Monika Maron, Zwischenspiel

Aus Literarische Altersbilder

Achtung: Hier handelt es sich um 'work in progress', wir experimentieren mit der Erstellung einer Analyse in kollektiver Autorschaft

vgl. [1]

zur Biographie vgl. Sieglinde Krause: Analyse von Monika Marons Roman "Endmoränen"

Inhalt

Der Roman erzählt von einem außergewöhnlichen Tag im Leben der sechzigjährigen Museumsangestellten Ruth, deren Sichtweise auf ihr Leben durch ein vermeintliches Naturphänomen am Himmel scheinbar ins Rutschen gerät, wodurch Vergangenes und längst vergessen Geglaubtes in ihr wieder wachgerufen wird. Die plötzlich aufgetretene Sehstörung ausgerechnet am Beerdigungstag von Olga, die beinahe ihre Schwiegermutter geworden wäre, lässt die reale Welt als "impressionistische Variante" (S.31)[1] erscheinen, während das Erinnerte erstaunlicher Weise seine klaren Formen beibehält.

Ruth hat sich entschlossen an der Beerdigung von Olga teilzunehmen, "weiße Rosen mit einer kleinen weißen Schleife: In Liebe, Ruth" (S.7) bestellt und bricht rechtzetig mit ihrem Wagen zum Friedhof am östlichen Stadtrand Berlins auf. Trotz guter Vorbereitung und Navigationsgerät verfährt sie sich jedoch, und die Fahrt endet schließlich an einem Park. Nachdem Ruth bereits im Autoradio plötzlich Olgas Stimme gehört hat, versäumt sie nun zwar deren Beerdigung, trifft aber stattdessen auf einer Bank in diesem Park Olga selbst. Später begegnet ihr Bruno, der früh verstorbene Jugendfreund ihres Mannes Hendrik. Ein Hund läuft ihr zu und begleitet sie durch den Park und die immer rätselhafter werdenden Erlebnisse dieses Tages, zu denen Begegnungen mit dem Ehepaar Honecker, später mit dem einem Porträt des 15. Jahrhunderts entsprungenen bösen Menschen gehören und die schließlich in einem "wilden Getümmel"(S.185) gipfeln, das stark an Goyas Gemälde "Das Begräbnis der Sardine" [2] erinnert. Mit Einbruch der Dunkelheit ist der Spuk vorbei, Ruth sieht die Realität wieder klar.

Ein Hauptthema dieses Romans ist die Frage nach der Identität. In einer Art Bilanz reflektiert die Protagonistin die verschiedenen "Ichs" (S.17) ihrer Vergangenheit, die jeweils abhängig waren von den persönlichen und politischen Lebensumständen und die sie ganz oder teilweise vergessen bzw. verdrängt hat.

Die moralischen Fragen von Schuld und Verrat bilden einen weiteren Schwerpunkt des Romans in zahlreichen Rückblenden und in den imaginierten Gesprächen der Ich-Erzählerin Ruth mit Olga, deren Motto "Schuld bleibt immer, so oder so" (S.34) lautet, und mit Bruno. Ruth muss erkennen, dass sie bei allen wesentlichen Lebensentscheidungen nicht verhindern kann, entweder an sich selbst oder an ihren Mitmenschen schuldig zu werden. Es scheint keinen Mittelweg der Schuldlosigkeit zu geben.

Als Gegenpol zu dieser existentiellen menschlichen Problematik setzt der Roman ein Tier ein, ähnlich wie schon in Marons Romanen "Endmoränen" [2] und "Ach Glück". Der Hund lebt ohne Selbstbewusstsein als schuldunfähige Kreatur ganz im Augenblick, genießt die Zuwendung, die Ruth ihm den Tag über gibt, und kehrt abends ohne sich umzuschauen zu seinem Besitzer zurück.


Figuren

Ruth

Olga

Olga wäre fast Ruths Schwiegermutter geworden, wenn sie vor vielen Jahren Bernhard nicht kurz vor der geplanten Hochzeit verlassen hätte, da sie nicht sein behindertes Kind aus einer früheren Verbindung zusammmen mit dem eigenen Kind aufziehen wollte.

