Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (von Ulrich Teiner)

Aus Literarische Altersbilder

Referat im Arbeitskreis für Gasthörer/innen: „…sie sind verrückt oder er“. Literarische und philosophische Perspektiven auf ‚Wahnsinn’ und ‚Demenz’. Leitung: Dr. Miriam Haller, WS 2012/2013

Zunächst einige Bemerkungen zum Autor:

Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa im sibirischen Ural geboren. Sein Vater war der DDR-Historiker Wolfgang Ruge, der als Jugendlicher vom stalinistischen Regime in das Lager 239 verbannt worden war. (Hier deckt sich die Roman-Realität der Personen Kurt und Alexander mit dem realen Leben des Autors und seines Vaters). Die Familie kam nach Ost-Berlin, als Eugen Ruge zwei Jahre alt war. Ruge studierte an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Mathematik und wurde nach dem Abschluss wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. In den 80iger Jahren arbeitete er bei dem DDR-Filmunternehmen DEFA im Bereich Dokumentarfilm. 1988 ging er in den Westen. Hier arbeitete er als Autor für Theater, Film und Funk. Das Buch „In Zeiten des abnehmendes Lichts“[1] ist Ruges erster Roman und wurde 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Ruge ist Vater von vier Kindern und lebt heute in Berlin und auf Rügen.

Zum Roman:

Der Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist die Geschichte der Familie Umnitzer über insgesamt vier Generationen und erstreckt sich über einen Zeitraum von ungefähr 1940 bis 2001. Ort des Geschehens ist größtenteils das Umfeld von Ost-Berlin, zu kleineren Teilen sind es aber auch Mexiko und Westdeutschland (Moers). In den Familiengeschichten der Umnitzers spiegelt sich aber auch die Utopie vom Aufbau eines Sozialistischen Staates, seine bald beginnende Stagnation und letztlich das Scheitern.

Die wichtigsten Personen sind:

Wilhelm (*1899) und Charlotte Powileit (*1903), letztere eine geschiedene Umnitzer, Wilhelm ist ihr zweiter Mann. Charlottes Kinder aus erster Ehe sind Werner und Kurt Umnitzer (*1921). Kurt ist der Historiker und mit der Russin Irina (*1927) verheiratet. Sie haben gemeinsam den Sohn Alexander (*1954), familienintern Sascha genannt. Mit in ihrem Haushalt lebt Nadjeshda Iwanowa (*1911), die Mutter von Irina. Die vierte Generation repräsentiert Markus Umnitzer (*1977), der Sohn von Alexander aus seiner Ehe mit Melitta.

Der Roman hat drei unterschiedliche Handlungsstränge. Handlungsstrang eins sind jene Kapitel, die die Mexiko-Reise Alexanders schildern. Sie sind alle mit der Jahreszahl 2001 überschrieben. Insgesamt gibt es davon fünf. Im ersten beschließt Alexander, nach einem längeren Krankenhausaufenthalt mit der Diagnose einer nicht therapierbaren Krankheit entlassen, nach Mexiko zu fliegen, dem Exil-Ort seiner kommunistischen Großmutter und ihres zweiten Ehemanns Wilhelm. Hübsche Pointe, dass er das Geld für diese Reise der Demenz seines Vaters zu verdanken hat, der, mit beginnender Demenz, weiter seine gewohnten Gänge zur Post machte, wo er zwar keine Post mehr einzuliefern hatte, aber, solange er noch die Geheimzahl kannte, Geld zog: insgesamt 27000 Mark. Schon am nächsten Tag fliegt Alexander, wegen der Auswirkungen von nine/eleven auf den Flugverkehr mit einigen Verzögerungen, nach Mexiko. Erste Eindrücke von Mexiko-Stadt: Eine Band spielt das Lied, das er schon als kleiner Junge auf einer Schallplatte der Oma hörte. Alexander geht zu der Adresse, wo sie und Wilhelm gewohnt haben, wird dabei von zwei Jungen seines Geldes beraubt.

Im nächsten 2001-Kapitel besucht er die Aztekenstadt Teotihuacan mit der drittgrößten Pyramide der Welt, weil seine Großmutter da ausweislich eines Fotos auch mal war. Später fährt er nach Veracruz. Hier ist seine Großmutter seinerzeit als Exilantin mit dem Schiff angekommen. Danach fährt er weiter zur pazifischen Seite Mexikos in einen Ort namens Puerto Angel. Hier formuliert er in Gedanken einen Brief an seine Lebensgefährtin Marion, die bisher überhaupt noch nichts von seiner Mexiko-Reise weiß. Er teilt ihr – in Gedanken – mit, dass er Zeit seines Lebens das Gefühl gehabt habe, „nicht dazuzugehören“ (411) und dass er glaube, ihr eine weitere Beziehung mit ihm wegen seiner Krankheit nicht mehr zumuten zu können, weil er wegen dieser Krankheit „nur der Nehmende wäre.“ (413) Aber soeben mache er die „seltsame Erfahrung, dass man nicht unbedingt besitzen muss, was man liebt.“ (413) Beim Blättern in den Notizen seines Vaters, die er bei seinem letzten Besuch vor der Mexico-Reise an sich genommen hatte, stellt er fest, dass dessen Erinnerungen an Begegnungen mit ihm stark von seinen eigenen Erinnerungen abweichen.

Die Gründe für den Entschluss zur Mexiko-Reise liegen nicht auf der Hand. Der Exil-Aufenthalt der Großmutter ist wohl eher Anlass, nicht Grund der Reise. Vielmehr scheint Alexander sich in seinen Reflexionen im letzten 2001-Kapitel als gescheiterte Existenz zu sehen. Seine Tätigkeit im Westen: ein dutzend Inszenierungen an immer schlechteren Theatern. Unsicherheit in der Beziehung zu Marion, unheilbar krank, antriebslos und ohne Perspektive und damit konfrontiert, dass sein Vater ihn kritischer sieht als er sich selbst. Die Geschichte von Alexander in Mexiko hat einen auktorialen, allwissenden Erzähler, der so allwissend ist, dass er das letzte Kapitel im Futur schreibt „Wenn die Sonne unwiderruflich ins Meer abgetaucht ist, wird er als einziger Gast an einem der weißen Plastiktische des „Al Mar“ sitzen und Fisch essen.“ (409) Futur als Ausdruck für die täglichen, mehr oder weniger gleichen Rituale, die Alexander in Mexiko absolviert. Alles ist vorhersehbar. „Schwebezustand. Embryonale Passivität.“ (407) In der Hängematte.

Der zweite Erzählstrang ist mit aufsteigenden Jahreszahlen überschrieben: 1952, 1959, 1961, 1966, 1973, 1976, 1979, 1991 und 1995. Insgesamt neun Kapitel. Erzählt wird keine durchlaufende Geschichte, sondern erzählt werden gewisse Szenen und Ereignisse aus dem Umfeld der Familie Umnitzer, in denen sich aber auch Geschichte und Atmosphäre der DDR spiegeln. Formal bemerkenswert ist, dass diese Geschichten jeweils aus der Perspektive einer der handelnden Hauptpersonen des Romans geschildert werden. Der Leser sieht die Welt mit Augen je einer Romanfigur. Im Folgenden schildere ich kurz zusammengefasst die einzelnen Kapitel.

1952

Wird erzählt aus dem Focus von Charlotte. Charlotte und ihr Mann Wilhelm leben seit 1940 als Exilanten in Mexiko-Stadt, arbeiten mit bei der kommunistischen Zeitung Demokratische Post, wo sie gerade wegen „Verstoßes gegen die Parteidisziplin“ (37) in Ungnade gefallen sind. Sie konnten bisher nicht nach Deutschland zurück, weil sie Mühe hatten, alle dafür nötigen Papiere zusammen zu kriegen. Im April 1952 ist es dann soweit: Charlotte soll Direktorin eines Instituts für Literatur und Sprachen in der DDR werden, Wilhelm dessen Verwaltungsdirektor. Charlotte hat ihre gesamte Karriere der Partei zu verdanken, kam auch in Mexiko zurecht. Sie ist Zeit ihres Lebens eine strenge und strenggläubige Parteisoldatin. Wilhelm lernte in den 12 Jahren in Mexiko nur wenige Wörter Spanisch, lässt diese wenigen Wörter (hombre) aber ständig in seine Reden einfließen, um damit den Eindruck von Weltläufigkeit zu erwecken. Er glaubt, dass mit der Rückkehr nach Deutschland seine große Zeit beginne. Dabei ist er in den Augen Charlottes einfach nur dumm.

1959

Wird erzählt aus der Perspektive des fünfjährigen Alexander, innerfamiliär meist Sascha oder von seiner Mutter Irina Saschenka genannt. Der Focus des fünfjährigen Jungen reicht bis in die Sprache: Charlotte ist Omi, Irina Mama. Omi nennt ihn Spätzchen. Sascha isst bei Omi und Wilhelm zu Abend. Wilhelm liefert mit seinen ewig wiederholten Klischee-Sprüchen über Indianer und den Kapitalismus einen weiteren Beweis seiner Dummheit. Nebenbotschaft über die Willkürherrschaft der DDR: Man kann verhaftet werden, wenn man Milch ohne Marken verkauft.

1961

Aus der Perspektive von Charlotte. Sie ist jetzt Sektionsleiterin und Dozentin für Literatur und Spanisch an einem Institut, das künftige DDR-Diplomaten ausbildet. Wilhelm ist pensioniert, wegen Unfähigkeit. Da aber jemand, der seit über 40 Jahren in der sozialistischen Partei ist, nicht unfähig sein kann und darf, leitet er selbstinszenierte Parteiversammlungen in seinem Keller. Außerdem ist er ehrenamtlicher Wohnbezirksparteisekretär und liest das ND täglich von der ersten bis zur letzten Zeile.

1966

Aus der Perspektive von Kurt. Er kam vor zehn Jahren als 35jähriger aus Slawa hinterm Ural, wohin man ihn 20 Jahre vorher als Fünfzehnjährigen und „Auf ewig Verbannten“ (162) deportiert hatte, in die DDR. Grund für die Verbannung: Kritik am Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin, geäußert in einem Brief an seinen ermordeten Bruder Werner. Er ist jetzt nach einem Moskau-Besuch auf der Fahrt vom Flughafen nach Hause und denkt darüber nach, wie man ihn, den einst Verbannten, der darüber natürlich in der DDR nicht reden darf, bei seinem jetzigen Besuch hofiert hatte. Zu Hause wird er umgehend konfrontiert mit dem Realsozialismus: Ein Mitarbeiter Kurts soll mit Parteiausschluss diszipliniert werden, weil er Kritisches über die DDR-Einheitsfront-Politik gesagt hat.

1973

Aus dem Focus von Alexander. Alexander ist bei der NVA. Der Drill ist inhuman und indoktrinär. Beim Besuch seiner Freundin Christina versucht er, sie zu vergewaltigen. Er überlegt, sich selbst zu verletzen, um dienstuntauglich zu werden, bekommt stattdessen Sonderurlaub wegen lebensbedrohlicher Krankheit seines Stiefgroßvaters Wilhelm und besucht ihn – widerwillig, aber auf Drängen Kurts - in Uniform. Offenbar hilft es, denn Wilhelm lebt noch 16 Jahre.

1976

Aus der Perspektive von Irina. Beim Vorbereiten der Weihnachtsgans mit einer Füllung von in der DDR schwer erhältlichen Aprikosen denkt Irina über die verbreitete Tauschwirtschaft der DDR nach. Kaviar gegen Keramik gegen Dachfenster gegen Aal gegen Rumpsteaks usw. Zum Essen kommen Nadjeshda, Irinas Mutter, Sascha mit neuer Freundin Melitta, Wilhelm und Charlotte. Obwohl sich die meisten untereinander nicht grün sind, bringen sie das gemeinsame Essen irgendwie ohne offenen Streit über die Runden. Irina mag Saschas Freundin nicht, sie isst kein Fleisch, sie trinkt keinen Alkohol - sie ist schwanger.

1979

Aus dem Focus von Kurt. Alexander hat seine Frau Melitta und seinen Sohn Markus verlassen, lebt in einer heruntergekommenen besetzten Wohnung, was Kurt unmöglich findet. Außerdem hat er sein Studium geschmissen. Der Grund: „Ich will nicht mein Leben lang lügen müssen. - So ein Quatsch, sagte Kurt. Willst du sagen, ich lüge mein Leben lang? Sascha schwieg.“ (299) Und das sagt alles. Ihr Versuch, ein Lokal zum Essen zu finden, endet resigniert und DDR-typisch in einem Stehimbiss.

1991

Aus der Perspektive von Irina. Irina bereitet wieder eine Weihnachtsgans vor. Der Unterschied zu 1976: „Wenn Irina hätte erklären sollen, woher die Aprikosen kamen, die sie für die Füllung ihrer Klostergans benötigte, hätte ein Satz genügt: Die Aprikosen kamen aus dem Supermarkt. Auch die Weintrauben kamen aus dem Supermarkt. Die Feigen kamen aus dem Supermarkt.“ (351) Usw., usw. Sie fürchtet nun, nach der Wende, den Verlust ihres Hauses, in dem sie viel umgebaut und verbessert hat. Stichwort: Rückübertragung. Sie und Kurt erwarten aus Moers den Besuch von Sascha mit seiner neuen Freundin Catrin. Kurt und Sascha streiten heftig über „Kapitalismus“ und „Scheißsozialismus“. (367) Irina fällt betrunken um, bevor die Gans fertig ist.

1995

Aus der Sicht von Markus. Markus’ Mutter Melitta hat den Pfarrer Klaus geheiratet. Der ist im Bundestag. Sie sind also eigentlich Wendegewinner. Aber Markus kommt nicht so gut zurecht, hat Probleme mit seiner Ausbildung bei der Telekom, nimmt Drogen. Er geht zur Beerdigung seiner Oma Irina, sieht seinen Opa Kurt und seinen Vater Sascha, die ihn aber nicht sehen oder beachten. Nicht nur die DDR ist am Ende, die Familie Umnitzer ist es auch.

Ich komme zum dritten Erzählstrang. Er ist immer mit dem Datum 1. Oktober 1989 überschrieben, insgesamt sind es 6 Kapitel. Die Erzählweise gleicht der im zweiten Strang, nämlich dass diese Geschichten jeweils aus dem Focus einer der handelnden Hauptpersonen des Romans erzählt werden. Aber im Unterschied zu den Episoden, die mit wechselnden Jahreszahlen überschrieben sind, geht es hier immer um dasselbe Ereignis: die Feier des 90. Geburtstags von Wilhelm Powileit am 1. Oktober 1989.

Zunächst aus der Perspektive von Irina. Sie ist genervt von den Mühen der Vorbereitung, die Charlotte ihr wie selbstverständlich abverlangt, hasst Besuche bei Wilhelm und Charlotte sowieso, liest im ND von der Verbundenheit mit der VR China, erinnert sich an die Konfrontation von unbewaffneten Menschen und Panzern auf dem Platz des Himmlischen Friedens. In diese miese Stimmung platzt die telefonische Nachricht, dass ihr Sohn Sascha in den Westen getürmt ist.

Aus der Sicht von Nadjeshda, Irinas Mutter. Sie denkt nach über die Jahrzehnte hinterm Ural und fragt sich, ob es gut war, in die DDR zu kommen. Sie sorgt sich über Sascha und ob der wohl in Amerika (so heißt die BRD für sie), zu recht kommt. Sie geht mit Kurt zum 90. Geburtstag von Wilhelm, trifft dort Melitta, Ex-Frau von Alexander, und Markus, ihren gemeinsamen Sohn. Irina, die die Nachricht von Saschas Flucht noch nicht verarbeitet hat, geht nicht zur Geburtstagsfeier.

Aus dem Focus von Wilhelm. Wilhelm weiß an seinem Geburtstag nichts mit sich anzufangen, ist desorientiert und glaubt, dass Charlotte ihn mit seinen Tabletten vergiften wolle. Sagt jedem Gratulanten mit Blumen: „Bring das Gemüse zum Friedhof“ (202). Steckt gratulierenden Frauen altersgeil gern einen Hundertmark-Schein ins Dekolleté. Ansonsten findet das übliche Parteiritual eines Parteigeburtstages statt, einschließlich Ordensverleihung. „Ich hab genug Blech im Karton“, sagt Wilhelm dazu. (206) Erst der demente Wilhelm, der den Symbolgehalt von Orden nicht mehr versteht, erkennt, was seine Orden sind: Blech, verliehen für nicht stattgefundene Partei-Heldentaten, nichts als Blech. Er singt: „Die Partei, die Partei, die hat immer recht…“. (208) Übriggebliebenes Versatzstück einer 70jährigen Parteizugehörigkeit.

Aus der Perspektive von Markus. Markus geht mit seiner Mutter Melitta zum 90. Geburtstag von Wilhelm. Hat dazu keine Lust, darf auf Anweisung seiner Urgroßmutter auf keinen Fall über Ungarn oder gar die Flucht seines Vaters sprechen. Das Haus der Urgroßeltern ist für ihn ein „Naturkundemuseum“ (279), die Gesellschaft eine „Saurierversammlung“ (280), sein Urgroßvater ein „Pterodactylus, Flugsaurier.“ (280)

Aus dem Focus von Kurt. Wilhelm ist für Kurt „… ein starrsinniger alter Idiot“ (328), die Gäste sind nur stumpfsinnige „Funktionärre“ (338), wie sie Irina zu beschimpfen pflegt. Einziger Lichtblick dieser Veranstaltung ist Ex-Schwiegertochter Melitta, deren erotische Ausstrahlung einen Aufruhr in seiner Hose verursacht, während ein Funktionär eine verlogene Ordens-Verleihungs-Rede über das verlogene Helden-Leben Wilhelms hält. Wilhelms Gesang der Partei-Hymne ist für Kurt „verbrecherisch“(343), „… die Verhöhnung von Millionen Unschuldigen, auf deren Knochen dieser sogenannte Sozialismus errichtet worden war …“. (343) Die Ursache des Krachens, das Markus in seiner Episode hört, aber nicht zuordnen kann, wird jetzt aufgelöst: das Buffet ist zusammengebrochen, weil der Einzige, der den Ausziehtisch fachgerecht zusammenbauen konnte, nämlich Sascha, in den Westen gegangen ist. Kurt beschließt, seine Memoiren zu schreiben, beginnend mit jenem Tag im August 1936, an dem er mit seinem Bruder an Bord eines Fährschiffes Warnemünde Richtung SU verlässt. Erster Schritt zur Bewältigung seiner Lebenslügen.

Aus der Perspektive von Charlotte. Am Ende von Wilhelms Geburtstag steht Charlotte vor den Trümmern des Buffets wie die gesamte DDR vor den Trümmern ihres Staates. Sie räsoniert über Wilhelms zunehmende Demenz – er ist für dieses Chaos verantwortlich, weil er den Ausziehtisch nicht sachgerecht zusammengebaut hat – weist aber seinerseits jegliche Verantwortung dafür von sich. Die Partei hat immer recht. Charlotte mischt in Wilhelms Abendtee zwei Esslöffel ihres Asthmamittels, obwohl der Doktor ihr gesagt hatte, eine Überdosis führe zum Atemstillstand. In diesem Kapitel erfahren wir nichts mehr von Wilhelms Tod. An anderer Stelle des Buches wird aber erwähnt, dass er am Tag dieses Geburtstages verstorben ist.

Die Familie Umnitzer und die DDR sind am Ende. Kurt lebt noch, schwerstdement. Alexander ist unheilbar krank, sein Sohn Markus nimmt Drogen und schludert mit seiner Ausbildung. Die Stärke des Buches ist die Dichte seiner atmosphärischen Schilderungen, die aufdecken, auch karikieren, aber nicht böse abrechnen. Das Buch ist traurig und zugleich ungeheuer komisch. Der Aufbau ist komplexer, als das in meiner Nacherzählung, in der ich die drei Stränge jeweils zusammenfasse, sichtbar wird. Im Buch wechseln einzelne Elemente dieser drei Stränge einander ab, dabei gibt es auch große Zeitsprünge, vor und zurück. Diese Komplexität erhöht das Lesevergnügen ohne die Verständlichkeit zu erschweren.

  1. Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg, November 2012 (Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe)