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| * [[media:Poetisches Dasein - das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin.pdf|Poetisches Dasein - das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin (von Monika Hartkopf)]] | | * [[media:Poetisches Dasein - das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin.pdf|Poetisches Dasein - das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin (von Monika Hartkopf)]] |
| | | * [[media:Räume und Gefühle - Das Elternhaus.pdf|Räume und Gefühle - Das Elternhaus (von Christoph Hübenthal)]] |
| Unterwegs zum Sehnsuchtsort – die Wanderung der Eltern (von Ilse Noy)
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| „Vielleicht sind meine Eltern verrückt geworden“ (290), denkt Carl, der zentrale Protagonist
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| in „Stern 111“, als er von Inges und Walters Absicht erfährt, ihr Leben in Gera zurückzulassen
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| und sich, einem geheimnisvollen Plan folgend, unmittelbar nach dem Fall der Mauer auf den
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| Weg in die Bundesrepublik zu machen. Verstärkt wird das Unverständliche ihres Vorhabens
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| dadurch, dass sie zwar nur mit dem Notdürftigsten in ihren Wanderrucksäcken ausgestattet
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| sind, Walter aber dennoch ein schweres, Carl völlig unbekanntes Akkordeon mitschleppt.
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| Hinzu kommt, dass die Eltern, die Carl bisher als Paar-Einheit erschienen waren, „ab Gießen
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| getrennt“ (20) weiterziehen wollen, so, als wollten sie ihre Erziehungsmaxime, nach der sie
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| immer „unabhängig voneinander zu demselben Ergebnis“ (vgl. 468) gekommen waren, nun
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| buchstäblich in die Tat umsetzen. Da die Auswanderung Inges und Walters über große
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| Strecken aus Carls Perspektive berichtet wird, übernehmen wir als Leser:Innen seine
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| Irritation, die möglicherweise noch größer wird, wenn wir durch einen außenstehenden
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| Erzähler zusätzlich zu den Briefen Inges an Carl viel detaillierter als dieser über die
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| Erlebnisse, Gefühle und Gedanken der beiden Eltern auf ihrer Odyssee durch die BRD
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| informiert werden. Die Frage nach dem ominösen „Ziel“, dem Sehnsuchtsort, der alle
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| Strapazen und Demütigungen rechtfertigen könnte, bleibt zunächst offen.
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| Die Wanderbewegung von Inge und Walter bildet im Roman einen eigenen Erzählstrang. Sie
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| setzt das Romangeschehen auf der Inhaltsebene in Gang und wird in formaler Hinsicht
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| dadurch besonders betont, dass sie von Teil III bis zu Teil IX, dem Ende des Romans, jeweils
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| das erste Kapitel bildet, so, als wollte sie der Auftakt und Anschub für Carls eigenen Weg
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| sein, der in den darauffolgenden Kapiteln dargestellt wird und auf dem der Schwerpunkt des
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| Romans liegt. Die Regelmäßigkeit, mit der die Elternerzählung den Hintergrund für Carls
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| Entwicklung bildet, wird nur zwei Mal durchbrochen: in Teil III beschreibt ein zusätzliches
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| Kapitel („Weltenergie“ 125 ff.) die Begegnung Inges mit Dr. Talib. Er stammt aus dem
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| Libanon und ist einer der ersten Quartiergeber für Inge und Walter im Westen. Dr. Talibs
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| philosophisch und biblisch konnotierten Ausführungen zur Bedeutung der Wanderschaft
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| verweisen auf eigene Erfahrungen des Umherziehens und Flüchtens: Es sei das Welt- und
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| Selbstverständnis des Wanderers, das ihn jede Art von Grenzen überschreiten lasse, seine
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| Bereitschaft, Altes hinter sich zu lassen und Neuem zu begegnen, das den Wanderer
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| ausmache.