Bruno

Brunos religions- und aufklärungskritische Argumentation hat als Hintergrundfolie existentialistische Theorien (Camus, Sartre, Kierkegard). Er selber versucht durch Nicht-Entscheiden im Möglichkeitsspiel zu bleiben, aber damit entscheidet er sich bereits (z.B. gegen die Möglichkeit seine Fähigkeiten zu verwirklichen). Er delegiert an Hendrik, auch die Schuld, wie er mit dem Bild des Hütchenspiels erläutert. (S. 112) Brunos Leiden am Leben wird nur durch Alkohol erträglich, wobei er seine Melancholie auch genießt. Er übernimmt – sogar noch aus dem Jenseits - die Narrenrolle, wobei die Trunkenheit wie ein Tarnmantel wirkt, unter dem er alles sagen kann, ohne ernst genommen zu werden und sich evtl. zu gefährden (DDR). Er tritt auch auf „wie ein zerlumpter Possenspieler, der eben einer Jahrmarktsbühne entsprungen war“. (S. 105) Die Symbiose von Hendrik und Bruno läßt sich im Bild von Ameise und Grille, Bürger und Künstler fassen.

Hendrik und Bernhard

Ehepaar Honecker

Das Auftauchen der Honeckers wirkt zunächst wie eine – evtl. verzichtbare – Slapstick-Einlage auf einer Puppenbühne: Margots lila Haare und ihr herrisches Auftreten oder wie der hinfällige Erich auf der Wiese sitzt und von „Solismus“ und „Rot Front“ brabbelt (S. 104). Aber Ruth fühlt bei dem Auftauchen der „grotesken Gespenster“ (S. 104) sofort wieder Wut: „Sie hatten uns vertrieben aus unserem eigenen Leben, aus unserer Kindheit, unserer Jugend, aus allem, was wir bis dahin geliebt hatten.“ (S. 102) Bruno erwartet von ihnen ein Schuldeingeständnis, zu dem sie aber nicht in der Lage sind, weil sie in der Zeit um 1990 stecken geblieben sind und nichts dazugelernt haben. Man fühlt sich an den Fernsehfilm über Margot Honecker erinnert, in dem sie starr und kämpferisch die alten Ideale vertrat und dabei wie ein Gespenst aus vergangenen Zeiten wirkte.

der böse Mensch

Bei der Begegnung mit „dem Bösen“ wundert sich Ruth, dass sie ihn wie ihre „Kopfgeburten“ sieht, d.h. klar, nicht verpixelt wie lebendige Personen oder den Hund (S. 159). Der Mann stammt aus einem Porträt aus dem 16. Jh., bei dessen Betrachtung Ruth die beiden unterschiedlichen Augen des Mannes irritiert hatten, die ihn einerseits „stolz und selbstbewusst“, andererseits „kaltblütig, unheimlich erscheinen lassen. (S.164) Der Böse ist süchtig danach Sterbeprozesse zu sehen, „diesen banalen Augenblick zwischen Leben und Tod“ (S. 167), verursacht sie z.T. auch selbst vorsätzlich. Er ist aber auch berührt von der Erhabenheit des Todes. Ruth empfindet nicht nur Entsetzen, sondern hört ihm interessiert zu. Die Begegnung mit dem Bösen deutet sie als die Begegnung mit ihrer anderen Seite. So fragt sie Olga: „Und wenn er recht hat? Wenn es stimmt, dass das Böse in mir fasziniert war von ihm?“ (S. 172) Aber Olga erläutert den Unterschied zwischen bösen Gedanken und einer bösen Tat. Ruth wollte den Sekretär, den neuen Mann ihrer Mutter, töten, und Olga betete sogar um Gottes Hilfe, um die Geliebte ihres Mannes bei einem Unfall sterben zu lassen, aber beide hätten niemals wirklich jemanden töten können. Bruno drückt es noch drastischer aus, indem er sagt, es mangele Ruth zum wahren Bösen an Phantasie. (S. 176) „Sonst wären Sie eine Künstlerin statt eine Kunstverwalterin geworden. Künstler sind fasziniert vom Bösen, weil es so interessant ist.“ (S. 176) Brunos Argumentation wechselt dann – etwas im Zickzack –auf die politische und gesellschaftliche Ebene: Hätte Hitler als Künstler Erfolg gehabt, wäre der Welt viel erspart geblieben (S.177). Es folgt seine Überlegung, ob Moral einem „Mangel an Phantasie“ entspringe oder „dem zivilisatorischen Dressurakt“ (S. 178).

