Lutz Seiler, Stern 111

Aus Literarische Altersbilder

Im Wintersemester 2023/24 hat sich die Projektgruppe "Literarische Bilder unserer Zeit" mit dem Roman "Stern 111" von Lutz Seiler beschäftigt. Dabei sind folgende Texte entstanden:


Unterwegs zum Sehnsuchtsort – die Wanderung der Eltern (von Ilse Noy)

„Vielleicht sind meine Eltern verrückt geworden“ (290), denkt Carl, der zentrale Protagonist in „Stern 111“, als er von Inges und Walters Absicht erfährt, ihr Leben in Gera zurückzulassen und sich, einem geheimnisvollen Plan folgend, unmittelbar nach dem Fall der Mauer auf den Weg in die Bundesrepublik zu machen. Verstärkt wird das Unverständliche ihres Vorhabens dadurch, dass sie zwar nur mit dem Notdürftigsten in ihren Wanderrucksäcken ausgestattet sind, Walter aber dennoch ein schweres, Carl völlig unbekanntes Akkordeon mitschleppt. Hinzu kommt, dass die Eltern, die Carl bisher als Paar-Einheit erschienen waren, „ab Gießen getrennt“ (20) weiterziehen wollen, so, als wollten sie ihre Erziehungsmaxime, nach der sie immer „unabhängig voneinander zu demselben Ergebnis“ (vgl. 468) gekommen waren, nun buchstäblich in die Tat umsetzen. Da die Auswanderung Inges und Walters über große Strecken aus Carls Perspektive berichtet wird, übernehmen wir als Leser:Innen seine Irritation, die möglicherweise noch größer wird, wenn wir durch einen außenstehenden Erzähler zusätzlich zu den Briefen Inges an Carl viel detaillierter als dieser über die Erlebnisse, Gefühle und Gedanken der beiden Eltern auf ihrer Odyssee durch die BRD informiert werden. Die Frage nach dem ominösen „Ziel“, dem Sehnsuchtsort, der alle Strapazen und Demütigungen rechtfertigen könnte, bleibt zunächst offen.

Die Wanderbewegung von Inge und Walter bildet im Roman einen eigenen Erzählstrang. Sie setzt das Romangeschehen auf der Inhaltsebene in Gang und wird in formaler Hinsicht dadurch besonders betont, dass sie von Teil III bis zu Teil IX, dem Ende des Romans, jeweils das erste Kapitel bildet, so, als wollte sie der Auftakt und Anschub für Carls eigenen Weg sein, der in den darauffolgenden Kapiteln dargestellt wird und auf dem der Schwerpunkt des Romans liegt. Die Regelmäßigkeit, mit der die Elternerzählung den Hintergrund für Carls Entwicklung bildet, wird nur zwei Mal durchbrochen: in Teil III beschreibt ein zusätzliches Kapitel („Weltenergie“ 125 ff.) die Begegnung Inges mit Dr. Talib. Er stammt aus dem Libanon und ist einer der ersten Quartiergeber für Inge und Walter im Westen. Dr. Talibs philosophisch und biblisch konnotierten Ausführungen zur Bedeutung der Wanderschaft verweisen auf eigene Erfahrungen des Umherziehens und Flüchtens: Es sei das Welt- und Selbstverständnis des Wanderers, das ihn jede Art von Grenzen überschreiten lasse, seine Bereitschaft, Altes hinter sich zu lassen und Neuem zu begegnen, das den Wanderer ausmache.

Diesen Ausführungen folgend, mag der Anstoß zur Wanderung in der Sehnsucht nach einem verheißenen Land bestehen oder, woran der Romantitel denken lässt, der inneren Notwendigkeit, dem Stern der ‚Drei Weisen‘ nach Betlehem zu folgen. Die Bedeutung des Wanderns könnte aber auch in der Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit liegen, die Eingrenzungen überwindet, auch wenn dies Abschied und Trauer um Zurückgelassenes bedeutet, wie es in der Traurigkeit von Dr. Talibs Frau evident wird (vgl. 130 f.). In Teil VIII, dem vorletzten des Romans, drängt sich nach dem Auftaktkapitel der Erzählstrang der Auswanderung von Inge und Walter mit zwei weiteren Kapiteln („Alte Bekannte“ 413 ff., „Komm doch“ 442 ff.) mehr in den Vordergrund des Geschehens und leitet den letzten Teil ein, in dem Carl seine Eltern in den USA trifft, wo beide Erzählstränge zusammengeführt werden.

In diesem letzten Kapitel erfährt das „Elternrätsel“ (463), das Inges und Walters Auswanderung für Carl und den Leser darstellt, schließlich seine Auflösung. Die Eltern erzählen erstmals ihrem Sohn Carl aus ihrer Jugend. Wie Walter als hervorragender Akkordeonspieler und beide begeistert vom Rock‘n’Roll, Bill Haley auf einem Konzert in Berlin getroffen hatten, von diesem in die USA eingeladen worden waren, die Möglichkeit zur Flucht jedoch verpasst hatten. Diesem unverändert bestehenden Wunsch hätten sie jetzt nach dem Fall der Mauer, unbedingt nachgehen wollen.

Bei genauerem Hinsehen bleiben jedoch für den Leser ziemlich viele Fragen offen. Haben sich Inge und Walter je über die Ernsthaftigkeit von Haleys Einladung und die Realisierbarkeit Gedanken gemacht? Wie kann es sein, dass beide ihren jugendlichen Traum von einem künstlerischen Leben in den USA, wie in einer Zeitkapsel und, vergleichbar konserviert wie das Eingeweckte im Keller, unverändert bewahrt haben, um ihn nun, ihr gesamtes bisheriges Leben inklusive Carl zurücklassend, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, scheinbar ohne realistische Planung, in die Tat umzusetzen?

Wie kann es sein, dass ein Jugendtraum solche Macht besitzt, dass er Inge und Walter fast zwanghaft unbeirrt in die Auswanderung treibt, ihnen aber auch auf ihrer Odyssee die Kraft zum Durchhalten gibt? Wozu ist es ihnen wichtig, mittellos aufzubrechen, welche Qualifikationen glauben sie für einen Gelderwerb in der Bundesrepublik, eine Auswanderung in die USA und für ihr Leben dort zu besitzen? Wozu wollen sie ab Gießen getrennt weiterreisen, welche Chancen glauben sie damit zu vergrößern? Welche Bedeutung hat das Akkordeon, das Walter so viele Jahre lang nicht mehr gespielt hat? Was suchen beide nach Bill Haleys Tod in den USA? Warum würde eine Einweihung von Carl in ihren Plan dessen Durchführung gefährden und lässt sie daher sogar die Beziehung zu ihm auf eine harte Probe stellen?

Umso unverständlicher und als irrationale Idee erscheint die Auswanderung zunächst, wenn man sie vor dem Hintergrund des Lebens der Familie in Gera betrachtet, das überaus geregelt und mit den allmorgendlichen Zettelnachrichten Inges an Carl überorganisiert erscheint. Zwar wird von Inge sorgfältig Lebensmittelvorrat eingeweckt, es ist aber nicht die Rede von gemeinsamen, liebevoll zubereiteten Mahlzeiten im Kreis der Familie. Fast scheint es, als sei, ähnlich wie bei Inges Arbeit, der Entwicklung von Lebensmittel-Ersatzstoffen, auch zuhause das Essen vorrangig auf Nahrungsaufnahme reduziert. Wenn der kleine Carl sich in der Schule oder beim Spielen in Schwierigkeiten bringt, möchte man das fast als Protest gegen dieses reibungslose Funktionieren unter Inges Lieblingsbegriffen „sukzessive“ und „operativ“ (vgl. 159) verstehen. Carl erfährt sich ausgeschlossen aus der Gemeinsamkeit des ihm wie ein ge- und verschlossener Block gegenüberstehenden Elternpaars. Wärme und Nähe, erinnert sich Carl, entstehen nur, wenn er mit Walter alleine sonntags in der Garage am Auto, einem Shiguli, arbeitet. In der Verbundenheit mit dem Vater werden die Familienwerte überliefert: Es ist der Wert eines guten alten Holzbretts, für das Walter das einzige Lob von seinem Vater erhielt (vgl. 373), es steht für den Wert von Handwerk und gutem Werkzeug und davon „die Arbeit zu sehen“ (vgl. 18).

