 23
- ↑ a.a.O., S.23
- ↑ a.a.O., S.21
- ↑ a.a.O., S.14
- ↑ http://www.fotogeschichte.info/bisher-erschienen/hefte-ab-126/126/editorial-susan-sontag-und-die-fotografie/
- ↑ a.a.O., S. 9
- ↑ a.a.O., S. 28
- ↑ a.a.O., S. 28
- ↑ a.a.O., S. 28