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| Diesen Ausführungen folgend, mag der Anstoß zur Wanderung in der Sehnsucht nach einem
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| verheißenen Land bestehen oder, woran der Romantitel denken lässt, der inneren
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| Notwendigkeit, dem Stern der ‚Drei Weisen‘ nach Betlehem zu folgen. Die Bedeutung des
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| Wanderns könnte aber auch in der Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit
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| liegen, die Eingrenzungen überwindet, auch wenn dies Abschied und Trauer um
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| Zurückgelassenes bedeutet, wie es in der Traurigkeit von Dr. Talibs Frau evident wird (vgl.
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| 130 f.). In Teil VIII, dem vorletzten des Romans, drängt sich nach dem Auftaktkapitel der
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| Erzählstrang der Auswanderung von Inge und Walter mit zwei weiteren Kapiteln („Alte
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| Bekannte“ 413 ff., „Komm doch“ 442 ff.) mehr in den Vordergrund des Geschehens und
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| leitet den letzten Teil ein, in dem Carl seine Eltern in den USA trifft, wo beide Erzählstränge
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| zusammengeführt werden.
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| In diesem letzten Kapitel erfährt das „Elternrätsel“ (463), das Inges und Walters
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| Auswanderung für Carl und den Leser darstellt, schließlich seine Auflösung. Die Eltern
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| erzählen erstmals ihrem Sohn Carl aus ihrer Jugend. Wie Walter als hervorragender
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| Akkordeonspieler und beide begeistert vom Rock‘n’Roll, Bill Haley auf einem Konzert in
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| Berlin getroffen hatten, von diesem in die USA eingeladen worden waren, die Möglichkeit
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| zur Flucht jedoch verpasst hatten. Diesem unverändert bestehenden Wunsch hätten sie jetzt
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| nach dem Fall der Mauer, unbedingt nachgehen wollen.
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| Bei genauerem Hinsehen bleiben jedoch für den Leser ziemlich viele Fragen offen. Haben
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| sich Inge und Walter je über die Ernsthaftigkeit von Haleys Einladung und die Realisierbarkeit
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| Gedanken gemacht? Wie kann es sein, dass beide ihren jugendlichen Traum von einem
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| künstlerischen Leben in den USA, wie in einer Zeitkapsel und, vergleichbar konserviert wie
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| das Eingeweckte im Keller, unverändert bewahrt haben, um ihn nun, ihr gesamtes bisheriges
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| Leben inklusive Carl zurücklassend, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, scheinbar
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| ohne realistische Planung, in die Tat umzusetzen?
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| Wie kann es sein, dass ein Jugendtraum solche Macht besitzt, dass er Inge und Walter fast
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| zwanghaft unbeirrt in die Auswanderung treibt, ihnen aber auch auf ihrer Odyssee die Kraft
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| zum Durchhalten gibt? Wozu ist es ihnen wichtig, mittellos aufzubrechen, welche
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| Qualifikationen glauben sie für einen Gelderwerb in der Bundesrepublik, eine Auswanderung
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| in die USA und für ihr Leben dort zu besitzen? Wozu wollen sie ab Gießen getrennt
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| weiterreisen, welche Chancen glauben sie damit zu vergrößern? Welche Bedeutung hat das
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| Akkordeon, das Walter so viele Jahre lang nicht mehr gespielt hat? Was suchen beide nach
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| Bill Haleys Tod in den USA? Warum würde eine Einweihung von Carl in ihren Plan dessen
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| Durchführung gefährden und lässt sie daher sogar die Beziehung zu ihm auf eine harte Probe
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| stellen?
