Silvia Bovenschen, Nur Mut
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Inhalt
Die Handlung des 2013 erschienenen relativ kurzen Romans erstreckt sich über etwa acht Stunden eines Tages und spielt in einer an einem Fluss gelegenen Villa. In diesem großbürgerlichen Ambiente leben vier ältere Damen (die Hausbesitzerin Charlotte und ihre drei Freundinnen Johanna, Nadine und Leonie), versorgt von der Haushälterin Janina. Vorübergehend wohnt außerdem die Enkelin Dörte im Haus, die am Tag des Geschehens Besuch von ihrem Freund Flocke hat. Die ersten drei der insgesamt sechs Kapitel zeigen die Ereignisse des Vormittags und der Mittagszeit, zum Beispiel die Vorbereitung des gemeinsamen Mittagessens, überwiegend die Gespräche der Hausbewohner in den verschiedenen Räumen. Nadine verlässt das Haus in der erklärten Absicht, beim Konditor Kuchen für den am Nachmittag erwarteten Besuch von Charlottes Finanzberater zu besorgen, sucht aber in Wirklichkeit ihren Arzt auf, von dem sie über den erneuten Ausbruch ihrer Krebserkrankung informiert wird. Nach Hause zurückgekehrt lenkt sie sich mit dem TV-Programm ab und nimmt daher auch nicht am Mittagessen der Freundinnen teil. Während sich Leonie nach dem Essen in ihr Zimmer zurückzieht, unterhalten sich (4. Kapitel) Charlotte, Johanna und Nadine beim Tee im Salon. Am späten Nachmittag (5. Kapitel) empfängt Charlotte ihren Finanzberater Dr. Theodor von Rungholt in der Bibliothek, aus der ihre Freundinnen im Salon nach einer Weile zunehmend laute Geräusche wie Schreien und Poltern vernehmen. Die Erklärung dafür ist, dass Charlotte den Mann mit dem Schürhaken erschlagen hat, nachdem dieser ihr mitgeteilt hat, dass er ihr gesamtes Vermögen veruntreut hat, so dass sie nun mittellos dasteht. Diese Mitteilung löst eine derartige Verzweiflung, Befreiung und Enthemmung aller drei Frauen aus, dass sie das Mobiliar und die Kunstschätze des Salons verwüsten, sie "feiern […] eine Art Abrissparty des Lebens" [1]. Danach sollen sie das Haus sorgfältig verschlossen haben und mit dem alten Benz auf und davon gefahren sein. Dies jedenfalls erfährt der Leser in der die Binnengeschichte umschließenden Rahmenhandlung, die im 3. Abschnitt genauer untersucht wird. Im 6. und letzten Kapitel der Binnenerzählung tauchen vier merkwürdige Gäste auf, nämlich „ein weißer Schwan, ein sehr alter Hund, ein rundlicher Herr und ein kleines Mädchen“ (S. 133)[2]. Diese Figuren sind vorher einzeln von den alten Frauen außerhalb des Hauses gesehen und bemerkt worden, ihnen also jeweils zugeordnet. Unter der Regie des kleinen Mädchens findet in der Folge eine Art Gerichtsverhandlung oder auch jüngstes Gericht über das Leben der Frauen statt, die mit der Aufforderung des Schwans „Nur Mut! […] Zeit zum Aufbruch. Macht euch frisch, […] jetzt ist die Zeit zu gehen…“ (S. 151f.) endet und damit durch die Nennung des Titels deutlich den Schlusspunkt der Binnenerzählung markiert.
