Annie Ernaux, Die Jahre

Aus Literarische Altersbilder
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Annie Ernaux schildert in ihrer „unpersönlichen Autobiographie“ (253)[1] das Leben der Protagonistin im Frankreich der Jahre 1941 bis 2006. Die Unpersönlichkeit bzw. Überpersönlichkeit dieser Autobiographie bewirkt, dass sich der Leser in die Darstellung des geschilderten Lebens und der geschilderten Zeit mit einbezogen fühlt. Eigene Erinnerungen werden heraufbeschworen, die Setzung des „Wir“ und des „Man“ fordert im Duktus der Allgemeingültigkeit Zustimmung, aber auch Widerspruch und Abgrenzung heraus. So sind die Beiträge der einzelnen TeilnehmerInnen der Projektgruppe individuelle Reaktionen auf Ernaux‘ Text. Es sind zum Einen theoretische Auseinandersetzungen damit, die unter dem Namen der jeweiligen AutorIn erscheinen, zum Andern aber auch sehr persönliche autobiografische, aus diesem Grund anonym veröffentlichte, Erinnerungen einzelner Projektgruppenmitglieder, zu denen sie der Ernaux-Text animiert hat.

Analytische Beiträge

Das Bild des Alter(n)s

Annie Ernaux‘ von ihr selbst so genannte „unpersönliche Autobiografie“ (253) mit dem Titel „Die Jahre“ behandelt den Zeitraum von 1940, dem Geburtsjahr der Autorin, bis zum Jahr 2006. Dargestellt werden 66 Jahre des Lebens einer Frau. Dabei liegt es nahe, dass die verschiedenen Lebensalter und das Altern als Prozess vor dem Hintergrund ihrer Zeit zum Thema werden.

Die Erinnerungen an Kindheit und frühe Jugend werden ausdrücklich als unsicher gekennzeichnet. So heißt es etwa „Schwer zu sagen, was sie denkt, wovon sie träumt, […]“ (34) und viele Aussagen beginnen mit „Vielleicht ist sie “ […] (35). Schon als Sechzehnjährige stellt sie rückblickend fest: „Wegen des schlechten Erinnerungsvermögens […] ist ihre Kindheit für sie ein Stummfilm in Farbe" (68). Die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen wirken distanziert, die Kinder leben in ihrer eigenen Welt, merken aber, dass „ihnen die namenlose Zeit, in der sie aufwuchsen, blass vor(kam)“ (23) im Vergleich zur ereignisreichen Vergangenheit, von der die Erwachsenen untereinander sprechen. Der Blick ist durch die Erwachsenen nach vorne gerichtet, „In den Reden hieß es, wir wären die Zukunft.“ (26) Allerdings können sich die Kinder von dieser keine Vorstellung machen. Das Ziel ist jedoch klar: „Sicher ist nur, dass sie schnell erwachsen werden will.“ (36) Denn die Gegenwart wird als endlose Wiederholung empfunden: „Gefangen in der unendlich langsamen Schulzeit […] hatten die […] Jugendlichen […] den Eindruck, dass nie etwas Bedeutungsvolles passierte.“ (62f.) Erwachsene und Kinder bzw. Jugendliche leben in getrennten Welten, sie „hörten den Gesprächen zu, ohne selbst etwas zu sagen“ (59).

Vergleicht man das von Ernaux skizzierte Bild der Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern mit dem heutigen Deutschland, so kann man wohl in unserer Zeit signifikante Unterschiede feststellen. Gerade bei Essen im Familienkreis, ein Motiv, das im Text immer wieder vorkommt, fällt auf, dass Essen im großen Familienkreis in Deutschland nicht dieselbe Tradition haben wie in Frankreich. In Deutschland war gemeinsames Essen in der Kleinfamilie üblich, bei dem die Kinder brav und still am Tisch zu sitzen hatten. Im Unterschied dazu stehen Kinder heute häufig im Mittelpunkt, mindestens aber werden sie in die Kommunikation einbezogen, und es wird ihnen erlaubt, sich von der Tafel zu entfernen, wenn es ihnen langweilig wird.

Erst nach dem Schulabschluss ändert sich in Ernaux‘ Werk das Lebensgefühl der Jugendlichen grundlegend. In der allmählichen Ablösung vom Elternhaus und durch die nun gewonnenen Freiheiten entsteht das „Gefühl einer absoluten, flüchtigen Jugend, ganz so, als würde man am Ende der Ferien sterben“ (74). Mit dem Näherrücken des vorher so heiß ersehnten Lebens als Erwachsener verändert sich die Wahrnehmung des eigenen Alters: „Angesichts der für uns vorgesehenen Zukunft wären wir gern noch etwas länger jung geblieben.“ (80)

Mit Anfang 20 „beteiligte man sich bereitwillig und ein wenig unbeholfen an den Gesprächen“ der Erwachsenen, die dabei gleichzeitig als der Vergangenheit angehörig empfunden werden. „Man hörte sich höflich ihre Meinungen und Ratschläge an, ohne etwas darauf zu geben. Man selbst würde nie alt werden.“ (123) Das Ende der Ausbildung bzw. des Studiums und die Einordnung ins Berufsleben führen zu einem neuen Bewusstsein des eigenen Alters: „[…] weil das Gefühl, jung zu sein, verflog […] war man im Handumdrehen verheiratet und wurde Eltern. Das […] beschleunigte das Älterwerden. […] Man war von heute auf morgen erwachsen geworden“ (95).

Hinsichtlich der kurzen Spanne zwischen 1963 und 1973, in der bei Ernaux der Übergang von der Jugend in das Leben eines Erwachsenen dargestellt wird, kann man in Deutschland auch schon zur beschriebenen Zeit und erst recht heute wesentliche Unterschiede feststellen. Angesichts der großen Vielfalt möglicher Lebensentwürfe ist das Erwachsen-Sein schon lange nicht mehr an Elternschaft gekoppelt. Durch längere Ausbildungszeiten, ausgedehnte Auslandsaufenthalte, oft spätere finanzielle Selbständigkeit und die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln werden Spielräume für individuelle Prozesse des Erwachsenwerdens eröffnet, Elternschaft, in der Regel später, ist nur eine Möglichkeit von vielen.

Die Lebensmitte der Protagonistin, also das Alter zwischen Anfang 30 und 65 bzw. bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben, wird als „alterslos“ (128) erlebt. „Je älter man wurde, desto altersloser fühlte man sich. Wenn <Only you> […] lief […], überkam uns ein jugendliches Wohlgefühl, die Gegenwart schien bis in unsere Zwanziger zurückzureichen.“ (182) Der wehmütige Rückblick auf die Jugend lässt diese positiver erscheinen, als sie damals wirklich erlebt wurde: „[…] sieht sie ihre Jugend als einen unendlichen Raum voller Licht [und…] kann nicht fassen, dass diese Welt hinter ihr liegt.“ (148) In dem Verhältnis zur eigenen Jugend kündigt sich zugleich die Angst vor dem Alter an. „Die Hoffnung verlagerte sich von den Dingen, die man besitzen wollte, auf die Instandhaltung des eigenen Körpers und das Streben nach ewiger Jugend.“ (160) Dieses Streben ist durchaus von Erfolg gekrönt: „[…] man war schöner und gesünder als je zuvor, und die Vorstellung krank zu werden und zu sterben, wurde immer absurder.“ (231) Trotzdem wächst die Angst vor dem Alter: „[…] sie weiß um die zerbrechliche Schönheit ihres Alters. Sie hat Angst vor dem Älterwerden […]“ (164). Gleichzeitig fehlt es an konkreten, insbesondere positiven Vorstellungen des eigenen Alters. Als Zweiundfünfzigjährige stellt sie sich vor, „wie sie in zehn oder fünfzehn Jahren hier steht […]. Diese Frau kommt ihr genauso unwirklich vor, wie ihr mit fünfundzwanzig die Vierzigjährige vorkam […]“ (186). „Sie denkt nicht an das eigene Alter, sondern lebt in einer gewohnheitsmäßigen Verleugnung […] sie fühlt sich nicht anders als Frauen mit fünfundvierzig oder fünfzig – eine Illusion“ (246), wie der Kontakt mit jüngeren Menschen zeigt, die in ihr die „alte Frau“ sehen. Das Älterwerden und das Alter werden der Protagonistin auch deutlich im Verhältnis zum Konsum, speziell im Ungang mit der Technik. „Wer nichts mehr anschaffte, war alt. […] Unser Verfall und die Welt bewegten sich in entgegengesetzte Richtungen.“ (232)

Die Darstellung dieser Lebensphase scheint heute unverändert aktuell. Die Bemühungen um Gesundheit, Fitness und allgemein Jugendlichkeit haben eher zu- als abgenommen und sind durchaus erfolgreich; unsere Eltern wirkten mit fünfzig älter als Fünfzigjährige heute durchschnittlich wirken, weil sie sich in Kleidung, Auftreten und vor allem Lebensweise an der Jugend orientieren. Das Konzept des aktiven Alterns[2] trägt hierzu entscheidend bei. Geändert hat sich außerdem, dass sich heute durch die ständig zunehmende Lebenserwartung das hohe Alter[3] mit seiner Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit weiter nach hinten verschiebt. Im Alter von 65 Jahren, in dem Ernaux ihr Werk fertigstellte, brauchen wir uns noch nicht direkt damit konfrontiert zu fühlen, wir haben etliche Jahre gewonnen für einen neuen Lebensabschnitt des aktiven Alters, für den wir viele positive Leitbilder haben. In den Medien werden häufig Meldungen von den 70., 80. und 90. Geburtstagen Prominenter verbreitet. Die eigenen Eltern vermitteln konkrete Vorstellungen vom Alter, weil sie länger leben als die der Protagonistin, die ihre Mutter mit 46 verliert, ihren Vater sogar schon mit 26 Jahren (vgl. 249). Allerdings bleiben denen, deren Eltern alt genug werden, auch die schlimmen Erfahrungen des hohen Alters, vor dem wir unverändert ratlos und ängstlich stehen, nicht erspart.

Mit zunehmendem Alter denkt die Protagonistin auch immer häufiger an das Alter und schwankt zwischen widersprüchlichen Erklärungen; mal heißt es, sie hat […] jetzt das Gefühl, sich nicht mehr zu verändern, während die Welt um sie rast“ (246), dann aber sieht sie den Grund der Veränderungen nicht in der Welt, sondern in ihrem eigenen Gefühl: „Im Grunde hat sich nur ihr Zeitgefühl verändert, und die Wahrnehmung ihrer selbst in der Zeit. […] Ihr ist das Gefühl für die Zukunft abhandengekommen, dieser unerschöpfliche Vorrat an Zeit […]“ (248f.). Vom Leben der Menschen im hohen Alter hat sie offenbar recht deutliche Vorstellungen und durch diese verursachte Ängste: „[…] Angst, dass ihr Erleben im Alter wieder so nebelhaft und stumm sein wird wie in ihren ersten Lebensjahren […]“ (250) und „[…]sie wie andere Hochbetagte in einer Betrachtung der Welt vor sich hindämmern wird […]“ (251). In diesen Überlegungen zeigt sich sehr deutlich der Topos der Altersklage[4], während die klassischen Topoi des Alterslobs und des Altersspotts in Ernaux‘ Text keine Rolle spielen. Sie setzt sich „mit den subjektiven Erfahrungen des Altseins und Altwerdens, […] und den Bildungsprozessen älterer Menschen auseinander, in denen Selbst- und Weltverhältnisse noch einmal grundlegend verändert werden“[5] .

(Monika Hartkopf)


Man-o-man: Zur Perspektive

Einspruch: Apologie des Uneigentlichen

Bilder und Wörter

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Anmerkungen