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| Umso unverständlicher und als irrationale Idee erscheint die Auswanderung zunächst, wenn
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| man sie vor dem Hintergrund des Lebens der Familie in Gera betrachtet, das überaus
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| geregelt und mit den allmorgendlichen Zettelnachrichten Inges an Carl überorganisiert
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| erscheint. Zwar wird von Inge sorgfältig Lebensmittelvorrat eingeweckt, es ist aber nicht die
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| Rede von gemeinsamen, liebevoll zubereiteten Mahlzeiten im Kreis der Familie. Fast scheint
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| es, als sei, ähnlich wie bei Inges Arbeit, der Entwicklung von Lebensmittel-Ersatzstoffen, auch
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| zuhause das Essen vorrangig auf Nahrungsaufnahme reduziert. Wenn der kleine Carl sich in
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| der Schule oder beim Spielen in Schwierigkeiten bringt, möchte man das fast als Protest
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| gegen dieses reibungslose Funktionieren unter Inges Lieblingsbegriffen „sukzessive“ und
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| „operativ“ (vgl. 159) verstehen. Carl erfährt sich ausgeschlossen aus der Gemeinsamkeit des
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| ihm wie ein ge- und verschlossener Block gegenüberstehenden Elternpaars. Wärme und
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| Nähe, erinnert sich Carl, entstehen nur, wenn er mit Walter alleine sonntags in der Garage
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| am Auto, einem Shiguli, arbeitet. In der Verbundenheit mit dem Vater werden die
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| Familienwerte überliefert: Es ist der Wert eines guten alten Holzbretts, für das Walter das
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| einzige Lob von seinem Vater erhielt (vgl. 373), es steht für den Wert von Handwerk und
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| gutem Werkzeug und davon „die Arbeit zu sehen“ (vgl. 18).
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| Offensichtlich, ohne dass sich Carl erinnern kann, hat es jedoch auch eine Zeit gegeben, als
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| die junge Familie sich als erste Anschaffung das Kofferradio „Stern 111“ gekauft hatte und
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| man gemeinsam singend und tanzend auf dem Nachhauseweg von der Arbeit West-Musik
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| hörte, zusammen und glücklich mit dem Kleinkind Carl im Kinderwagen, das sich dabei als
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| Beatles-Fan entpuppte (vgl. 496). Für Walter, der zu dieser Zeit bereits auf seinen
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| Herzenswunsch, Musik zu studieren, verzichtet hatte, scheint ebenso wie für Inge das Glück
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| in dieser jungen Familie ausgereicht zu haben für ein lebendiges Leben. Es wird nicht erzählt
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| und es ist nur zu vermuten, dass es in der Folgezeit die allgemein schwierigen, restriktiven
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| Lebensumstände gewesen sind, die es Inge und Walter unmöglich gemacht haben, diese
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| Freude an West-Musik und Tanz und ihre ausgelassene Lebendigkeit in den Alltag der
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| Familie zu integrieren. Und weil ihre gegenseitigen Schuldgefühle über die verpasste Flucht
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| zu groß (vgl. 470 ff.), ihre Traurigkeit über die verpasste Chance zu schmerzhaft sind, müssen
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| sie alles, was sie daran erinnert, zusammen mit ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben
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| begraben, sodass sich das Leben, das sie schließlich führen, wie ein gefühlsarmes, freudlos
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| ersticktes, unzureichendes Ersatzleben anfühlt.
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| Wenn tatsächlich in Inge und Walter die von Dr. Talib gepriesenen Wanderer zu erkennen
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| sind, dann werden alle – unbeantworteten - Fragen nach der praktischen Durchführbarkeit
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| der Ausreise gegenstandslos. Denn wenn die Lebensaufgabe des Wanderers in der
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| Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit besteht, dann haben praktische
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| Einwände, die Inge und Walter als junge Menschen letztlich vor der Ausreise hatten
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| zurückschrecken lassen, kein Gewicht mehr.
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| Von Anfang an hatte ein gemeinsames Rhythmusgefühl das Paar in Bezug auf Musik und
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| Tanz verbunden (vgl. 477). Jetzt macht es dieser offensichtlich weit darüber hinausgehende
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| Gleichklang möglich, dass beide anknüpfen können an die alte, ungebrochene Sehnsucht
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| nach Lebendigkeit. Nach so vielen abstumpfenden Jahren und obwohl sie eigentlich viel zu
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| alt dafür sind, ergreifen sie - ohne diesmal lange das Für und Wider zu überlegen - die
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| Gelegenheit, um ihren alten Jugendtraum von Freiheit und Kreativität für sich zu
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| verwirklichen, koste es, was es wolle. Es ist bezeichnend, dass Walter statt „nützlicher“
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| Utensilien das Akkordeon mit auf die Wanderung nimmt, dass die USA das ‚verheißene Land‘
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| bleiben, auch wenn der „vernünftige“ Anlass mit Bill Haleys Tod nicht mehr existiert.
