Lutz Seiler, Stern 111
Unterwegs zum Sehnsuchtsort – die Wanderung der Eltern (von Ilse Noy)
„Vielleicht sind meine Eltern verrückt geworden“ (290), denkt Carl, der zentrale Protagonist in „Stern 111“, als er von Inges und Walters Absicht erfährt, ihr Leben in Gera zurückzulassen und sich, einem geheimnisvollen Plan folgend, unmittelbar nach dem Fall der Mauer auf den Weg in die Bundesrepublik zu machen. Verstärkt wird das Unverständliche ihres Vorhabens dadurch, dass sie zwar nur mit dem Notdürftigsten in ihren Wanderrucksäcken ausgestattet sind, Walter aber dennoch ein schweres, Carl völlig unbekanntes Akkordeon mitschleppt. Hinzu kommt, dass die Eltern, die Carl bisher als Paar-Einheit erschienen waren, „ab Gießen getrennt“ (20) weiterziehen wollen, so, als wollten sie ihre Erziehungsmaxime, nach der sie immer „unabhängig voneinander zu demselben Ergebnis“ (vgl. 468) gekommen waren, nun buchstäblich in die Tat umsetzen. Da die Auswanderung Inges und Walters über große Strecken aus Carls Perspektive berichtet wird, übernehmen wir als Leser:Innen seine Irritation, die möglicherweise noch größer wird, wenn wir durch einen außenstehenden Erzähler zusätzlich zu den Briefen Inges an Carl viel detaillierter als dieser über die Erlebnisse, Gefühle und Gedanken der beiden Eltern auf ihrer Odyssee durch die BRD informiert werden. Die Frage nach dem ominösen „Ziel“, dem Sehnsuchtsort, der alle Strapazen und Demütigungen rechtfertigen könnte, bleibt zunächst offen.
Die Wanderbewegung von Inge und Walter bildet im Roman einen eigenen Erzählstrang. Sie setzt das Romangeschehen auf der Inhaltsebene in Gang und wird in formaler Hinsicht dadurch besonders betont, dass sie von Teil III bis zu Teil IX, dem Ende des Romans, jeweils das erste Kapitel bildet, so, als wollte sie der Auftakt und Anschub für Carls eigenen Weg sein, der in den darauffolgenden Kapiteln dargestellt wird und auf dem der Schwerpunkt des Romans liegt. Die Regelmäßigkeit, mit der die Elternerzählung den Hintergrund für Carls Entwicklung bildet, wird nur zwei Mal durchbrochen: in Teil III beschreibt ein zusätzliches Kapitel („Weltenergie“ 125 ff.) die Begegnung Inges mit Dr. Talib. Er stammt aus dem Libanon und ist einer der ersten Quartiergeber für Inge und Walter im Westen. Dr. Talibs philosophisch und biblisch konnotierten Ausführungen zur Bedeutung der Wanderschaft verweisen auf eigene Erfahrungen des Umherziehens und Flüchtens: Es sei das Welt- und Selbstverständnis des Wanderers, das ihn jede Art von Grenzen überschreiten lasse, seine Bereitschaft, Altes hinter sich zu lassen und Neuem zu begegnen, das den Wanderer ausmache.
Diesen Ausführungen folgend, mag der Anstoß zur Wanderung in der Sehnsucht nach einem verheißenen Land bestehen oder, woran der Romantitel denken lässt, der inneren Notwendigkeit, dem Stern der ‚Drei Weisen‘ nach Betlehem zu folgen. Die Bedeutung des Wanderns könnte aber auch in der Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit liegen, die Eingrenzungen überwindet, auch wenn dies Abschied und Trauer um Zurückgelassenes bedeutet, wie es in der Traurigkeit von Dr. Talibs Frau evident wird (vgl. 130 f.). In Teil VIII, dem vorletzten des Romans, drängt sich nach dem Auftaktkapitel der Erzählstrang der Auswanderung von Inge und Walter mit zwei weiteren Kapiteln („Alte Bekannte“ 413 ff., „Komm doch“ 442 ff.) mehr in den Vordergrund des Geschehens und leitet den letzten Teil ein, in dem Carl seine Eltern in den USA trifft, wo beide Erzählstränge zusammengeführt werden.
In diesem letzten Kapitel erfährt das „Elternrätsel“ (463), das Inges und Walters Auswanderung für Carl und den Leser darstellt, schließlich seine Auflösung. Die Eltern erzählen erstmals ihrem Sohn Carl aus ihrer Jugend. Wie Walter als hervorragender Akkordeonspieler und beide begeistert vom Rock‘n’Roll, Bill Haley auf einem Konzert in Berlin getroffen hatten, von diesem in die USA eingeladen worden waren, die Möglichkeit zur Flucht jedoch verpasst hatten. Diesem unverändert bestehenden Wunsch hätten sie jetzt nach dem Fall der Mauer, unbedingt nachgehen wollen.
Bei genauerem Hinsehen bleiben jedoch für den Leser ziemlich viele Fragen offen. Haben sich Inge und Walter je über die Ernsthaftigkeit von Haleys Einladung und die Realisierbarkeit Gedanken gemacht? Wie kann es sein, dass beide ihren jugendlichen Traum von einem künstlerischen Leben in den USA, wie in einer Zeitkapsel und, vergleichbar konserviert wie das Eingeweckte im Keller, unverändert bewahrt haben, um ihn nun, ihr gesamtes bisheriges Leben inklusive Carl zurücklassend, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, scheinbar ohne realistische Planung, in die Tat umzusetzen?
Wie kann es sein, dass ein Jugendtraum solche Macht besitzt, dass er Inge und Walter fast zwanghaft unbeirrt in die Auswanderung treibt, ihnen aber auch auf ihrer Odyssee die Kraft zum Durchhalten gibt? Wozu ist es ihnen wichtig, mittellos aufzubrechen, welche Qualifikationen glauben sie für einen Gelderwerb in der Bundesrepublik, eine Auswanderung in die USA und für ihr Leben dort zu besitzen? Wozu wollen sie ab Gießen getrennt weiterreisen, welche Chancen glauben sie damit zu vergrößern? Welche Bedeutung hat das Akkordeon, das Walter so viele Jahre lang nicht mehr gespielt hat? Was suchen beide nach Bill Haleys Tod in den USA? Warum würde eine Einweihung von Carl in ihren Plan dessen Durchführung gefährden und lässt sie daher sogar die Beziehung zu ihm auf eine harte Probe stellen?
Umso unverständlicher und als irrationale Idee erscheint die Auswanderung zunächst, wenn man sie vor dem Hintergrund des Lebens der Familie in Gera betrachtet, das überaus geregelt und mit den allmorgendlichen Zettelnachrichten Inges an Carl überorganisiert erscheint. Zwar wird von Inge sorgfältig Lebensmittelvorrat eingeweckt, es ist aber nicht die Rede von gemeinsamen, liebevoll zubereiteten Mahlzeiten im Kreis der Familie. Fast scheint es, als sei, ähnlich wie bei Inges Arbeit, der Entwicklung von Lebensmittel-Ersatzstoffen, auch zuhause das Essen vorrangig auf Nahrungsaufnahme reduziert. Wenn der kleine Carl sich in der Schule oder beim Spielen in Schwierigkeiten bringt, möchte man das fast als Protest gegen dieses reibungslose Funktionieren unter Inges Lieblingsbegriffen „sukzessive“ und „operativ“ (vgl. 159) verstehen. Carl erfährt sich ausgeschlossen aus der Gemeinsamkeit des ihm wie ein ge- und verschlossener Block gegenüberstehenden Elternpaars. Wärme und Nähe, erinnert sich Carl, entstehen nur, wenn er mit Walter alleine sonntags in der Garage am Auto, einem Shiguli, arbeitet. In der Verbundenheit mit dem Vater werden die Familienwerte überliefert: Es ist der Wert eines guten alten Holzbretts, für das Walter das einzige Lob von seinem Vater erhielt (vgl. 373), es steht für den Wert von Handwerk und gutem Werkzeug und davon „die Arbeit zu sehen“ (vgl. 18).
Offensichtlich, ohne dass sich Carl erinnern kann, hat es jedoch auch eine Zeit gegeben, als die junge Familie sich als erste Anschaffung das Kofferradio „Stern 111“ gekauft hatte und man gemeinsam singend und tanzend auf dem Nachhauseweg von der Arbeit West-Musik hörte, zusammen und glücklich mit dem Kleinkind Carl im Kinderwagen, das sich dabei als Beatles-Fan entpuppte (vgl. 496). Für Walter, der zu dieser Zeit bereits auf seinen Herzenswunsch, Musik zu studieren, verzichtet hatte, scheint ebenso wie für Inge das Glück in dieser jungen Familie ausgereicht zu haben für ein lebendiges Leben. Es wird nicht erzählt und es ist nur zu vermuten, dass es in der Folgezeit die allgemein schwierigen, restriktiven Lebensumstände gewesen sind, die es Inge und Walter unmöglich gemacht haben, diese Freude an West-Musik und Tanz und ihre ausgelassene Lebendigkeit in den Alltag der Familie zu integrieren. Und weil ihre gegenseitigen Schuldgefühle über die verpasste Flucht zu groß (vgl. 470 ff.), ihre Traurigkeit über die verpasste Chance zu schmerzhaft sind, müssen sie alles, was sie daran erinnert, zusammen mit ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben begraben, sodass sich das Leben, das sie schließlich führen, wie ein gefühlsarmes, freudlos ersticktes, unzureichendes Ersatzleben anfühlt.
Wenn tatsächlich in Inge und Walter die von Dr. Talib gepriesenen Wanderer zu erkennen sind, dann werden alle – unbeantworteten - Fragen nach der praktischen Durchführbarkeit der Ausreise gegenstandslos. Denn wenn die Lebensaufgabe des Wanderers in der Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit besteht, dann haben praktische Einwände, die Inge und Walter als junge Menschen letztlich vor der Ausreise hatten zurückschrecken lassen, kein Gewicht mehr.
Von Anfang an hatte ein gemeinsames Rhythmusgefühl das Paar in Bezug auf Musik und Tanz verbunden (vgl. 477). Jetzt macht es dieser offensichtlich weit darüber hinausgehende Gleichklang möglich, dass beide anknüpfen können an die alte, ungebrochene Sehnsucht nach Lebendigkeit. Nach so vielen abstumpfenden Jahren und obwohl sie eigentlich viel zu alt dafür sind, ergreifen sie - ohne diesmal lange das Für und Wider zu überlegen - die Gelegenheit, um ihren alten Jugendtraum von Freiheit und Kreativität für sich zu verwirklichen, koste es, was es wolle. Es ist bezeichnend, dass Walter statt „nützlicher“ Utensilien das Akkordeon mit auf die Wanderung nimmt, dass die USA das ‚verheißene Land‘ bleiben, auch wenn der „vernünftige“ Anlass mit Bill Haleys Tod nicht mehr existiert. Vielleicht aber greift Dr. Talibs Beschreibung des Wanderers, der immer weiterzieht und nirgends eine feste Heimat findet, in Bezug auf Inge und Walter zu kurz. Sie müssen letztlich weder Carl noch ihre Heimat verlassen, sondern ihre Wanderung wird sie - so das offene Ende - vermutlich wieder nach Gera zurückführen in die dann eigene alte Wohnung. Diese Rückkehr erfolgt jedoch in all der Freiheit, die sie sich als Wanderer während ihrer langen Wanderung erobert haben, bei der es nur scheinbar um das Erreichen eines anderen geografischen Ortes ging.