Eva Menasse, Quasikristalle
Diese Seite befindet sich noch im Aufbau.
Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu diesem Roman war die Feststellung, dass es um eine Figur geht, die einerseits eindeutig im Mittelpunkt steht, andererseits aber doch nicht zu fassen ist. Aus dieser Beobachtung entwickelten sich zwei Arbeitshypothesen:
- Die Erzählstruktur verleitet den Leser dazu, eine personale Identität zu konstruieren, die es als Kontinuität, abgeschlossene Größe nicht gibt.
- Die kaleidoskopartige Struktur spiegelt auch den Umgang mit historischen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Themen und Problemen vor allem in Österreich und Deutschland.
Diese Thesen sollen im Folgenden in ihrer Geltung geprüft und entsprechend verworfen oder begründet werden.
Strukturen – Zum Aufbau des Romans
Erzählstruktur
Der Roman besteht aus 13 Kapiteln, von denen 12 in personaler Perspektive[1] bzw. interner Fokalisierung[2] erzählt werden, während das zentral liegende siebte Kapitel in der Ich-Perspektive[3] bzw. autodiegetisch[4] erzählt wird. Die 12 Kapitel werden aus 12 verschiedenen personalen Perspektiven erzählt, so dass hier eine gesteigerte Form des multiperspektivischen Erzählens vorliegt. Im siebten Kapitel begegnet uns dagegen die Ich-Erzählerin, bei der es sich um die Protagonistin des gesamten Romans handelt, eine Frau namens (Ro-)Xane Molin. Sie taucht in den übrigen Kapiteln mehr oder weniger zentral als Figur auf, über die wir indirekt im Kontext eines erzählten Geschehens erfahren; sie wird in Außensicht gezeigt in dem, was die jeweilige personale Perspektive von ihr erkennt bzw. zu erkennen glaubt. Diese Gestaltung der Erzählsituation hat für den Leser zur Folge, dass er den Erzählvorgang kaum wahrnimmt, sondern den Eindruck hat, das Geschehen und die Figuren spiegelten sich im Bewusstsein der Erzählfigur, aus deren Sicht Xane beschrieben wird. Die Protagonistin bleibt dadurch im überwiegenden Teil des Romans in Distanz zum Leser, eine Identifikation des Lesers wird verhindert. Außerdem muss dieser sich in jedem Kapitel auf eine neue Erzählfigur einstellen und deren Eigenschaften, Interessen und Beziehung zu Xane ergründen. Dadurch steht die jeweilige Erzählfigur im Vordergrund der Kapitel. Besonders groß ist die Distanz zur Protagonistin im 12. Kapitel, in dem die Figur, aus deren Perspektive erzählt wird, eine Journalistin, die an einem Artikel über Morde an pflegebedürftigen alten Menschen arbeitet, Xane gar nicht kennt, sondern sie als eine beliebige Frau im Park vor ihrem Fenster beobachtet. Das Leben der Romanfiguren wird dem Leser vorgeführt als Mosaiksteinchen im Leben der Anderen, entsprechend dem Zitat des englischen Dichters John Donne (1572 – 1631), das dem letzten Kapitel vorangestellt ist: „No man is an island, entire of itself./Every man is a piece of the continent, a part of the main.“[5] Zusammen mit dem ebenfalls von John Donne stammenden Zitat, das dem gesamten Roman vorangestellt ist, ergibt sich ein Rahmen, der auf die Symmetrie verweist, die der Roman in verschiedenen Aspekten[6] aufweist.