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| Vielleicht aber greift Dr. Talibs Beschreibung des Wanderers, der immer weiterzieht und
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| nirgends eine feste Heimat findet, in Bezug auf Inge und Walter zu kurz. Sie müssen letztlich
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| weder Carl noch ihre Heimat verlassen, sondern ihre Wanderung wird sie - so das offene
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| Ende - vermutlich wieder nach Gera zurückführen in die dann eigene alte Wohnung. Diese
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| Rückkehr erfolgt jedoch in all der Freiheit, die sie sich als Wanderer während ihrer langen
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| Wanderung erobert haben, bei der es nur scheinbar um das Erreichen eines anderen
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| geografischen Ortes ging.
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| Poetisches Dasein – Das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin
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| (von Monika Hartkopf)
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| Seilers Roman „Stern 111“ ist nicht nur das Ergebnis eines dichterischen
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| Prozesses, sondern thematisiert diesen auch, indem über das Schreiben des
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| Protagonisten geschrieben wird. Unter diesem Aspekt lässt sich der Roman als
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| Bildungsroman einordnen, denn wir erleben neben vielen anderen
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| Entwicklungsvorgängen oder Veränderungen das Werden eines Dichters.
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| Der Protagonist Carl Bischoff hat bereits vor seinem Aufenthalt in Gera, wo er
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| vorübergehend nach der Ausreise der Eltern deren Wohnung hütet und die alte
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| Schreibmaschine seiner Mutter findet, ein Gedicht verfasst „über einen Soldaten,
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| der die Straße von Gibraltar passierte, allein in seinem U-Boot.“ (33)1 Außerdem
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| hat Carl Gedichtbände von Achmatowa, Char und Kolmar dabei, allesamt Lyriker,
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| deren Texte er abschreibt, worin er eine Möglichkeit sieht, „sich dem Heiligen zu
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| nähern […] [e]ine Art Gottesdienst“ (33). Autor Lutz Seiler enthält dem Leser
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| dieses Gedicht von Carl wie auch alle anderen vor2, wir erfahren nur, dass dieser
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| mit fünf Zeilen darin so zufrieden ist, dass er ein „warmes Glücksgefühl“ (33)
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| empfindet. Besonders aufschlussreich ist das zugleich nahe, aber auch
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| distanzierte Verhältnis zum eigenen Text; die ihm gefallenden Zeilen erscheinen
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| ihm nämlich „wie von einem Fremden verfasst.“ (33) Die dem Leser naheliegende
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| Vermutung, Carl beschreibe mit dem Bild des Soldaten im U-Boot seine eigene
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| Einsamkeit in der von den Eltern verlassenen Wohnung, erweist sich jedoch als
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| falsch. Bei der weiteren Beschäftigung mit seinem Text stellt Carl noch Defizite
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| fest, empfindet aber, „Sehnsucht und Verlassenheit in der richtigen Mischung […].
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| Nicht aus Erfahrung oder weil er gerade etwas (in einem weiteren Sinne)
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| Vergleichbares erlebte“ (35)3. Carls Dichtungsverständnis wird im Folgenden
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| apodiktisch formuliert: „Der Mann im U-Boot war Poesie, und wenn es Poesie
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| war, dann hatte es nichts mit dem eigenen (belanglosen) Leben zu tun. Es war die
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| andere Welt, für die es sich lohnte (und sonst für keine).“ (35)
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| Mit dieser Szene im ersten Kapitel, in der das poetische Dasein als existentielle
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| Lebensform thematisiert wird, sind schon wesentliche Akzente gesetzt, die im
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| weiteren Verlauf wieder aufgegriffen und erweitert werden.