Offensichtlich, ohne dass sich Carl erinnern kann, hat es jedoch auch eine Zeit gegeben, als die junge Familie sich als erste Anschaffung das Kofferradio „Stern 111“ gekauft hatte und man gemeinsam singend und tanzend auf dem Nachhauseweg von der Arbeit West-Musik hörte, zusammen und glücklich mit dem Kleinkind Carl im Kinderwagen, das sich dabei als Beatles-Fan entpuppte (vgl. 496). Für Walter, der zu dieser Zeit bereits auf seinen Herzenswunsch, Musik zu studieren, verzichtet hatte, scheint ebenso wie für Inge das Glück in dieser jungen Familie ausgereicht zu haben für ein lebendiges Leben. Es wird nicht erzählt und es ist nur zu vermuten, dass es in der Folgezeit die allgemein schwierigen, restriktiven Lebensumstände gewesen sind, die es Inge und Walter unmöglich gemacht haben, diese Freude an West-Musik und Tanz und ihre ausgelassene Lebendigkeit in den Alltag der Familie zu integrieren. Und weil ihre gegenseitigen Schuldgefühle über die verpasste Flucht zu groß (vgl. 470 ff.), ihre Traurigkeit über die verpasste Chance zu schmerzhaft sind, müssen sie alles, was sie daran erinnert, zusammen mit ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben begraben, sodass sich das Leben, das sie schließlich führen, wie ein gefühlsarmes, freudlos ersticktes, unzureichendes Ersatzleben anfühlt.

Wenn tatsächlich in Inge und Walter die von Dr. Talib gepriesenen Wanderer zu erkennen sind, dann werden alle – unbeantworteten - Fragen nach der praktischen Durchführbarkeit der Ausreise gegenstandslos. Denn wenn die Lebensaufgabe des Wanderers in der Bewegung selbst und der Verwirklichung von Freiheit besteht, dann haben praktische Einwände, die Inge und Walter als junge Menschen letztlich vor der Ausreise hatten zurückschrecken lassen, kein Gewicht mehr.

Von Anfang an hatte ein gemeinsames Rhythmusgefühl das Paar in Bezug auf Musik und Tanz verbunden (vgl. 477). Jetzt macht es dieser offensichtlich weit darüber hinausgehende Gleichklang möglich, dass beide anknüpfen können an die alte, ungebrochene Sehnsucht nach Lebendigkeit. Nach so vielen abstumpfenden Jahren und obwohl sie eigentlich viel zu alt dafür sind, ergreifen sie - ohne diesmal lange das Für und Wider zu überlegen - die Gelegenheit, um ihren alten Jugendtraum von Freiheit und Kreativität für sich zu verwirklichen, koste es, was es wolle. Es ist bezeichnend, dass Walter statt „nützlicher“ Utensilien das Akkordeon mit auf die Wanderung nimmt, dass die USA das ‚verheißene Land‘ bleiben, auch wenn der „vernünftige“ Anlass mit Bill Haleys Tod nicht mehr existiert. Vielleicht aber greift Dr. Talibs Beschreibung des Wanderers, der immer weiterzieht und nirgends eine feste Heimat findet, in Bezug auf Inge und Walter zu kurz. Sie müssen letztlich weder Carl noch ihre Heimat verlassen, sondern ihre Wanderung wird sie - so das offene Ende - vermutlich wieder nach Gera zurückführen in die dann eigene alte Wohnung. Diese Rückkehr erfolgt jedoch in all der Freiheit, die sie sich als Wanderer während ihrer langen Wanderung erobert haben, bei der es nur scheinbar um das Erreichen eines anderen geografischen Ortes ging.


Poetisches Dasein – Das Werden eines Dichters in der Nachwendezeit in Berlin

(von Monika Hartkopf)

Seilers Roman „Stern 111“ ist nicht nur das Ergebnis eines dichterischen Prozesses, sondern thematisiert diesen auch, indem über das Schreiben des Protagonisten geschrieben wird. Unter diesem Aspekt lässt sich der Roman als Bildungsroman einordnen, denn wir erleben neben vielen anderen Entwicklungsvorgängen oder Veränderungen das Werden eines Dichters.

Der Protagonist Carl Bischoff hat bereits vor seinem Aufenthalt in Gera, wo er vorübergehend nach der Ausreise der Eltern deren Wohnung hütet und die alte Schreibmaschine seiner Mutter findet, ein Gedicht verfasst „über einen Soldaten, der die Straße von Gibraltar passierte, allein in seinem U-Boot.“ (33)1 Außerdem hat Carl Gedichtbände von Achmatowa, Char und Kolmar dabei, allesamt Lyriker, deren Texte er abschreibt, worin er eine Möglichkeit sieht, „sich dem Heiligen zu nähern […] [e]ine Art Gottesdienst“ (33). Autor Lutz Seiler enthält dem Leser dieses Gedicht von Carl wie auch alle anderen vor2, wir erfahren nur, dass dieser mit fünf Zeilen darin so zufrieden ist, dass er ein „warmes Glücksgefühl“ (33) empfindet. Besonders aufschlussreich ist das zugleich nahe, aber auch distanzierte Verhältnis zum eigenen Text; die ihm gefallenden Zeilen erscheinen ihm nämlich „wie von einem Fremden verfasst.“ (33) Die dem Leser naheliegende Vermutung, Carl beschreibe mit dem Bild des Soldaten im U-Boot seine eigene Einsamkeit in der von den Eltern verlassenen Wohnung, erweist sich jedoch als falsch. Bei der weiteren Beschäftigung mit seinem Text stellt Carl noch Defizite fest, empfindet aber, „Sehnsucht und Verlassenheit in der richtigen Mischung […]. Nicht aus Erfahrung oder weil er gerade etwas (in einem weiteren Sinne) Vergleichbares erlebte“ (35)3. Carls Dichtungsverständnis wird im Folgenden apodiktisch formuliert: „Der Mann im U-Boot war Poesie, und wenn es Poesie war, dann hatte es nichts mit dem eigenen (belanglosen) Leben zu tun. Es war die andere Welt, für die es sich lohnte (und sonst für keine).“ (35)

Mit dieser Szene im ersten Kapitel, in der das poetische Dasein als existentielle Lebensform thematisiert wird, sind schon wesentliche Akzente gesetzt, die im weiteren Verlauf wieder aufgegriffen und erweitert werden. Das Schreiben von Gedichten wird von Carl immer als Arbeit verstanden, für die er einen Arbeitsplatz braucht. Als er sich in Berlin in einer verlassenen Wohnung einrichtet, übernimmt er vom Vorgänger dessen „Werkbank (die Bank zum Werk, dachte Carl)“ (83), auf der er die Schreibmaschine seiner Mutter, „die wenigen Bücher, ein[en] Stapel mit unbeschriebenem Papier“ (83) anordnet. Dass es sich ausgerechnet um eine Werkbank handelt, verbindet den Vorgang des Schreibens mit der Welt handwerklicher Arbeit. Carl hat vor seinem abgebrochenen Studium den Beruf des Maurers erlernt und kann seine Fähigkeit in Berlin beim Ausbau der Assel, eines feuchten Kellers in einem der besetzten Häuser, einsetzen: „Die Arbeit tat ihm gut, sie war ein direkter, sichtbarer Ausdruck seiner Fähigkeiten, er spürte die Würde, die im richtigen Gebrauch des Werkzeugs lag, und nach und nach erinnerte sich sein Körper an jedes Detail, jeden einzelnen Handgriff.“ (136) Aufgrund seiner Kenntnisse wird ihm die Führung der „Baubrigade“ (136) übertragen. Der Autor Lutz Seiler kann die handwerkliche Arbeit sicher auch deshalb so genau beschreiben, weil er selbst nach dem Abitur als Baufacharbeiter ausgebildet wurde und als Zimmermann und Maurer, später dann auch als Kellner gearbeitet hat4. Auch Geburtsjahr und -ort haben Autor und Erzählfigur gemeinsam, so dass man wohl von einem autofiktionalen Werk sprechen darf. Seiler hat den Zusammenhang von Handwerk und Schreiben in einem Interview folgendermaßen beschrieben: „Eine Idee vom Handwerk als unmittelbar sinnliche Erfahrung – sei es als Maurer oder Dichter, sei es mit der Hand am Stein oder im Klang eines Wortes im Schädel, Hunderte Male gesprochen und belauscht mit der Frage, ob es das richtige ist – grundiert, was ich mache bei meiner Arbeit. Das Ohr als Leit- und Kontrollorgan, die Stimme als Instrument. Das heißt: endloses Sprechen beim Schreiben, laut vor mich hin, so lange, bis ich höre, dass das, was ich sagen will, stimmt, im wahrsten Sinne des Wortes.“5 Der Leiter des sogenannten Rudels, Hoffi, der Hirte, stellt für das Lokal programmatisch fest: „In der Assel geht es um Arbeit und um Literatur [ ] Arbeit und Literatur gehören zusammen“ (173), womit auf die besondere Rolle der Arbeiterliteratur in der DDR angespielt wird, der man Seilers Roman aber überhaupt nicht zurechnen kann, da es hier weder um das Lob der Arbeit noch um die fundamentale Bedeutung der Arbeiterklasse geht.

Auffallend an der Darstellung des Schreibvorganges ist die affirmativ wiederholte Überzeugung, dass das Schreiben ohne Denken erfolge. Ihr entsprechend versucht Carl, „in jene kostbare Sphäre von Abwesenheit und Müdigkeit hinüberzugleiten, in der sich ihm die Worte zeigten, wie er sie brauchte – roh, vom Denken unberührt.“ (347f.) Geradezu komisch wirkt eine Szene, in der es heißt, er „plapperte Unsinn vor sich hin. Guten Unsinn, den auszusprechen das Leben im Gleichgewicht hielt. Außerdem war immer etwas dabei, das man später vielleicht einmal brauchen konnte, irgendein abseitiges Wort oder eine kleine Melodie.“ (172f.) Gesteigert wird diese Methode noch dadurch, dass er das Sprechen mit Bewegung verbindet, vorzugsweise dem Gehen und rhythmischen Schlagen (vgl.367), zum Beispiel mit einem Schraubenzieher. Das Schreiben wird auf diese Weise zu einem körperlichen, sinnlichen Prozess.

Dieses Verständnis von Lyrik passt auch zu den Parallelen, die Carl (oder sollte man besser sagen Lutz Seiler?) zu anderen Künsten zieht, insbesondere der Malerei. Carl arbeitet besonders gern mit Henry zusammen, den der Hirte den „guten Maler“ (68) nennt. Sein Bild eines galoppierenden Pferdes fasziniert Carl ebenso wie „Ruhe und […] Gleichmaß [… der] Bewegungen“ (69) des Malers selbst. „Als hielte er mit jeder Faser seines Körpers Kontakt zum Eigentlichen, dem geheimen Zentrum der Welt. […]“ (69). Auch zur Malerei seiner (Jugend)Liebe Effi sieht Carl, der für ihr Examen die theoretische Konzeption schreibt und dabei auch überraschende Fachkenntnisse auf diesem Gebiet zeigt, Gemeinsamkeiten in den Künsten, nämlich „Vieldeutigkeit“ und „Notwendigkeit“ (268f.)

Ausgangspunkt der Gedichtarbeit ist die Sprache selbst. „Es war die Sprache, die ihn gefangen hielt (geradezu festsetzte, einsperrte), der Klang bestimmter Wörter und Verbindungen“ (103f.). So schreibt er tagelang an einem Gedicht mit dem „Titel <Das friedrizianische Kind>“ (103), ohne das Wort zu kennen oder gar zu verstehen. Er vergleicht die Sprache mit einem Kind, das in einen tiefen Brunnen gestürzt ist und das der Dichter dadurch, dass er in den Brunnen spricht, gewissermaßen hervorholt, weil er an ihm „festhielt, bis er es geschafft haben würde: das absolute Gedicht.“ (104) Dichten bedeutet für Carl Bischoff, „sich in ein paar Worte zu versenken, die das Gedicht enthielten, das er schon hören, aber noch nicht schreiben konnte.“ (219)

Im Umgang mit einer Kalaschnikow, mit der Carl in der Assel einen Wettkampf darum bestreitet, wer sie am schnellsten mit verbundenen Augen auseinander- und wieder zusammenbauen kann, reflektiert er über „eine Sprachform der Dinge“, korrigiert sich dann aber selbst zur „Dingform der Sprache“ (422). Nachdem Carl durch den Einsatz einer Schlagbohrmaschine direkt neben seinem Ohr vorübergehend taub wird und glaubt, nicht mehr sprechen zu können, weil er nichts hört, denkt er: „Gehen und Sprechen bringen die Worte hervor, und die Worte sind das Gedicht. Schreiben ohne sprechen ist undenkbar. Denken ist nur das Korrekturprogramm; erst sprechen, dann denken, heißt das Geheimnis.“ (451)

Viele der über den Roman verstreuten Reflexionen über die Dichtung zeigen deren existentielle Dimension und ihr Eigenleben. So fühlt sich Carl einerseits als Teil des Rudels, andererseits empfindet er sich aber als „vertieft in Verse und Gedanken. Und oft war das kein Denken – nur ein Wiederkäuen von Worten, die kleine magische Melodien enthielten, um die sich alles drehte in seiner Welt. Eine Welt, in der nichts wichtiger war als das kommende Gedicht.“ (218) Die Persönlichkeit des Dichters ordnet sich also dem Gedicht und dazu dem Schreiben unter, was sich für Carl zum Beispiel darin zeigt, dass er Effi erklärt, „im Grunde hätte sein Schreiben selbst den Ort [seiner Bleibe in Berlin, Ergänzung d. V.] gewählt“. (185) Bei einem Besuch des Labors der Marie Curie in Paris vergleicht Carl das Gedicht mit der strahlenden Kraft der Radioaktivität (vgl. 262), wobei nicht das Vernichtende, sondern das kraftvoll Strahlende gesehen wird. Carl beurteilt beim Anblick seine ersten vier Gedichte, die in einer Anthologie gedruckt werden als „[…] vier unumstößliche Gedichte. Alles war richtig daran. Dass keine weitere Fassung nötig sein würde: Jetzt erkannte es Carl […] Diese Gedichte waren frei. Und wirkten fast ein wenig fremd dabei.“ (280) Das fertige Gedicht ist in der Welt, absolut, unabhängig vom Autor. Das Gegenteil solcher Gedichte ist für Carl das „anekdotische Gedicht, die kleine vorhersehbare Geschichte, vor allem ihre Selbstgefälligkeit, diese glatte schale Schlauheit braver Schwiegersöhne.“ (299)

In der Rigorosität dieser Ablehnung lässt sich schon ahnen, dass Carls Schreiben einem sehr hohen künstlerischen Maßstab unterliegt. Dieser zeigt sich zum Beispiel darin, dass er lange Zeit nicht mehr als zwanzig Gedichte hat, weil er bei jedem neuen Gedicht im Vergleich feststellt, dass eines der älteren schlechter ist und deshalb aussortiert wird (vgl. 83). Die Begriffe Dichter und Gedicht beinhalten für Carl ein Ideal, während er die Begriffe Lyrik und Lyriker ablehnt: „<Lyrik> war ein Würgen im Hals, spätestens beim -<ik> war alles erstickt.“ (119)

Dieser hohe Anspruch hat zur Folge, dass er sehr lange an einem Gedicht arbeitet; so an dem Gedicht „reiz & zier“ etwa ein Jahr lang (vgl. 374). Dessen Qualität erklärt er wie folgt: „Das Gedicht traf einen Punkt, über den er zuvor nicht Bescheid gewusst hatte. Als wäre es nicht von ihm selbst geschrieben, und das war das Beste daran.“ (374) Hier zeigt sich, dass das Gedicht Erkenntnis im Prozess ist. Der im Roman auftretende angesehene Dichter Thomas Kunst, „einer der Granden ihrer Zeit“ (375), würdigt Carls gerade fertig gewordenes Gedicht, das er auf der Staffelei entdeckt und lange liest, denn auch mit den Worten: „das ist das Beste, was ich seit langem gelesen habe“ (376).

Carls hoher Anspruch an seine Gedichte ist auch dadurch zu erklären, dass er sich an Vorbildern misst und theoretisch mit Dichtung beschäftigt. So haben ihn Rilkes „<Briefe an einen jungen Dichter>“ (52) beeindruckt. Er liest und exzerpiert aus den Gedichten von „Anna Achmatowa, René Char, Gertrud Colmar“ (33), experimentiert mit Sprache in Anlehnung an Hans Arp (vgl. 196), beschäftigt sich mit „Balzacs <Theorie des Gehens> […] und Benjamins <Passagen-Werk>“. (377) und während seines Besuches in den USA mit dem Werk von W.H. Auden, der „nicht zu seinen Favoriten [gehörte], aber lesen musste man das alles, für später, für den eigenen Weg.“ (486)

In der rückblickenden Reflexion seines dichterischen Werdegangs stellt Carl fest: „Gedichte schreiben zu müssen war ein unklares, gar nicht so übles, beinah brauchbares Verhängnis. Jedenfalls im Vergleich zu anderen Süchten.“ (513) Der Sucht-Charakter des Dichtens steht in einem ambivalenten Verhältnis zur Welt. Einerseits stellt Carl fest, „dass die Welt um mich her viel zu bedeuten hatte, sie war ein verrücktes Material, guter Stoff, und einen besseren würde es nicht geben.“ (513) Die Welt liefert also das Material für die Dichtung, die andererseits aus einer „Sehnsucht“ entsteht, nämlich der „Vorstellung, sich dorthin zu retten, aus allem heraus in ein Jenseits der Poesie. […] als hätte man in Drachenblut gebadet“ (513).