Zeit- und Handlungsstruktur
Nicht nur die Erzählfiguren wechseln von Kapitel zu Kapitel, sondern auch die erzählte Zeit verläuft zwar chronologisch, macht aber dabei unterschiedlich große Sprünge. Im ersten Kapitel ist Xane 14 Jahre alt und wird aus der Sicht ihrer besten Freundin gezeigt. Die pubertierenden Mädchen verbringen in den Sommerferien viel Zeit miteinander, erproben Zigaretten und Drogen, Xane hat sich verliebt und treibt den Wechsel auf ein Gymnasium in der Stadt voran. Der plötzliche Tod der gemeinsamen Freundin Claudia und die Trennung der ehemals besten Freundinnen bedeuten „das Ende der Kindheit“ (S. 48). Wir erleben Xane als Studentin bei einer Exkursion nach Auschwitz aus der Sicht des Professors und als junge Mieterin am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn aus der Perspektive des im Haus wohnenden Vermieters. Die Schwester ihrer Jugendfreundin begegnet der Protagonistin, die inzwischen verheiratet ist und eine Agentur für politisch engagierte, kritische Werbekampagnen leitet. Im fünften Kapitel wird Xane von einer Gynäkologin geschildert, die ihr nach einer Fehlgeburt zur Erfüllung des Kinderwunsches verhelfen soll. Das sechste Kapitel erzählt die zufällige Begegnung mit einem älteren Mann, der seine Familie im Krieg verloren hat und der seitdem für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag arbeitet; es entwickelt sich eine erotische Beziehung, die jedoch bei den gelegentlichen Treffen nicht ausgelebt wird. Das folgende Kapitel in der Ich-Perspektive stellt die durch ein Treffen mit einer alten Freundin ausgelösten Reflexionen über das eigene Leben dar und findet offensichtlich in der Lebensmitte statt. Elemente des sechsten und des achten Kapitels, welches aus der Perspektive der Stieftochter im Teenager-Alter erzählt, spielen zur selben Zeit und zeigen Xane in der Mutterrolle. Im Kontrast dazu präsentiert das neunte Kapitel die Protagonistin als Chefin eines Mitarbeiters, der von ihr entlassen wird. Im zehnten Kapitel dürfte Xane eine Frau von über fünfzig sein, denn ihr Vater, dessen Geburtstag gefeiert wird, bemerkt ihr graues Haar und ihr Sohn steht im Abitur. Von einem Nervenzusammenbruch, einem Seitensprung und schweren finanziellen Problemen ihrer Firma erfährt der Leser im 11. Kapitel aus dem Gespräch zweier Freundinnen aus Studienzeiten. Die Perspektivfigur des 12. Kapitels sieht Xane als „alte Frau“ (S. 387), deren Mann auf der Parkbank vor ihrem Fenster stirbt. Im letzten Kapitel ist Xane Großmutter und ist , wie man einem Brief entnehmen kann, den ihr Sohn drei Jahre seines Vaters schreibt, eine neue Beziehung eingegangen. Der Roman hat keine Handlung im Sinne eines zusammenhängenden Geschehens. Eher lässt sich von Ereignisstrukturen sowie Zeit-und Raumrelationen sprechen. Die einzelnen Kapitel zeigen Ausschnitte, Puzzlesteine, Stationen aus dem Leben der Protagonistin, bei denen es weniger um Taten oder Ereignisse geht als um Beziehungen zwischen Xane und den jeweiligen Erzählfiguren, also soziale Relationen geht. Die Erzählstruktur verleitet den Leser dazu, eine personale Identität der Protagonistin zu konstruieren, die der Roman als solche bewusst nicht anbietet. Gerade durch die kaleidoskopische Sicht mit Leerstellen, Brüchen und Widersprüchen bleibt der Leser auf der Suche nach dem Wesen, dem Charakter, der Identität der Hauptfigur
Raumstruktur
Paratexte - Umgestaltung und Motto
Themen - Schlaglichter auf die gegenwärtige Gesellschaft
Lebensphasen und Alterungsprozesse
Lebensentwurf und -bilanz der Protagonistin
Alter(n) und Generation
Vermeidung und Verdrängung
Auschwitz und das Judentum (2.und 3. Kapitel)
Kriegsverbrechen (6. Kapitel)
Familienschweigen (1. und 10. Kapitel)
Alter und Tod (10. und 12. Kapitel
Rollenbild der Frau
Anmerkungen
- ↑ Begriff bezieht sich auf Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 2008, S. 15
- ↑ Begriff bezieht sich auf Gérard Genette, Die Erzählung, Paderborn 2013, S. 121
- ↑ s. Nr. 1, S.16
- ↑ s. Nr. 2, S. 159
- ↑ Alle Seitenangaben beziehen sich auf die erste Taschenbuchausgabe von: Eva Menasse, Quasikristalle, München 2014
- ↑ Vgl. die Symmetrie bei den Schauplätzen Wien und Berlin und die Lebensmitte der Protagonistin als Achse im Altersverlauf