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| Das Schreiben von Gedichten wird von Carl immer als Arbeit verstanden, für die
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| er einen Arbeitsplatz braucht. Als er sich in Berlin in einer verlassenen Wohnung
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| einrichtet, übernimmt er vom Vorgänger dessen „Werkbank (die Bank zum Werk,
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| dachte Carl)“ (83), auf der er die Schreibmaschine seiner Mutter, „die wenigen
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| Bücher, ein[en] Stapel mit unbeschriebenem Papier“ (83) anordnet. Dass es sich
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| ausgerechnet um eine Werkbank handelt, verbindet den Vorgang des Schreibens
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| mit der Welt handwerklicher Arbeit. Carl hat vor seinem abgebrochenen Studium
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| den Beruf des Maurers erlernt und kann seine Fähigkeit in Berlin beim Ausbau
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| der Assel, eines feuchten Kellers in einem der besetzten Häuser, einsetzen: „Die
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| Arbeit tat ihm gut, sie war ein direkter, sichtbarer Ausdruck seiner Fähigkeiten, er
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| spürte die Würde, die im richtigen Gebrauch des Werkzeugs lag, und nach und
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| nach erinnerte sich sein Körper an jedes Detail, jeden einzelnen Handgriff.“ (136)
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| Aufgrund seiner Kenntnisse wird ihm die Führung der „Baubrigade“ (136)
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| übertragen. Der Autor Lutz Seiler kann die handwerkliche Arbeit sicher auch
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| deshalb so genau beschreiben, weil er selbst nach dem Abitur als
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| Baufacharbeiter ausgebildet wurde und als Zimmermann und Maurer, später
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| dann auch als Kellner gearbeitet hat4. Auch Geburtsjahr und -ort haben Autor
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| und Erzählfigur gemeinsam, so dass man wohl von einem autofiktionalen Werk
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| sprechen darf. Seiler hat den Zusammenhang von Handwerk und Schreiben in
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| einem Interview folgendermaßen beschrieben: „Eine Idee vom Handwerk als
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| unmittelbar sinnliche Erfahrung – sei es als Maurer oder Dichter, sei es mit der
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| Hand am Stein oder im Klang eines Wortes im Schädel, Hunderte Male
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| gesprochen und belauscht mit der Frage, ob es das richtige ist – grundiert, was
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| ich mache bei meiner Arbeit. Das Ohr als Leit- und Kontrollorgan, die Stimme als
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| Instrument. Das heißt: endloses Sprechen beim Schreiben, laut vor mich hin, so
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| lange, bis ich höre, dass das, was ich sagen will, stimmt, im wahrsten Sinne des
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| Wortes.“5 Der Leiter des sogenannten Rudels, Hoffi, der Hirte, stellt für das Lokal
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| programmatisch fest: „In der Assel geht es um Arbeit und um Literatur [ ] Arbeit
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| und Literatur gehören zusammen“ (173), womit auf die besondere Rolle der
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| Arbeiterliteratur in der DDR angespielt wird, der man Seilers Roman aber
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| überhaupt nicht zurechnen kann, da es hier weder um das Lob der Arbeit noch
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| um die fundamentale Bedeutung der Arbeiterklasse geht.
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| Auffallend an der Darstellung des Schreibvorganges ist die affirmativ wiederholte
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| Überzeugung, dass das Schreiben ohne Denken erfolge. Ihr entsprechend
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| versucht Carl, „in jene kostbare Sphäre von Abwesenheit und Müdigkeit
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| hinüberzugleiten, in der sich ihm die Worte zeigten, wie er sie brauchte – roh, vom
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| Denken unberührt.“ (347f.) Geradezu komisch wirkt eine Szene, in der es heißt,
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| er „plapperte Unsinn vor sich hin. Guten Unsinn, den auszusprechen das Leben
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| im Gleichgewicht hielt. Außerdem war immer etwas dabei, das man später
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| vielleicht einmal brauchen konnte, irgendein abseitiges Wort oder eine kleine
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| Melodie.“ (172f.) Gesteigert wird diese Methode noch dadurch, dass er das
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| Sprechen mit Bewegung verbindet, vorzugsweise dem Gehen und rhythmischen
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| Schlagen (vgl.367), zum Beispiel mit einem Schraubenzieher. Das Schreiben wird
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| auf diese Weise zu einem körperlichen, sinnlichen Prozess.