Identität

Schuld

Ruth und Olga unterhalten sich über den Satz. „Es ist schade um die Menschen“, den im „Taumspiel“ Indras Tochter äußert, nachdem sie auf Erden gesehen hat: „Immer ist das Glück des einen das Unglück eines anderen, hinter jedem Glück lauert das Unglück eines anderen, mit dem es bezahlt werden muss.“ (S.139) Dieser Satz hat Olga immer getröstet, indem er sagt, dass Schuldigwerden conditio humana ist, seit der Mensch vom “Baum der Erkenntnis“ gegessen hat und so Sünde und Schuld in die Welt kamen. (S.141) Bruno mischt sich in das Gespräch ein und vertritt die „atheistische Variante“ (S. 144): Im Laufe der Evolution lernte der Mensch den aufrechten Gang und das Sprechen und ihm wuchs Verstand zu und damit die Möglichkeit zu entscheiden. Aber wieso erwächst aus „göttlicher Willkür“ Verantwortung? Willkür ist der Gegenbegriff zu Notwendigkeit, der Wille sucht aus, wer Willkür ausübt, entscheidet. Aus göttlicher Willkür wuchs dem Menschen Verstand zu, der Mensch ist ausgeliefert, er muss Entscheidungen treffen und kann damit falsch entscheiden und schuldig werden oder er wird in einem tragischen Konflikt in jedem Fall schuldig wie Ruth, die durch ihre Flucht Bernhard und seinem Sohn gegenüber schuldig wurde, wäre sie geblieben, wäre sie es gegenüber dem eigenen Leben geworden. „Schuld bleibt immer.“ (S. 34)

Kunst und Tod

Die irritierende Gleichsetzung von Kunst und Tod (S. 54) meint wohl, dass die ewige Gültigkeit das Vergleichsmoment darstellt. Dabei handelt es sich um einen beliebten Topos. Mit dem Tod ist die Möglichkeit der Veränderung nicht mehr gegeben, das Leben einer Person kann dann schriftlich fixiert bzw. festgeschrieben (Biographie) oder in einem Bild wie Munchs „Schrei“ festgehalten werden. So kann die Kunst den Tod überwältigen, so dass der Tod zum Kunstwerk wird; dazu gehört auch das Wiederkehren der Gestalten in Ruths Kopf. Mit Olgas Tod ist etwas fixiert, was dann von Ruth gestaltet werden kann, um sich mit Verdrängtem auseinanderzusetzen. Brunos Behauptung: "Der Tod adelt Betrüger“ (S. 54) erinnert an das – christlichen Vorstellungen entgegenstehende - Bild vom „Recyclingdepot“, „wo Gut und Böse einträchtig vermodern“ (S. 55). Die Vorstellung vom Tod als Arsenal der Möglichkeiten findet sich schon bei Herder. Durch den Tod als einzige Grundkonstante neben der Geburt bekommt das einzelne Leben einen Ewigkeitsbezug, eine Gewichtung. „Der Tod adelt Betrüger, Mörder, Säufer und alle anderen Tunichtgute, er nimmt sie gnädig zurück als misslungene Schöpfungsversuche der Natur...“ (S. 54) Dem Vorwurf, dass Monika Maron so schwerwiegende philosophische Themen nicht plausibel genug darstelle, sie teilweise nur anreiße und den Leser dann alleine lasse, lässt sich entgegenhalten, dass die Autorin ihre Hauptfigur Ruth sich mit diesen Themen eher assoziativ befassen lässt und die Positionen auf verschiedene Personen ihres Romans verteilt. Kunst hat das Potential zu irritieren und Anstöße zu geben für eine eigene Auseinandersetzung des Lesers, sie muss nicht komplette Denksysteme entfalten. Brunos negativer Blick auf Zeugung und Geburt und sein Lebensekel verweisen auf das „Geworfensein des Menschen“ (Existenzialismus) und Kierkegards Sicht auf das Leben als „Krankheit zum Tode“. Ruth ist durch die Erfahrung von Olgas Tod in ihren Grundfesten erschüttert, relativiert die Erfahrung aber, indem sie sie auf die Ebene des Spiels zieht, sich mit ihr spielerisch, aber zugleich ernsthaft auseinandersetzt.

Exkurs: Fünf Gründe, warum Monika Maron auf den Hund kommt (von Jutta Rech-Garlichs)

In „Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog“[3], den der Literaturkritiker Jochen Hieber kürzlich mit Monika Maron geführt hat, sagt Maron über ihr privates Hunde-Verhältnis: „Das Leben mit einem Hund ist glücklicher als ein Leben ohne Hund. Hätte ich schon früher gewusst, wie schön das Leben mit einem Hund ist, hätte ich sicher nicht so oft geheiratet.“[4] Und zum gar nicht so seltenen Vorkommen des Hundes in der Literatur: „Es ist kein Zufall, dass der Hund in der Literatur so präsent ist: Jack London, Turgenjew, Tschechow, Maeterlinck, Thomas Mann, [. . .], die Reihe ist endlos. Jeder [. . .] war fasziniert von der Beziehung zwischen Mensch und Hund“[5], eine Feststellung, die sie bereits in „Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche“ macht[6], dem Text, der ihrer 2005 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesung zugrunde liegt. Mit ihren Romanen „Endmoränen“, „Ach Glück“ und „Zwischenspiel“, dem Text ihrer Frankfurter Poetikvorlesung und dem eingangs erwähnten E-Mail-Dialog gibt uns Monika Maron direkt und indirekt Auskunft darüber, welche Rollen und Funktionen sie als Schriftstellerin und Romanautorin durch ihre Protagonistinnen Johanna („Endmoränen“/ „Ach Glück“) und Ruth („Zwischenspiel“) dem Hund in diesen Texten zuspricht. Eine genauere Betrachtung entsprechender Textstellen lässt erkennen, dass es im Wesentlichen fünf „Gründe“ sind, warum Monika Maron auf den Hund kommt: In „Endmoränen“ und „Ach Glück“ markiert das Auftauchen des Hundes (Bredow) einen Neuanfang im Leben der Protagonistin Johanna; in „Zwischenspiel“ hat der Hund (Nicki) vor allem die Funktion der „Erdung“ der Geschichte – beides poetologische Funktionen. In „Ach Glück“ geht es für die Protagonistin vor allem darum, vom Hund zu lernen: Lebensfreude und Glück durch pures Dasein. In „Zwischenspiel“ steht der Hund vor allem dafür, was dem Menschen fehlt und wonach er sich sehnt. Alle hier betrachteten Texte vermitteln: Die besondere Nähe Mensch – Hund beruht auch darauf, dass das Alter uns den Tieren gleich/gleicher macht.

Poetologische Funktion des Hundes

Protagonistin Johanna in „Endmoränen“ ist privat und beruflich in einer Sackgasse gelandet; Ratlosigkeit, Überdruss und Resignation bestimmen ihr Lebensgefühl, die „öde lange Restzeit“ (S. 55) erscheint als ein einziges großes Fragezeichen. In dieser Situation kommt am Ende des Romans der Hund ins Spiel, den Johanna, weil sie ihn, den Ausgesetzten, an der Autobahnausfahrt „Bredow“ mitnimmt, eben so benennt: Bredow. Mit Bredow wird ein „wunderlicher Anfang“(S. 253) gesetzt, der Johannas Lebenskräfte neuen Auftrieb verschafft und maßgeblich dazu beiträgt, dass die Autorin nach eigener Aussage[7] mit dem Roman „Ach Glück“ der Geschichte eine Fortsetzung gibt. „Hätte sie [Johanna] ihn ins Tierheim gebracht, wäre die Geschichte eigentlich zu Ende gewesen. Alles wäre geblieben, wie es war.[8] Entscheidend ist, dass Johanna dem Zufall in ihrem Leben ein Recht einräumt. […], sie schmeißt ihr Leben über den Haufen“[9], begründet Maron das Auftauchen des Hundes Bredow und damit dessen hauptsächliche poetologische Funktion in diesen beiden Romanen. Nicki, der Hund in „Zwischenspiel“ und nach Tibor Dérys Niki („Niki oder Die Geschichte eines Hundes“) benannt, hat eine andere Funktion: „Mein Nicki“, so Maron, „muss die Geschichte, wenn sie ins Überirdische abzuheben droht, immer wieder auf die Erde holen.“[10] So zum Beispiel, als er in ein lastendes Schweigen im Gespräch zwischen Olga und Ruth „ein so herzhaft irdisches Geräusch erzeugte, dass wir beide [Ruth und Olga] lachen mussten“(S. 136), oder als er, wiederum während eines schwierigen Gesprächs der beiden Protagonistinnen, plötzlich anhebt, eine „Hinterlassenschaft seiner Vorgänger energisch zu überpinkeln“(S. 140). Auch alle Begebenheiten im Roman, die sich aus Nickis Wurstleidenschaft ergeben, sind in dieser Hinsicht anzuführen und tragen dazu bei, das surreale, bisweilen düstere Scenario aufzubrechen, aufzulockern und aufzuheitern.

Vom Hund lernen

Im Umgang mit dem Hund erkennt Johanna vor allem, was ihrem Leben fehlt bzw. verloren gegangen ist: „Angesichts der unverstellten Gefühlsäußerungen des Hundes, seiner Fähigkeit, Glück zu empfinden und Glück zu bereiten, empfindet sie die eigenen Mängel oder Verluste.“[11] Nicht nur verhilft Bredow ihr wieder zu mehr Freiheit – als Beispiel dafür führt sie die nächtlichen Spaziergänge an, die ihr in all den Jahren davor gefehlt hätten[12] –, mit ihm lernt sie auch wieder zu lachen[13] , öffnet sich für Empfindungen von Liebe und Glück[14] und lässt die Hoffnung zu, dass „es auch mir [ihr, Johanna] gelingen könnte, wenigstens mir selbst als Sinn zu genügen und froh zu sein, weil es mich gibt, wie der Hund froh ist, dass es ihn gibt “.[15]

Der Hund hat, was dem Menschen fehlt

Auch in „Zwischenspiel“ hat der Hund, Nicki, den Menschen etwas voraus: „[…] er hat nichts zu tun mit der Schuld, die alle Menschen in der Geschichte umtreibt. Er ist unfähig zur Schuld.“[16] „Ein glückliches bewusstloses Geschöpf bist du“(S. 111), sagt Bruno zu Nicki, im Gegensatz zum Menschen, der „verstoßen [ist] aus der Unschuld der Tiere, […] und ausgesetzt der eigenen Schuld“(S. 145). Das Tier – hier der Hund – erscheint als sprachlose, bewusstlose, schuldunfähige und: glückliche Kreatur, die überdies „hat, wonach der […] Mensch sich sehnt: etwas, zu dem er gehört, das größer ist als er selbst“[17], während die Gottessehnsucht des modernen aufgeklärten Menschen ins Leere ragt.[18] „Dass sie für ein Wesen auf dieser Erde das Paradies sein konnte, […] weckte in ihr ein Gefühl, das sie schon lange nur noch aus der Erinnerung kannte […] und sie für Momente glauben ließ, sie hätte endlich die Bestimmung allen Lebens, auch ihres eigenen, verstanden“[19], beschreibt Johanna ihr Liebesverhältnis zu Bredow, das hier ins Religiöse gehoben wird.(vgl. S. 122) Unterstrichen wird dieser „religious turn“ dadurch, dass sowohl Johanna als auch Ruth in der Begegnung mit dem Hund Fügung und Botschaft sehen.[20]