Figuren
Charlotte
Als einzige der alten Frauen ist Charlotte, die in gewissem Sinne als Hauptfigur des Romans gesehen werden kann, in die oben bereits erwähnte Rahmenerzählung eingebunden. Sie wird dort als Großtante des Binnenerzählers familiär eingeordnet. Damit erhält die Erzählung über sie die historische Anbindung an einen Rahmen, der in dem Roman den Anspruch auf Realität und Verortung der Geschichte in Familienzusammenhängen aufrecht erhält. Wir erfahren über Charlotte, dass sie die Besitzerin des Hauses ist, in dem die Frauen leben, eine „hochgewachsene strenge Erscheinung. Imposant im Alter, in ihrer Jugend gravitätisch schön, [...] Aus reichem Hause kommend hatte sie von ihrem Mann zusätzlich ein beträchtliches Vermögen geerbt.“ (S. 8) Sie hat im Alter drei Freundinnen zu sich in die „große weiße Villa an einem Fluss“ (S. 8) geholt. Charlotte wird also schon im Rahmen als eine beeindruckende Persönlichkeit vorgestellt, die deutlich die Autorität im Haus hat. Ihre Enkelin Dörte charakterisiert sie mit dem Hinweis, dass sie die Villa, die Knete und das Sagen habe. (vgl. S. 20) Wir erfahren, dass sie Professorin für Paläontologie war und ein „Wissenschaftsfreak“ (S. 20) ist. Sie ist verwitwet, übernimmt die Verantwortung für Finanzierung und Wohlergehen der Hausbewohnerinnen und sorgt für das „Gerüst des Gemeinschaftslebens, [...] die geordneten Abläufe, [...] die alltäglichen Routinen, das unausgesprochene Regelwerk der Chefin.“ (S. 56f.) Zudem wacht sie über den Umgang der Frauen miteinander, weist z.B. Johanna auf ernste, aber sanfte Weise darauf hin, Nadine „nicht so hart anzugehen und auch die kleinen Spitzen gegen ihre Modeallüren zu unterlassen“ (S. 57), weil sie verstanden hat, dass Nadine sich vor den schlechten Nachrichten über ihre Erkrankung fürchtet. In ihrem Bestreben, eine freundliche Atmosphäre für das Miteinander im Haus zu schaffen, ist sie bei aller Rationalität doch fürsorglich. Sie betritt z.B. Johannas Zimmer leise, und berührt „sanft ihre Schulter“ (S. 18), weil sie wegen der Kopfhörer ihr Anklopfen nicht gehört hat, um darauf hinzuweisen, dass „Johanna die Ruferei irgendwann einstellen oder wenigstens reduzieren“ (S. 19) könnte, da sie alle Hausbewohnerinnen stört. Diese Fürsorge zeigt sich auch gegenüber Leonie, die sie „mit liebendem Zwang in die Villa geholt hatte“ (S. 32), um sie aus ihrer gewollten Einsamkeit in einer verdunkelten Wohnung herauszuholen. Gegenüber Dörte und Flocke, deren hoffnungslos verliebtem Freund, erweist sie sich als hellsichtige Person, die auf Anhieb erkennt, in welch blinde Abhängigkeit der Junge geraten ist und wie sehr ihre Enkelin diese Situation ausnutzt. Sie durchschaut das freche und egoistische Gebaren des Mädchens und analysiert es im Zusammenhang der Familiengeschichte, an der sie selbst beteiligt ist, als Ergebnis mangelnder Zuwendung. Ihre Klarsichtigkeit führt dazu, dass sie in natürlicher Autorität das Heft in der Hand hat, sich mit großer Wachheit durch die Räume der Villa bewegt und auf ihre Mitmenschen zugeht. Ihrer Enkelin setzt sie Grenzen und stellt Forderungen, die diese entgegen ihrer sonstigen Aufmüpfigkeit mit den Worten „Alles roger“ (S .21) akzeptiert. Auch ihre eindeutigen Verbote, z. B. fettige Pizza weder in der Bibliothek noch im Salon zu essen, werden trotz des beinahe autoritären Tones von Dörte befolgt. In der Gruppe der Frauen, die mit „ängstlichen Tieren“ (S. 105) verglichen werden, wirkt sie als Leitfigur. Dabei wahrt sie in allen Dingen Form und Haltung. Das Zimmer ihrer alle Formen missachtenden Enkelin betritt sie nur nach vorherigem Anklopfen und verliert keinen Ton über die höchst seltsame Dekoration, mit der das Mädchen das sonst gediegene Interieur verunstaltet hat. Die Forderung nach Haltung gilt auch für die anderen Bewohnerinnen der Villa. „Nimm dich zusammen: Disziplin, Haltung, Contenance“ (S. 32) verlangt sie von Leonie, die in ihrer Trauer versinkt. Ihre Autorität hat ein großbürgerliches Format, das sich auch in ihrem kulturellen Anspruch äußert. Sie besucht mit Leonie die Oper und anschließend ein Restaurant, das als „Traditionshaus“ (S. 27) ihren Vorstellungen von gehobener Küche genügt. Die in ein schlechtes Milieu abgerutschte Enkelin kann sie im örtlichen Gymnasium unterbringen, weil sie mit dem Schulleiter befreundet ist. Dieser anspruchsvolle Stil entspricht ihrem Lebenslauf als Professorin mit einer erfolgreichen Karriere. Dabei ist sie durchaus von Selbstreflexion geprägt und sieht die Situation der alten Frauen in der Villa mit selbstironischer Distanz. „Aber wahrscheinlich sind wir alle hier in der Villa auf diese oder jene Weise ermüdend. Erstarrt in unseren Schrullen.“ (S. 33) Das Nachdenken über Leben und Tod führt bei ihr zu selbstkritischen, auch bös-sarkastischen Einsichten über die Familie ihres Sohnes, die sie als geldgierig und undankbar darstellt, ungeduldig darauf bedacht, möglichst bald und viel von dem Erbe einzustecken, das sie von Charlotte erhoffen. Sie sind von der Angst besessen, Charlotte könnte vor ihrem Ableben noch ihr ganzes Geld verprassen. „Die würden mich, ohne mit der Wimper zu zucken, im Falle einer Demenz im kostengünstigsten Pflegeheim verenden lassen“ (S. 78) erklärt Charlotte sarkastisch. Aber sie erkennt auch klar ihren Anteil an der Entwicklung ihres Sohnes, den sie „zu einem Spießer verkrümmt“ (S. 78f.) sieht, der ihr „fremd geworden“ ist; sie weiß sehr wohl, dass sie, „als er jung war“, sich hätte „mehr um ihn kümmern müssen“, aber sie „war zu sehr mit [...] Wissenschaft beschäftigt.“ (S. 79) Gleiches gilt für ihre Enkelin Dörte, deren „künstliche Idiotensprache ebenso wie ihr idiotisches Benehmen“ sie als „Symptome einer Luxusverwahrlosung“ (S. 79) einordnet. Sie versteht sehr genau, dass dem Mädchen Zuneigung und liebevolle Begleitung fehlen, die sie aber meint, nicht geben zu können. „Man müsste sie mögen wollen. Aber auch mein Wollen kennt Grenzen.“ (S. 79) Man könnte dies schon als einen ersten Schritt im Loslassen von den Pflichten, der Verantwortung und Selbstdisziplin sehen, denen sich Charlotte ihr Leben lang unterworfen hat. Sich nicht in der Lage zu sehen, der Enkelin zu geben, was sie wirklich braucht, ist schon ein Hinweis auf die Veränderung Charlottes, die die festgefügte Form, in die sie sich ihr Leben lang gezwängt hat, aufbricht und sich endlich zu einer Güte gegen sich selber befreit, die sie vorher nicht gekannt hat. Als Besitzerin des Hauses und einer erheblichen Erbschaft hat sich Charlotte über lange Jahre auf die Vermögensverwaltung konzentriert und vertrauensvoll mit ihrem Finanzberater Rungholt zusammengearbeitet. Dabei hat sie allerdings in den letzten Jahren wegen großer anderer Belastungen dessen Aktivitäten weniger genau verfolgt. Nun erkennt sie mit Sorge die „Unstimmigkeiten in den Finanzen“ (S. 75), die sich als Betrug erweisen und zum finanziellen Ruin Charlottes und ihrer Gefährtinnen führen. „Der Kerl hat mein gesamtes Vermögen veruntreut, […] meine Unterschrift mehrfach gefälscht, mit den übelsten Tricks Unsummen in die eigene Tasche gewirtschaftet“ (S. 114f.). Das hat er ihr „kalt ins Gesicht gesagt. Da war ein Schlag fällig und nötig“ (S. 116) berichtet Charlotte ihren Freundinnen. Sie erschlägt den Mann, der sie und die Mitbewohnerinnen um ihre Lebensgrundlage gebracht hat, mit einem Schürhaken, gezielt und kühl geplant, nicht im Affekt. Sie nennt es eine „wohlüberlegte, böse, geplante Tat“ (S. 118), weil Rungholt mit seinem hinterlistigen Betrug und dem „hämisch vorgetragenen Geständnis“ (S. 119) ihre Menschlichkeit verbraucht habe. Dabei wird die Tat gleichsam weihevoll untermalt durch das Läuten der „tieftönenden Glocken des Doms zur sechsten Stunde“ (S. 119). Wegen ihres Handelns will Charlotte nur noch „im Düsteren […ihr] Wohlbehagen“ (S. 120) finden. Sie sieht sich als „eine Ausgestoßene“, die sich selbst „aus allen moralischen Verabredungen“ (S. 120), die sie auch für sich akzeptiert hatte, verabschiedet hat. Die Abgründigkeit ihrer Tat entspricht der Größe, zu der sie sich in ihrem Leben entwickelt hat, und sie überantwortet sich selbst „dem ägyptischen Gott der Auflösung der Finsternis und des Chaos“. (S. 120) Der Erzähler unterbricht nach dieser Wendung in mythische Größe zwei Absätze nur mit dem Wort „Pause“ (S. 120), was den Leser dazu veranlassen kann, die gesamte Überhöhung von Charlottes Tat in historische und mythische Größe als ironische Distanzierung zu begreifen. Zwar hat sie sich vom Korsett ihrer stets formvollendeten Haltung befreit und sagt ohne Reue von sich, dass sie noch nie so milde gegen sich selbst gestimmt gewesen und ganz bei sich angekommen sei - ein Gefühl, das sie nicht kannte (vgl. S. 117). In ihrer Selbsterkenntnis wird klar, dass sie sich selber nie wirklich geliebt hat, sie hat „immer nur getan, was getan werden musste, was ein klug gewähltes Ziel erforderlich machte“ (S. 117), so habe man sie erzogen. Aber sie sieht die Befreiung aus den Zwängen der Konvention auch als eine Richtungslosigkeit, der ihr Leben nun ausgeliefert ist. „Es gibt kein Ziel mehr. […] Jetzt bin ich für andere nur noch gefährlich.“ (S. 117) Die Zerstörung der Villa mit ihrem formvollendeten Lebensstil und ihren ästhetischen Schätzen sieht Charlotte als einen Moment der Explosion, in dem sie sich zum ersten Mal ganz lebendig und gegenwärtig fühlt. Sie erkennt, dass sie nie wirklich im Augenblick lebendig war, sondern immer nur „in den Figuren der Vorwegnahme“ (S. 129) gelebt hat. Charlottes Zerstörungswerk und ihre Selbsterkenntnis wird bedeutungsvoll überhöht, indem das von ihr verursachte Loch an der Wand mit dem „Sonnenemblem von Ludwig XIV“ (S. 129) verglichen wird. Von den mythischen Figuren ist Charlotte offenbar der Schwan zugeordnet, „seit alters eines der edelsten Tiere“ (S. 133), wie dieser von sich selbst sagt. Er verweist auf die Assoziationen, die von der Antike bis in die Neuzeit mit ihm verbunden sind und setzt sich als eine Art Alter Ego mit Charlottes Verfehlungen und missglückten Versuchen auseinander, das Leben als „Versuchsanordnung“ (S. 147) und „ständige Selbstüberprüfung unter dem Diktat der Pflichtgebote“ (S. 148) zu leben. Die Einsicht, dass sie weder sich selbst noch andere Menschen wirklich geliebt hat, ist als Resümee im Rückblick auf ein ganzes Leben, von dem Charlotte gedacht hatte, dass sie es eigentlich großartig im Griff gehabt habe, höchst bedauerlich. Dennoch verliert sie auch im Angesicht des Todes nicht ihre Haltung. Sie „stand aufrecht – erhobenes Haupt, vorgerecktes Kinn -, so wie sie gestanden hatte mit dem Schürhaken in der Hand“. (S. 151)