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| Dieses Verständnis von Lyrik passt auch zu den Parallelen, die Carl (oder sollte
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| man besser sagen Lutz Seiler?) zu anderen Künsten zieht, insbesondere der
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| Malerei. Carl arbeitet besonders gern mit Henry zusammen, den der Hirte den
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| „guten Maler“ (68) nennt. Sein Bild eines galoppierenden Pferdes fasziniert Carl
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| ebenso wie „Ruhe und […] Gleichmaß [… der] Bewegungen“ (69) des Malers
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| selbst. „Als hielte er mit jeder Faser seines Körpers Kontakt zum Eigentlichen, dem
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| geheimen Zentrum der Welt. […]“ (69). Auch zur Malerei seiner (Jugend)Liebe Effi
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| sieht Carl, der für ihr Examen die theoretische Konzeption schreibt und dabei
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| auch überraschende Fachkenntnisse auf diesem Gebiet zeigt, Gemeinsamkeiten
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| in den Künsten, nämlich „Vieldeutigkeit“ und „Notwendigkeit“ (268f.)
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| Ausgangspunkt der Gedichtarbeit ist die Sprache selbst. „Es war die Sprache, die
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| ihn gefangen hielt (geradezu festsetzte, einsperrte), der Klang bestimmter Wörter
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| und Verbindungen“ (103f.). So schreibt er tagelang an einem Gedicht mit dem
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| „Titel <Das friedrizianische Kind>“ (103), ohne das Wort zu kennen oder gar zu
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| verstehen. Er vergleicht die Sprache mit einem Kind, das in einen tiefen Brunnen
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| gestürzt ist und das der Dichter dadurch, dass er in den Brunnen spricht,
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| gewissermaßen hervorholt, weil er an ihm „festhielt, bis er es geschafft haben
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| würde: das absolute Gedicht.“ (104) Dichten bedeutet für Carl Bischoff, „sich in
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| ein paar Worte zu versenken, die das Gedicht enthielten, das er schon hören, aber
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| noch nicht schreiben konnte.“ (219)
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| Im Umgang mit einer Kalaschnikow, mit der Carl in der Assel einen Wettkampf
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| darum bestreitet, wer sie am schnellsten mit verbundenen Augen auseinander-
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| und wieder zusammenbauen kann, reflektiert er über „eine Sprachform der
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| Dinge“, korrigiert sich dann aber selbst zur „Dingform der Sprache“ (422).
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| Nachdem Carl durch den Einsatz einer Schlagbohrmaschine direkt neben seinem
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| Ohr vorübergehend taub wird und glaubt, nicht mehr sprechen zu können, weil
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| er nichts hört, denkt er: „Gehen und Sprechen bringen die Worte hervor, und die
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| Worte sind das Gedicht. Schreiben ohne sprechen ist undenkbar. Denken ist nur
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| das Korrekturprogramm; erst sprechen, dann denken, heißt das Geheimnis.“
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| (451)
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| Viele der über den Roman verstreuten Reflexionen über die Dichtung zeigen
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| deren existentielle Dimension und ihr Eigenleben. So fühlt sich Carl einerseits als
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| Teil des Rudels, andererseits empfindet er sich aber als „vertieft in Verse und
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| Gedanken. Und oft war das kein Denken – nur ein Wiederkäuen von Worten, die
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| kleine magische Melodien enthielten, um die sich alles drehte in seiner Welt. Eine
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| Welt, in der nichts wichtiger war als das kommende Gedicht.“ (218) Die
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| Persönlichkeit des Dichters ordnet sich also dem Gedicht und dazu dem
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| Schreiben unter, was sich für Carl zum Beispiel darin zeigt, dass er Effi erklärt, „im
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| Grunde hätte sein Schreiben selbst den Ort [seiner Bleibe in Berlin, Ergänzung d.
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| V.] gewählt“. (185) Bei einem Besuch des Labors der Marie Curie in Paris
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| vergleicht Carl das Gedicht mit der strahlenden Kraft der Radioaktivität (vgl. 262),
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| wobei nicht das Vernichtende, sondern das kraftvoll Strahlende gesehen wird.
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| Carl beurteilt beim Anblick seine ersten vier Gedichte, die in einer Anthologie
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| gedruckt werden als „[…] vier unumstößliche Gedichte. Alles war richtig daran.
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| Dass keine weitere Fassung nötig sein würde: Jetzt erkannte es Carl […] Diese
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| Gedichte waren frei. Und wirkten fast ein wenig fremd dabei.“ (280) Das fertige
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| Gedicht ist in der Welt, absolut, unabhängig vom Autor. Das Gegenteil solcher
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| Gedichte ist für Carl das „anekdotische Gedicht, die kleine vorhersehbare
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| Geschichte, vor allem ihre Selbstgefälligkeit, diese glatte schale Schlauheit braver
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| Schwiegersöhne.“ (299)
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| In der Rigorosität dieser Ablehnung lässt sich schon ahnen, dass Carls Schreiben
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| einem sehr hohen künstlerischen Maßstab unterliegt. Dieser zeigt sich zum
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| Beispiel darin, dass er lange Zeit nicht mehr als zwanzig Gedichte hat, weil er bei
| |
| jedem neuen Gedicht im Vergleich feststellt, dass eines der älteren schlechter ist
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| und deshalb aussortiert wird (vgl. 83). Die Begriffe Dichter und Gedicht
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| beinhalten für Carl ein Ideal, während er die Begriffe Lyrik und Lyriker ablehnt:
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| „<Lyrik> war ein Würgen im Hals, spätestens beim -<ik> war alles erstickt.“ (119)
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| Dieser hohe Anspruch hat zur Folge, dass er sehr lange an einem Gedicht
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| arbeitet; so an dem Gedicht „reiz & zier“ etwa ein Jahr lang (vgl. 374). Dessen
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| Qualität erklärt er wie folgt: „Das Gedicht traf einen Punkt, über den er zuvor
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| nicht Bescheid gewusst hatte. Als wäre es nicht von ihm selbst geschrieben, und
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| das war das Beste daran.“ (374) Hier zeigt sich, dass das Gedicht Erkenntnis im
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| Prozess ist. Der im Roman auftretende angesehene Dichter Thomas Kunst, „einer
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| der Granden ihrer Zeit“ (375), würdigt Carls gerade fertig gewordenes Gedicht,
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| das er auf der Staffelei entdeckt und lange liest, denn auch mit den Worten: „das
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| ist das Beste, was ich seit langem gelesen habe“ (376).
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| Carls hoher Anspruch an seine Gedichte ist auch dadurch zu erklären, dass er sich
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| an Vorbildern misst und theoretisch mit Dichtung beschäftigt. So haben ihn Rilkes
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| „<Briefe an einen jungen Dichter>“ (52) beeindruckt. Er liest und exzerpiert aus
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| den Gedichten von „Anna Achmatowa, René Char, Gertrud Colmar“ (33),
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| experimentiert mit Sprache in Anlehnung an Hans Arp (vgl. 196), beschäftigt sich
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| mit „Balzacs <Theorie des Gehens> […] und Benjamins <Passagen-Werk>“. (377)
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| und während seines Besuches in den USA mit dem Werk von W.H. Auden, der
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| „nicht zu seinen Favoriten [gehörte], aber lesen musste man das alles, für später,
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| für den eigenen Weg.“ (486)
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| In der rückblickenden Reflexion seines dichterischen Werdegangs stellt Carl fest:
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| „Gedichte schreiben zu müssen war ein unklares, gar nicht so übles, beinah
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| brauchbares Verhängnis. Jedenfalls im Vergleich zu anderen Süchten.“ (513) Der
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| Sucht-Charakter des Dichtens steht in einem ambivalenten Verhältnis zur Welt.
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| Einerseits stellt Carl fest, „dass die Welt um mich her viel zu bedeuten hatte, sie
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| war ein verrücktes Material, guter Stoff, und einen besseren würde es nicht
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| geben.“ (513) Die Welt liefert also das Material für die Dichtung, die andererseits
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| aus einer „Sehnsucht“ entsteht, nämlich der „Vorstellung, sich dorthin zu retten,
| |
| aus allem heraus in ein Jenseits der Poesie. […] als hätte man in Drachenblut
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| gebadet“ (513).
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