Das Alter macht uns den Tieren gleicher In „Ach Glück“ schreibt Natalia Timofejewna, jene betagte kunstbeflissene russische Fürstin und Freundin von Leonora Carrington, die Johanna im Auftrag des Galeristen Igor in Mexico City besucht: „ Ich habe erst unter der Knute des Alters meinen menschlichen Hochmut aufgegeben. Das Alter und der Tod machen uns den Tieren gleicher; unbarmherzig ziehen sie uns auf die andere Seite, in das Reich der Natur. Wenn unser Gehirn allmählich schwach wird und die Organe ihren Dienst verweigern, rettet uns unsere Kultur nicht mehr, und wir unterliegen dem gleichen Gesetz wie die Tiere.“[21] In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung nimmt Maron Bezug auf diese Stelle und spricht davon, dass der Hund „als Fragezeichen hinter der eigenen Sinn- und Glücksvorstellung“[22] und „als Konfrontation mit dem kreatürlichen Anteil in uns selbst“[23] gesehen werden kann.

Am Ende des E-Mail-Dialogs sagt Maron zu den Beweggründen ihres Schreibens befragt: „Ich befürchte, dass ich viel lüge, […]. An die Wahrheit kann ich mich entweder nicht erinnern oder sie kommt mir zu banal vor, um sie der Öffentlichkeit mitzuteilen. Oder es handelt sich um Geheimnisse.“[24] Vielleicht steckt auch hinter Monika Marons literarischer und tatsächlicher Hunde-Liebe noch das ein oder andere Geheimnis.

Das Verhältnis Mensch-Tier ist gegenwärtig Gegenstand eines breit gefächerten und komplexen gesellschaftlichen Diskurses, mit dessen wissenschaftlicher Erforschung und Analyse sich die Human-Animal-Studies befassen, ein relativ junges, interdisziplinäres Forschungsfeld. Je nach Wissenschaftsdisziplin – Soziologie, Psychologie, Philosophie, Anthropologie, Kultur-, Geschichts- und Erziehungswissenschaft, Gerontologie – liegt der Fokus dabei z. B. auf der Repräsentation von Tieren in den Medien (Film, Fernsehen, Internet, Kunst, Literatur), auf der Untersuchung von Einstellungs- und Umgangsweisen des Menschen zu und mit Tieren und deren historischen Veränderungen und auf der Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses unter den Aspekten Gewalt und Ausbeutung. Delphin-Therapie für behinderte Kinder, Hippotherapie, Therapeutisches Reiten und Lama-Therapie – „tiergestützte Therapien“ als Teil alternativmedizinischer Behandlungsverfahren zur Heilung und Linderung der Symptome vor allem psychischer und neurologischer Erkrankungen und Behinderungen erfahren seit einigen Jahren enorme Beachtung und Aufschwung. Altersheime öffnen sich zunehmend für den Einsatz von Hunden in der Pflege vor allem an Demenz erkrankter Menschen, in Großstädten entstehen, dem japanischen Vorbild folgend, Katzen-Cafés, in denen Menschen beim Kuscheln mit Katzen Stress abbauen können, auf die Behandlung von Psoriasis und Neurodermitis spezialisierte Einrichtungen setzen neuerdings auf Kangalfische, und selbst die uralte Blutegel-Therapie erfreut sich neuer Beliebtheit.

Auch auf einem anderen Gebiet, dem der Ernährung, zeigt sich in den letzten Jahren mit dem Wechsel von mehr und mehr Menschen zu einer vegetarischen oder veganen Lebensweise nicht nur generell ein stärkeres ökologisches Bewusstsein – es spiegelt auch einen kritischeren und sensibleren Umgang im Verhältnis Mensch-Tier wider.

Tiere haben zu jeder Zeit ihren Platz in Kunst und Literatur gehabt, insofern ist die Beobachtung, dass sie zumal in der neueren Literatur auffallend häufig vorzukommen scheinen und als Beleg und Spiegel dieses anderen Mensch-Tier-Verhältnisses betrachtet werden können, kritisch zu sehen. Plausibler erscheint mir die umgekehrte Betrachtungsweise: Die Präsenz von Tieren/Hunden hat nicht wegen eines veränderten Mensch-Tier-Verhältnisses zugenommen, sondern unsere Wahrnehmung der Präsenz und Präsentation von Tieren/Hunden hat sich aufgrund des Human-Animal-Diskurses verändert und verschärft.


Alterstopoi

Inmitten der existentiellen Themen von Leben und Tod bleibt die Thematik der Alterstopoi eher im Hintergrund, d.h. das Alter und die damit verbundenen Probleme werden nur indirekt angesprochen und sind als Topoi schwer zu fassen. Zwar kann die von Beginn an präsente Todesthematik als Altersklage aufgefasst werden, sie wird aber nur selten als Klage formuliert. Die alterstypischen Überlegungen Ruths darüber, wie lange sie neuerdings morgens braucht, bis sie fertig ist zum Verlassen des Hauses(vgl. S.9f), ihre Gedanken an Schlaganfall oder Herzinfarkt nach der Sehstörung (vgl. S.28) erfolgen eher beiläufig.

Der Tod Olgas jedoch, zu deren Begräbnis zu gehen sie sich innerlich widerstrebend entschließt, zwingt Ruth, sich mit ihrem Leben und ihrem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Sie hat das Gefühl, „der Tod schmuggele sich bedenklich oft und unvermittelt“ (S.74) in ihren Alltag. Fragen darüber, wie oft sie noch das Glück des Frühlings erleben könne, oder ob dies der letzte neue Kühlschrank in ihrem Leben sei, beschäftigen sie und markieren eine Veränderung in ihrem Lebensgefühl. Sie wäre gerne religiös gewesen, um die „Kränkung“ (S.75) des „Wegseins“ durch den Trost eines Weiterlebens nach dem Tod kompensieren zu können.

An diese Überlegungen schließt sich eine direkte Klage darüber an, was den Menschen im Alter erwartet, „wie Krankheiten und drohendes Siechtum die verbleibende Zeit verdüstern“ (S.76) und die Frage „warum wir dann so verbissen um jeden Tag kämpfen“, während in der Jugend der Tod, als Protest gegen die Welt der Erwachsenen, keinen Schrecken zu haben schien. Die Angst vor dem Tod ist letztlich für Ruth eine Angst vor dem Sterben. Ihre persönliche Betroffenheit durch Gedanken an den eigenen Tod weicht im weiteren Verlauf des Romans allgemeinen Feststellungen zu den Grundkonstanten des Lebens und der menschlichen Existenz.

Der Topos des Alterslobs wird von Olga repräsentiert. Dass sie sich, seit Ruth sie im Alter von 55 Jahren kennenlernte (vgl. S.29), in ihrem Äußeren nicht verändert hat, d. h. „gleichbleibend altmodisch“ (S. 30) geblieben ist, kann unter Hinweis auf Brechts "Geschichten von Herrn Keuner" kritisch gesehen werden. Trotz den sich aus diesem Äußeren ergebenden Vorurteilen muss auch Ruth letztlich Olgas Fähigkeiten zu Toleranz, zu Hilfsbereitschaft und ihre Hinwendung zu den Bedürfnissen der Menschen anerkennen und im Stillen bewundern. Als Gegenfigur zu Ruth zeigt Olgas Lebensweg, dass Entwicklung und Veränderungen auch in der zweiten Lebenshälfte möglich sind. Olga hat die Nackenschläge und Frustrationen des Lebens nicht verdrängt, sondern sich ihnen gestellt und sie verarbeitet. Sie hat Andy gepflegt, sie hat die Verbindung zu Ruth und ihrer Enkelin Fanny aufrechterhalten, sie hat ihren Mann Hermann nicht verlassen, nachdem sie von seiner zweiten Familie erfuhr, ihm auch nicht das Leben zur Hölle gemacht und schließlich nach seinem Tod, also nach ihrem 65. Geburtstag, noch eine Berufstätigkeit aufgenommen. Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen zeigt sich in ihrer Hinwendung zu der Religion der Bahai (vgl. S.84f), die für sie all das verkörpert, was sie gelebt hat. Noch in dem letzten Telefongespräch, das Ruth erinnert, spielt Olga ihre Beschwerden und damit ihre eigene Person herunter und klingt fest und zuversichtlich (vgl. S.28). Neben dem Bild des positiven Alters, das Olga verkörpert, ist es vor allem ihre Lebenseinstellung, die sie von den anderen Figuren und deren Pessimismus unterscheidet und sie vielleicht etwas zu idealisiert erscheinen lässt.

Auf den ersten Blick scheint es keine Anhaltspunkte für den Altersspott zu geben. Löst man die Episode mit Honeckers jedoch von den tragischen Verwicklungen mit der Zeitgeschichte, so zeigen sich hier Merkmale, die dem Altersspott zugeordnet werden können (auch wenn sie sich nur im Kopf der Protagonistin abspielen, wie Bruno feststellt (vgl. S.147f, S.184). Dazu gehört vor allem das Groteske ihrer Erscheinung, das durch lächerliche Verhaltensweisen gesteigert wird (vgl. z.B. Honeckers Reaktion auf den Hund,) und in Zusammenhang mit dem Alter die Funktion hat, die Distanz der Protagonistin zu dem vergangenen politischen System zu unterstreichen. Es wird gezeigt, wie im Gegensatz zu Olga die Honeckers starr und ohne Rücksicht auf die Menschen an ihrer Ideologie festhalten. Geistige Unbeweglichkeit und Altersstarrsinn verhindern eine Reflexion und ein Infragestellen ihrer ehemaligen politischen Ziele. Zu einem Schuldbekenntnis, wie Bruno es erwartet, sind sie nicht in der Lage. Dass Margot Honecker ihren Mann herumkommandiert, eine der Realität entnommene Verhaltensweise, unterstreicht die Greisenhaftigkeit Honeckers und seine Regression in kindliche Verhaltensweisen. Unter dem Gesichtspunkt der Alterstopoi betrachtet sind dies typische in der Literatur dargestellte Fehlentwicklungen im Alter. Hier dienen sie dazu die Schrecken der Vergangenheit erträglich zu machen, indem sie ins Lächerliche gezogen werden, gleichzeitig wird aber eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eher verhindert als unterstützt. Dies leistet dagegen in gewisser Weise der Alkoholismus Brunos, dessen Selbstironie aus der Distanz des Jenseits u. U. dem Altersspott zugeordnet werden könnte.


Gattungseinordnung

Erzählweise

Anmerkungen

  1. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Monika Maron, Zwischenspiel, Frankfurt/M. 2013
  2. vgl.Sieglinde Krause: Analyse von Monika Marons Roman "Endmoränen"
  3. Gefunden unter: www.hundertvierzehn.de/artikel/frau-und-hund-ein-e-mail-dialog (13.05.2014/10:44)
  4. ebd.
  5. ebd.
  6. Maron, Monika: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche. Frankfurt a. M. 2005, S. Fischer, S. 35
  7. Siehe dazu: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, S. 33
  8. Vgl. hierzu auch „Ach Glück“, S. 158: „Ohne den Hund wäre vielleicht alles so weitergegangen und ich [Johanna] hätte mich damit abgefunden.“
  9. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  10. ebd.
  11. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  12. Vgl. hierzu „Ach Glück“, S. 34f.
  13. ebd., S. 36
  14. Vgl. hierzu z.B. ebd., S. 62 und „Ach Glück“, S. 33
  15. ebd., S. 62
  16. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  17. Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, S. 36
  18. Ebd., S. 36, zitiert Maron Maeterlinck: „ Er [der Hund] ist das einzige Lebewesen, das einen […] Gott gefunden hat und anerkennt.“
  19. Ach Glück, S. 105f.
  20. dazu Maron über Johanna in ihrer Poetikvorlesung, S. 78, und Ruth in „Zwischenspiel“, S. 122
  21. Ach Glück, S. 180
  22. Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, S. 40
  23. ebd., S. 40
  24. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog