Lutz Seiler, Stern 111: Unterschied zwischen den Versionen

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Unterwegs zum Sehnsuchtsort – die Wanderung der Eltern (von Ilse Noy)
Im Wintersemester 2023/24 hat sich die Projektgruppe "Literarische Bilder unserer Zeit" mit dem Roman "Stern 111" von Lutz Seiler beschäftigt. Dabei sind folgende Texte entstanden:


„Vielleicht sind meine Eltern verrückt geworden“ (290), denkt Carl, der zentrale Protagonist
* [[media:Unterwegs zum Sehnsuchtsort - die Wanderung der Eltern.pdf|Unterwegs zum Sehnsuchtsort - die Wanderung der Eltern (von Ilse Noy)]]
in „Stern 111“, als er von Inges und Walters Absicht erfährt, ihr Leben in Gera zurückzulassen
* [[media:Poetisches Dasein - das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin.pdf|Poetisches Dasein - das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin (von Monika Hartkopf)]]
und sich, einem geheimnisvollen Plan folgend, unmittelbar nach dem Fall der Mauer auf den
* [[media:Räume und Gefühle - Das Elternhaus.pdf|Räume und Gefühle - Das Elternhaus (von Christoph Hübenthal)]]
Weg in die Bundesrepublik zu machen. Verstärkt wird das Unverständliche ihres Vorhabens
dadurch, dass sie zwar nur mit dem Notdürftigsten in ihren Wanderrucksäcken ausgestattet
sind, Walter aber dennoch ein schweres, Carl völlig unbekanntes Akkordeon mitschleppt.
Hinzu kommt, dass die Eltern, die Carl bisher als Paar-Einheit erschienen waren, „ab Gießen
getrennt“ (20) weiterziehen wollen, so, als wollten sie ihre Erziehungsmaxime, nach der sie
immer „unabhängig voneinander zu demselben Ergebnis“ (vgl. 468) gekommen waren, nun
buchstäblich in die Tat umsetzen. Da die Auswanderung Inges und Walters über große
Strecken aus Carls Perspektive berichtet wird, übernehmen wir als Leser:Innen seine
Irritation, die möglicherweise noch größer wird, wenn wir durch einen außenstehenden
Erzähler zusätzlich zu den Briefen Inges an Carl viel detaillierter als dieser über die
Erlebnisse, Gefühle und Gedanken der beiden Eltern auf ihrer Odyssee durch die BRD
informiert werden. Die Frage nach dem ominösen „Ziel“, dem Sehnsuchtsort, der alle
Strapazen und Demütigungen rechtfertigen könnte, bleibt zunächst offen.
 
Die Wanderbewegung von Inge und Walter bildet im Roman einen eigenen Erzählstrang. Sie
setzt das Romangeschehen auf der Inhaltsebene in Gang und wird in formaler Hinsicht
dadurch besonders betont, dass sie von Teil III bis zu Teil IX, dem Ende des Romans, jeweils
das erste Kapitel bildet, so, als wollte sie der Auftakt und Anschub für Carls eigenen Weg
sein, der in den darauffolgenden Kapiteln dargestellt wird und auf dem der Schwerpunkt des
Romans liegt. Die Regelmäßigkeit, mit der die Elternerzählung den Hintergrund für Carls
Entwicklung bildet, wird nur zwei Mal durchbrochen: in Teil III beschreibt ein zusätzliches
Kapitel („Weltenergie“ 125 ff.) die Begegnung Inges mit Dr. Talib. Er stammt aus dem
Libanon und ist einer der ersten Quartiergeber für Inge und Walter im Westen. Dr. Talibs
philosophisch und biblisch konnotierten Ausführungen zur Bedeutung der Wanderschaft
verweisen auf eigene Erfahrungen des Umherziehens und Flüchtens: Es sei das Welt- und
Selbstverständnis des Wanderers, das ihn jede Art von Grenzen überschreiten lasse, seine
Bereitschaft, Altes hinter sich zu lassen und Neuem zu begegnen, das den Wanderer
ausmache.
 
Diesen Ausführungen folgend, mag der Anstoß zur Wanderung in der Sehnsucht nach einem
verheißenen Land bestehen oder, woran der Romantitel denken lässt, der inneren
Notwendigkeit, dem Stern der ‚Drei Weisen‘ nach Betlehem zu folgen. Die Bedeutung des
Wanderns könnte aber auch in der Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit
liegen, die Eingrenzungen überwindet, auch wenn dies Abschied und Trauer um
Zurückgelassenes bedeutet, wie es in der Traurigkeit von Dr. Talibs Frau evident wird (vgl.
130 f.). In Teil VIII, dem vorletzten des Romans, drängt sich nach dem Auftaktkapitel der
Erzählstrang der Auswanderung von Inge und Walter mit zwei weiteren Kapiteln („Alte
Bekannte“ 413 ff., „Komm doch“ 442 ff.) mehr in den Vordergrund des Geschehens und
leitet den letzten Teil ein, in dem Carl seine Eltern in den USA trifft, wo beide Erzählstränge
zusammengeführt werden.
 
In diesem letzten Kapitel erfährt das „Elternrätsel“ (463), das Inges und Walters
Auswanderung für Carl und den Leser darstellt, schließlich seine Auflösung. Die Eltern
erzählen erstmals ihrem Sohn Carl aus ihrer Jugend. Wie Walter als hervorragender
Akkordeonspieler und beide begeistert vom Rock‘n’Roll, Bill Haley auf einem Konzert in
Berlin getroffen hatten, von diesem in die USA eingeladen worden waren, die Möglichkeit
zur Flucht jedoch verpasst hatten. Diesem unverändert bestehenden Wunsch hätten sie jetzt
nach dem Fall der Mauer, unbedingt nachgehen wollen.
 
Bei genauerem Hinsehen bleiben jedoch für den Leser ziemlich viele Fragen offen. Haben
sich Inge und Walter je über die Ernsthaftigkeit von Haleys Einladung und die Realisierbarkeit
Gedanken gemacht? Wie kann es sein, dass beide ihren jugendlichen Traum von einem
künstlerischen Leben in den USA, wie in einer Zeitkapsel und, vergleichbar konserviert wie
das Eingeweckte im Keller, unverändert bewahrt haben, um ihn nun, ihr gesamtes bisheriges
Leben inklusive Carl zurücklassend, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, scheinbar
ohne realistische Planung, in die Tat umzusetzen?
 
Wie kann es sein, dass ein Jugendtraum solche Macht besitzt, dass er Inge und Walter fast
zwanghaft unbeirrt in die Auswanderung treibt, ihnen aber auch auf ihrer Odyssee die Kraft
zum Durchhalten gibt? Wozu ist es ihnen wichtig, mittellos aufzubrechen, welche
Qualifikationen glauben sie für einen Gelderwerb in der Bundesrepublik, eine Auswanderung
in die USA und für ihr Leben dort zu besitzen? Wozu wollen sie ab Gießen getrennt
weiterreisen, welche Chancen glauben sie damit zu vergrößern? Welche Bedeutung hat das
Akkordeon, das Walter so viele Jahre lang nicht mehr gespielt hat? Was suchen beide nach
Bill Haleys Tod in den USA? Warum würde eine Einweihung von Carl in ihren Plan dessen
Durchführung gefährden und lässt sie daher sogar die Beziehung zu ihm auf eine harte Probe
stellen?
 
Umso unverständlicher und als irrationale Idee erscheint die Auswanderung zunächst, wenn
man sie vor dem Hintergrund des Lebens der Familie in Gera betrachtet, das überaus
geregelt und mit den allmorgendlichen Zettelnachrichten Inges an Carl überorganisiert
erscheint. Zwar wird von Inge sorgfältig Lebensmittelvorrat eingeweckt, es ist aber nicht die
Rede von gemeinsamen, liebevoll zubereiteten Mahlzeiten im Kreis der Familie. Fast scheint
es, als sei, ähnlich wie bei Inges Arbeit, der Entwicklung von Lebensmittel-Ersatzstoffen, auch
zuhause das Essen vorrangig auf Nahrungsaufnahme reduziert. Wenn der kleine Carl sich in
der Schule oder beim Spielen in Schwierigkeiten bringt, möchte man das fast als Protest
gegen dieses reibungslose Funktionieren unter Inges Lieblingsbegriffen „sukzessive“ und
„operativ“ (vgl. 159) verstehen. Carl erfährt sich ausgeschlossen aus der Gemeinsamkeit des
ihm wie ein ge- und verschlossener Block gegenüberstehenden Elternpaars. Wärme und
Nähe, erinnert sich Carl, entstehen nur, wenn er mit Walter alleine sonntags in der Garage
am Auto, einem Shiguli, arbeitet. In der Verbundenheit mit dem Vater werden die
Familienwerte überliefert: Es ist der Wert eines guten alten Holzbretts, für das Walter das
einzige Lob von seinem Vater erhielt (vgl. 373), es steht für den Wert von Handwerk und
gutem Werkzeug und davon „die Arbeit zu sehen“ (vgl. 18).
 
Offensichtlich, ohne dass sich Carl erinnern kann, hat es jedoch auch eine Zeit gegeben, als
die junge Familie sich als erste Anschaffung das Kofferradio „Stern 111“ gekauft hatte und
man gemeinsam singend und tanzend auf dem Nachhauseweg von der Arbeit West-Musik
hörte, zusammen und glücklich mit dem Kleinkind Carl im Kinderwagen, das sich dabei als
Beatles-Fan entpuppte (vgl. 496). Für Walter, der zu dieser Zeit bereits auf seinen
Herzenswunsch, Musik zu studieren, verzichtet hatte, scheint ebenso wie für Inge das Glück
in dieser jungen Familie ausgereicht zu haben für ein lebendiges Leben. Es wird nicht erzählt
und es ist nur zu vermuten, dass es in der Folgezeit die allgemein schwierigen, restriktiven
Lebensumstände gewesen sind, die es Inge und Walter unmöglich gemacht haben, diese
Freude an West-Musik und Tanz und ihre ausgelassene Lebendigkeit in den Alltag der
Familie zu integrieren. Und weil ihre gegenseitigen Schuldgefühle über die verpasste Flucht
zu groß (vgl. 470 ff.), ihre Traurigkeit über die verpasste Chance zu schmerzhaft sind, müssen
sie alles, was sie daran erinnert, zusammen mit ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben
begraben, sodass sich das Leben, das sie schließlich führen, wie ein gefühlsarmes, freudlos
ersticktes, unzureichendes Ersatzleben anfühlt.
 
Wenn tatsächlich in Inge und Walter die von Dr. Talib gepriesenen Wanderer zu erkennen
sind, dann werden alle – unbeantworteten - Fragen nach der praktischen Durchführbarkeit
der Ausreise gegenstandslos. Denn wenn die Lebensaufgabe des Wanderers in der
Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit besteht, dann haben praktische
Einwände, die Inge und Walter als junge Menschen letztlich vor der Ausreise hatten
zurückschrecken lassen, kein Gewicht mehr.
 
Von Anfang an hatte ein gemeinsames Rhythmusgefühl das Paar in Bezug auf Musik und
Tanz verbunden (vgl. 477). Jetzt macht es dieser offensichtlich weit darüber hinausgehende
Gleichklang möglich, dass beide anknüpfen können an die alte, ungebrochene Sehnsucht
nach Lebendigkeit. Nach so vielen abstumpfenden Jahren und obwohl sie eigentlich viel zu
alt dafür sind, ergreifen sie - ohne diesmal lange das Für und Wider zu überlegen - die
Gelegenheit, um ihren alten Jugendtraum von Freiheit und Kreativität für sich zu
verwirklichen, koste es, was es wolle. Es ist bezeichnend, dass Walter statt „nützlicher“
Utensilien das Akkordeon mit auf die Wanderung nimmt, dass die USA das ‚verheißene Land‘
bleiben, auch wenn der „vernünftige“ Anlass mit Bill Haleys Tod nicht mehr existiert.
Vielleicht aber greift Dr. Talibs Beschreibung des Wanderers, der immer weiterzieht und
nirgends eine feste Heimat findet, in Bezug auf Inge und Walter zu kurz. Sie müssen letztlich
weder Carl noch ihre Heimat verlassen, sondern ihre Wanderung wird sie - so das offene
Ende - vermutlich wieder nach Gera zurückführen in die dann eigene alte Wohnung. Diese
Rückkehr erfolgt jedoch in all der Freiheit, die sie sich als Wanderer während ihrer langen
Wanderung erobert haben, bei der es nur scheinbar um das Erreichen eines anderen
geografischen Ortes ging.

Aktuelle Version vom 9. Juli 2024, 08:06 Uhr

Im Wintersemester 2023/24 hat sich die Projektgruppe "Literarische Bilder unserer Zeit" mit dem Roman "Stern 111" von Lutz Seiler beschäftigt. Dabei sind folgende Texte entstanden: