Eva Menasse, Quasikristalle

Aus Literarische Altersbilder

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Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu diesem Roman war die Feststellung, dass es um eine Figur geht, die einerseits eindeutig im Mittelpunkt steht, andererseits aber doch nicht zu fassen ist. Aus dieser Beobachtung entwickelten sich zwei Arbeitshypothesen:

  • Die Erzählstruktur verleitet den Leser dazu, eine personale Identität zu konstruieren, die es als Kontinuität, abgeschlossene Größe nicht gibt.
  • Die kaleidoskopartige Struktur spiegelt auch den Umgang mit historischen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Themen und Problemen vor allem in Österreich und Deutschland.

Diese Thesen sollen im Folgenden in ihrer Geltung geprüft und entsprechend verworfen oder begründet werden.

Strukturen – Zum Aufbau des Romans

Erzählstruktur

Der Roman besteht aus 13 Kapiteln, von denen 12 in personaler Perspektive[1] bzw. interner Fokalisierung[2] erzählt werden, während das zentral liegende siebte Kapitel in der Ich-Perspektive[3] bzw. autodiegetisch[4] erzählt wird. Die 12 Kapitel werden aus 12 verschiedenen personalen Perspektiven erzählt, so dass hier eine gesteigerte Form des multiperspektivischen Erzählens vorliegt. Im siebten Kapitel begegnet uns dagegen die Ich-Erzählerin, bei der es sich um die Protagonistin des gesamten Romans handelt, eine Frau namens (Ro-)Xane Molin. Sie taucht in den übrigen Kapiteln mehr oder weniger zentral als Figur auf, über die wir indirekt im Kontext eines erzählten Geschehens erfahren; sie wird in Außensicht gezeigt in dem, was die jeweilige personale Perspektive von ihr erkennt bzw. zu erkennen glaubt. Diese Gestaltung der Erzählsituation hat für den Leser zur Folge, dass er den Erzählvorgang kaum wahrnimmt, sondern den Eindruck hat, das Geschehen und die Figuren spiegelten sich im Bewusstsein der Erzählfigur, aus deren Sicht Xane beschrieben wird. Die Protagonistin bleibt dadurch im überwiegenden Teil des Romans in Distanz zum Leser, eine Identifikation des Lesers wird verhindert. Außerdem muss dieser sich in jedem Kapitel auf eine neue Erzählfigur einstellen und deren Eigenschaften, Interessen und Beziehung zu Xane ergründen. Dadurch steht die jeweilige Erzählfigur im Vordergrund der Kapitel. Besonders groß ist die Distanz zur Protagonistin im 12. Kapitel, in dem die Figur, aus deren Perspektive erzählt wird, eine Journalistin, die an einem Artikel über Morde an pflegebedürftigen alten Menschen arbeitet, Xane gar nicht kennt, sondern sie als eine beliebige Frau im Park vor ihrem Fenster beobachtet. Das Leben der Romanfiguren wird dem Leser vorgeführt als Mosaiksteinchen im Leben der Anderen, entsprechend dem Zitat des englischen Dichters John Donne (1572 – 1631), das dem letzten Kapitel vorangestellt ist: „No man is an island, entire of itself./Every man is a piece of the continent, a part of the main.“[5] Zusammen mit dem ebenfalls von John Donne stammenden Zitat, das dem gesamten Roman vorangestellt ist, ergibt sich ein Rahmen, der auf die Symmetrie verweist, die der Roman in verschiedenen Aspekten[6] aufweist.

Zeit- und Handlungsstruktur

Nicht nur die Erzählfiguren wechseln von Kapitel zu Kapitel, sondern auch die erzählte Zeit verläuft zwar chronologisch, macht aber dabei unterschiedlich große Sprünge. Im ersten Kapitel ist Xane 14 Jahre alt und wird aus der Sicht ihrer besten Freundin gezeigt. Die pubertierenden Mädchen verbringen in den Sommerferien viel Zeit miteinander, erproben Zigaretten und Drogen, Xane hat sich verliebt und treibt den Wechsel auf ein Gymnasium in der Stadt voran. Der plötzliche Tod der gemeinsamen Freundin Claudia und die Trennung der ehemals besten Freundinnen bedeuten „das Ende der Kindheit“ (S. 48). Wir erleben Xane als Studentin bei einer Exkursion nach Auschwitz aus der Sicht des Professors und als junge Mieterin am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn aus der Perspektive des im Haus wohnenden Vermieters. Die Schwester ihrer Jugendfreundin begegnet der Protagonistin, die inzwischen verheiratet ist und eine Agentur für politisch engagierte, kritische Werbekampagnen leitet. Im fünften Kapitel wird Xane von einer Gynäkologin geschildert, die ihr nach einer Fehlgeburt zur Erfüllung des Kinderwunsches verhelfen soll. Das sechste Kapitel erzählt die zufällige Begegnung mit einem älteren Mann, der seine Familie im Krieg verloren hat und der seitdem für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag arbeitet; es entwickelt sich eine erotische Beziehung, die jedoch bei den gelegentlichen Treffen nicht ausgelebt wird. Das folgende Kapitel in der Ich-Perspektive stellt die durch ein Treffen mit einer alten Freundin ausgelösten Reflexionen über das eigene Leben dar und findet offensichtlich in der Lebensmitte statt. Elemente des sechsten und des achten Kapitels, welches aus der Perspektive der Stieftochter im Teenager-Alter erzählt, spielen zur selben Zeit und zeigen Xane in der Mutterrolle. Im Kontrast dazu präsentiert das neunte Kapitel die Protagonistin als Chefin eines Mitarbeiters, der von ihr entlassen wird. Im zehnten Kapitel dürfte Xane eine Frau von über fünfzig sein, denn ihr Vater, dessen Geburtstag gefeiert wird, bemerkt ihr graues Haar und ihr Sohn steht im Abitur. Von einem Nervenzusammenbruch, einem Seitensprung und schweren finanziellen Problemen ihrer Firma erfährt der Leser im 11. Kapitel aus dem Gespräch zweier Freundinnen aus Studienzeiten. Die Perspektivfigur des 12. Kapitels sieht Xane als „alte Frau“ (S. 387), deren Mann auf der Parkbank vor ihrem Fenster stirbt. Im letzten Kapitel ist Xane Großmutter und ist , wie man einem Brief entnehmen kann, den ihr Sohn drei Jahre seines Vaters schreibt, eine neue Beziehung eingegangen.

Der Roman hat keine Handlung im Sinne eines zusammenhängenden Geschehens. Eher lässt sich von Ereignisstrukturen sowie Zeit-und Raumrelationen sprechen. Die einzelnen Kapitel zeigen Ausschnitte, Puzzlesteine, Stationen aus dem Leben der Protagonistin, bei denen es weniger um Taten oder Ereignisse geht als um Beziehungen zwischen Xane und den jeweiligen Erzählfiguren, also soziale Relationen geht. Die Erzählstruktur verleitet den Leser dazu, eine personale Identität der Protagonistin zu konstruieren, die der Roman als solche bewusst nicht anbietet. Gerade durch die kaleidoskopische Sicht mit Leerstellen, Brüchen und Widersprüchen bleibt der Leser auf der Suche nach dem Wesen, dem Charakter, der Identität der Hauptfigur

Raumstruktur

Parallel zum Werdegang bzw. den Altersphasen der Protagonistin wechseln auch die Schauplätze: zu Anfang finden wir Xane in der ländlichen Umgebung von Wien, von wo sie mit dem Wechsel der Schule am Ende des Kapitels den Weg in die Stadt antritt. Das zweite und längste Kapitel des Romans hat Auschwitz als Schauplatz, der exemplarisch ist für die Themen Umgang mit dem Holocaust, Betroffenheitstourismus und in Xanes Fall für die Erforschung ihrer jüdischen Wurzeln. Im dritten Kapitel ist Wien der Schauplatz, in das sie im zehnten Kapitel besuchsweise und im 13. Kapitel dauerhaft zurückkehrt. Die längste Zeit ihres Lebens verbringt die Hauptfigur in Berlin, die Stadt tritt vor allem im vierten und achten Kapitel als Schauplatz deutlich hervor. Das sechste Kapitel hat neben Berlin auch London und Brüssel als Schauplätze, wodurch der Blick auf Europa geweitet wird.

Diese Räume werden allerdings nicht beschrieben, treten nicht als wesentliche Elemente des Romans hervor, sondern bilden lediglich den Hintergrund für die Figuren. Besonders deutlich wird dies bei Berlin, von dem keine Örtlichkeit geschildert wird, sondern Orte nur genannt werden: der „Ku’damm“ (S. 286) oder der „Kleistpark“ (S. 295). Auch hier haben wir es also mit Leerstellen zu tun, der Leser muss sich den Schauplatz aufgrund weniger Signale selbst konstruieren. Trotzdem verbinden sich durch die dargestellten Gedanken und Empfindungen der Figuren mit den Schauplätzen atmosphärische Eindrücke und Bezüge zu gesellschaftlichen Lebensstilen und Problemen. So zeigt z.B. das vierte Kapitel eindrucksvoll das Nebeneinander von Menschen aus dem Kulturleben Berlins, zu denen Xane gehört, und dem „Secondhandladen im Hinterhof der Adalbertstraße“ (S. 151), der für das unterprivilegierte Berlin steht, in dem die Erzählfigur Sally lebt, in dem Xane aber „völlig hilflos“ (S. 151) ist.

Paratexte - Umgestaltung und Motto

Auf die Struktur des Romans verweist bereits sein Titel. Die Quasikristalle[7] wurden 1982 von dem Physiker Dan Shechtman entdeckt, der bei einer Kristallanalyse eine Ikosaeder[8] -Form feststellte, aus der sich keine periodische Struktur ergibt, die wesentliches Kennzeichen von Kristallen ist. Während bei einem Kristall jede Zelle von Zellen umgeben ist, die ein identisches Muster bilden, also periodisch wiederkehren, befinden sich die Moleküle eines Quasikristalls zwar lokal in einer regelmäßigen Struktur, im globalen Maßstab aber ist jede Zelle von einem jeweils anderen Muster umgeben, folglich aperiodisch. Dazu passend zeigt der Buchumschlag des Romans eine nach dem Forscher Penrose benannte Parkettierung von aperiodischen Kachel-Mustern, welche eine Fläche lückenlos füllt, ohne dass sich dabei ein Grundschema periodisch wiederholt.

Die Quasikristalle können als Metapher oder genauer Symbol im Sinne Goethes[9] einerseits für die Struktur bzw. Form des Romans und andererseits für dessen Inhalt verstanden werden. Wie die Raum-Zeit-Struktur des Romans nur teilweise Regelmäßigkeit oder gar Symmetrie aufweist, so lässt sich auch der einzelne Mensch nicht als Zelle in einem großen periodischen Muster verstehen, sondern konstituiert sich erst durch die Beziehungen zu anderen Menschen. Der Roman spielt mit der Beziehung zwischen dem Selbstbild der Protagonistin und den Fremdbildern, die andere Figuren, die deshalb auch so breiten Raum einnehmen, von der Protagonistin haben. Nicht die Identität oder die Summe der Identitäten bestimmen das Leben, sondern die Beziehungen. Wir erfahren die Figur nicht in ihrer Identität, sondern in ihren Beziehungen, die wechselnde Rollen konstituieren und somit eine Quasiidentität bilden.

Das dem Roman vorangestellte Zitat von John Donne weist auf die Gefahren einer Zersplitterung des sozialen Lebens hin, wenn der Einzelne sich selbst absolut setzt, d.h. die Individualität zur lebensbestimmenden Kraft macht – ein in der modernen Welt durchaus aktueller Gedanke. Entgegen dem von Donne beklagten Schwinden sozialer Rollen erleben wir Xane Molin gerade in den verschiedenen Rollen ihres Lebens als Freundin, Mieterin, Mutter, Patientin, Tochter usw. . Auch einige der den einzelnen Kapiteln als Leitsätze vorangestellten Zitate passen zu diesem Gedanken, allen voran das das oben bereits erwähnte Zitat von Donne vor dem letzten Kapitel, aber auch die Leitsätze zu den Kapiteln acht und elf. Der Blick auf die vor den Kapiteln stehenden Motti ergibt kein Gesamtbild im Sinne einer Aussage über den gesamten Roman. Die aus sehr unterschiedlichen Texten und Epochen stammenden Zitate stehen in unterschiedlicher Beziehung zum Inhalt der jeweiligen Kapitel. Eine Reihe von Zitaten scheint in affirmativer Relation zum Kapitel zu stehen; beispielsweise entspricht das Zitat von Janet Frame „Nichts war einfach, bekannt, sicher, geglaubt, verbürgt“ treffend die Adoleszenz, in der sich Xane und Judith befinden. Bei anderen Kapiteln besteht dagegen ein Spannungsverhältnis zum jeweiligen Inhalt, so z. B. beim siebten Kapitel; bedeutet das Horaz-Zitat „Angenehm ist es, zur rechten Zeit ein Narr zu sein“ (S. 238), dass das Selbstbild Xanes eine Täuschung ist, wer ist der Narr und warum? Sicher lässt sich sagen, dass die Zitate Aufmerksamkeit hervorrufen und Leseimpulse bilden. In ihrer Gesamtheit spiegeln sie die kristalline Struktur des Romans.

Themen - Schlaglichter auf die gegenwärtige Gesellschaft

Lebensphasen und Alterungsprozesse

Lebensentwurf und -bilanz der Protagonistin

Das siebte Kapitel wird in mehrfacher Hinsicht besonders betont:

  • Es steht genau in der Mitte des Romans, sechs Kapitel gehen vorher, sechs folgen.
  • Es ist es das einzige Kapitel aus der Ich-Perspektive Xanes.
  • In dem Kapitel ist Xane mit Mitte 40 auf dem Höhepunkt ihres Lebens: sie hat alles erreicht, was sie sich gewünscht hat, beruflich und privat, und gerät doch oder gerade deshalb in eine Midlife-Krise.

Ausgangspunkt für Xanes Betrachtung ihres eigenen Lebens und ihrer Wünsche ist ein Treffen mit ihrer Freundin Krystyna in Wien, die sich - obwohl glücklich verheiratet und Mutter von zwei Kindern - verliebt hat. Wie Teenager sprechen die beiden kichernd über diesen Mann, die Versuchung und darüber, wo der Verrat beginnt.

Xane beginnt ihre Bilanz in Gedanken gleich mit dem ersten Satz des Kapitels „Ich lebe so, wie ich es immer wollte.“ (S. 238) Sie fühlt sich sicher und geborgen, hat nach schwierigen Phasen die Familienarbeit mit drei Kindern, die im ganzen gut geraten, im Griff, schafft es sogar mit viel Organisation Freiräume für sich und ihren Mann zu schaffen. Das Wichtigste aber ist ihr Mann, der so gut zu ihr passt und mit dem es nicht langweilig wird: „Den Mann gefunden zu haben, bleibt das eigentliche Wunder.“ (S. 239) Sie reflektiert seine und ihre Eigenschaften und wieso sie so gut harmonieren und denkt: „Es geht uns gut. Die Lebensmitte ist sicher und berechenbar wie eine ungestaffelte Warmmiete.“ (S. 240) „Und trotzdem genügt das alles manchmal nicht. Trotzdem wird jedes Paradies irgendwann zum Käfig.“ (240) Sie hat Angst vor einer Versuchung und wünscht sie sich zugleich als Möglichkeit, so wie sie auch Krystyna um die belebende Wirkung des Verliebtseins beneidet. Sie denkt an die Situation mit Nelson, vergleicht ihn mit ihrem Mann Mor(itz) und reflektiert ihre Ehegeschichte mit Leidenschaft und Pathos. Die erste Begegnung mit Mor bezeichnet sie als „existentielles Erdbeben. Die Zeitrechnung begann neu …“ ( S. 245) und zitiert Platons Kugelmenschen (vgl. S. 245), um ihre perfekte Ehe zu charakterisieren. „Und trotzdem öffnen sich nach so vielen Jahren unversehens Spalten, in die etwas eindringen kann, was man als Frischluft empfindet.“ (S. 247) Xane reflektiert ihre Rolle als Freundin, als „Resonanzkörper“, als Mitwisserin der „ amour fou", die vielleicht diesen Freundschaftsdienst eines Tages selbst benötigen wird. (S. 250)

Xane befindet sich in der Mitte ihres Lebens, einer Zeit, die prototypisch ist für den Übergang, die Schwelle zwischen Ablösung und Integration, Stillstand und Aufbruch, Krise und Neuanfang: „Das Leben ist gleichzeitig festgefahren und fragil, ein Fahrzeug, das in einer steilen Kurve hängengeblieben ist.“ (S. 262) Im Vergleich mit ihrer Freundin Krystyna fühlt sie sich „alt und missgünstig“ (S. 262). Ihre ausführlichen Gedanken zum „Ablaufdatum“ (S. 269) der Frauen nach der Menopause, Eifersucht auf Jüngere („(stutenbissig“ S. 271) und „zertifizierte Wahnsinnsfrauen“ (S. 270) ohne Mann erscheinen drastisch und witzig überzeichnet, mit Anklängen an Frauenzeitungen und Ratgeber-Portale und enden in der Verteidigung von Sex und Abenteuer, solange es noch geht (S.272).

In diesem Kapitel werden die Phasen im Leben einer Frau thematisiert, die die Protagonistin als „Folge von unverbundenen Zellen, in denen man je nach Alter einsitzt“ (S. 271) empfindet. Dieses negative Bild verdeutlicht Xanes Erleben, dass sie jeweils in einer Lebensphase beschnitten wird.

Eine besondere Anforderung für die Integration neuer Rollen stellt die Mutterschaft dar. Nach der Geburt ihres Sohnes leidet Xane unter einer postnatalen Depression mit Angst und Albträumen und spürt, „warum Frauen ihre Babys töten. Im Grunde aus Liebe.“ (S. 251) Danach fühlt sie sich auf die Mutterrolle reduziert. „In dieser Zeit gibt es keine Leichtigkeit. Genauso wenig gibt es Sexualität, die den Namen verdient.“ (S. 252) Erst wenn das Kind stehen kann, beginnt die „Wiedermenschwerdung“ (S. 253), d.h. dass die Frau auch wieder eigenständig agieren und eigene Bedürfnisse haben kann. „Um sich halbwegs menschenwürdig zu fühlen“ (S.238), organisiert sie Auszeiten für sich und ihren Mann. Sie ist weiterhin berufstätig. Mit ihrem Mann ist sehr eng verbunden („Affenliebe“ S. 268), empfindet ihre Beziehung aber zugleich als „bedrohlich starr“ (S. 265).

Ein weiteres Beispiel für den Übergang von einer Lebensphase in die nächste ist das Klimakterium. Mit dem Ende der Reproduktionsfähigkeit bricht nach Xane für Frauen „ein gewaltiges Sinngerüst zusammen“ (S. 263) und die Angst vor dem Alter beginnt. Sie denkt an ihre Eifersucht auf Mors Studentin, reflektiert das Phänomen der „ Stutenbissigkeit“ gegenüber jüngeren Frauen, da sie den Mann wegnehmen könnten und man ab Mitte des Lebens keinen neuen mehr abbekomme. Denn im Alter werden „wir gebildeten, sogenannten starken Frauen mit jedem Jahr, das wir älter werden, unvermittelbarer.“ (S. 269)

Sind diese überzogenen Statements ernst gemeint oder dienen sie eher dazu, einen Seitensprung zu legitimieren? Von ihrer späteren Affäre mit einem Musiker erfährt man erst im elften Kapitel, als ihre Freundinnen über sie tratschen. Ihre Stieftochter Viola beschuldigt sie der Untreue, weil sie sie mit Nelson gesehen hat, obwohl Xane zu diesem Zeitpunkt nur mit dem Gedanken spielt. Auch das als Motto diesem Kapitel vorangestellte Horaz-Zitat am Anfang weist in die Richtung des „Carpe diem“, ehe es zu spät ist, das Leben ist endlich.

Aus den Briefen ihres Sohnes Amos erfährt man indirekt, wie seine Mutter mit der Witwenschaft umgegangen ist. Sie zeigt entgegen den Erwartungen der Familie nach außen Stabilität, lässt die Trauer kaum erkennen. Diese Darstellung passt einerseits zu der vielfach von den Perspektivfiguren angeführten Stärke Xanes. Andererseits mag die reduzierte Erzählung dieser Lebensphase ein Zugeständnis der Autorin sein, die selbst dieses Alter noch nicht erlebt hat.

Das siebte Kapitel zeigt deutlich, dass es im Roman nicht um die Erzählung einer biographischen Lebensgeschichte geht, sondern um verschiedene Sichten auf diese Figur, darunter eben auch die (momentane) Sicht auf sich selbst. Zwar wird Xane in unterschiedlichen Lebensphasen dargestellt, die Facetten, die von ihr gezeigt werden, sind aber nur Splitter und setzen sie als einen Charakter voller Ambivalenzen zusammen, der unvollständig und letztlich rätselhaft bleibt, eine Erzähltechnik mit der es Menasse gelingt, dass sich der Leser mit der Figur beschäftigt.

Auch wenn das Leben der Hauptfigur von der Jugend bis ins Alter präsentiert wird, handelt es sich doch keinesfalls um einen Entwicklungsroman. Denn „die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt“[10] steht nicht im Mittelpunkt, sondern wird allenfalls in ihren Ergebnissen ablesbar. Auch hier ist der Leser Konstrukteur der Figur, wobei ihm seine Konstrukte auch immer wieder durch gegenläufige Darstellungen bei anderen Erzählfiguren dekonstruiert werden.

Alter(n) und Generation

Bei der Schilderung des Arbeitstages der Gynäkologin Dr. Heike Guttmann im fünften Kapitel wird deren vorwiegend naturwissenschaftlich-medizinische Perspektive deutlich. So denkt sie z. B. über die Fehleranfälligkeit der Eileiter nach und die von einem Forscher aufgeworfene Frage nach dem Nutzen der in Relation zur Reproduktionsfähigkeit erstaunlich langen Lebenszeit von Frauen. Die Frage wird mit dem Hinweis auf die wichtige Funktion der Großmütter für die Aufzucht ihrer Enkel beantwortet, womit eine alterstypische Frauenrollen begründet wird.

Xane tritt in diesem Kapitel als eine von mehreren Patientinnen auf und wird dabei von der Gynäkologin ebenfalls in Alters- bzw. Generationen-Kategorien eingeordnet. Als Frau von Mitte 30 wünscht sie sich eine natürliche Schwangerschaft und leidet unter der Vorstellung, nur durch eine In-vitro-Fertilisation (IVF) schwanger werden zu können. Bei deutlich jüngeren Frauen der folgenden Generationen stellt sie dagegen vermehrt die Bereitschaft fest, zu dieser medizinischen Technik zu greifen, um den Kinderwunsch passgenau in ihren Lebensentwurf einbauen zu können. Damit verdeutlicht der Roman eine Veränderung des Frauenbildes. Die Ärztin ist selbst ein Beispiel für die ‚perfekte‘ Frau, die Mutterrolle, Beruf und Familienleben durch Hilfskräfte und Organisationsfähigkeit zu meistern scheint. Für das Andauern ihrer Jugendlichkeit und Attraktivität arbeitet sie hart an ihrer Fitness und verwendet Energie für ihr modisches Auftreten.

Dieses Kapitel ist ein Beispiel für Menasses Technik, gesellschaftliche Phänomene geschickt mit der persönlichen Lebensgeschichte ihrer Protagonistin zu verknüpfen, so dass sich insgesamt im Roman ein Gesellschaftspanorama entfaltet. Durch die distanzierte Sicht der Ärztin auf ihre Patientinnen, die in der Schlussszene des Kapitels gipfelt, in der sie fast gleichmütig die Zertrümmerung von auf dem Parkplatz der Klinik abgestellten Fahrzeugen durch eine verzweifelte Patientin beobachtet, wird Xane zu einem Fall unter vielen und damit als Protagonistin relativiert.

Generationenbeziehungen werden besonders deutlich in dem aus der Perspektive der Stieftochter Viola erzählten achten Kapitel, das durch jugendsprachliche Wendungen gekennzeichnet ist, besonders auffallend bei den pubertären Benennungen von Figuren aus der Erwachsenenwelt („der Bio-Arsch“, S. 288). Xane erscheint hier in der Rolle der fordernden, konsequenten Erzieherin, deren Bemühungen allerdings dazu führen, dass ihre Beziehung zu Viola spannungs- und konfliktreich ist. Im Kontrast dazu stehen Violas Begegnungen mit Lisa, ihrer aus Indien zurückgekehrten leiblichen Mutter, die zu ihrer Tochter ein Freundinnen-Verhältnis aufbaut, ihr z.B. Tipps zum Umgang mit dem begehrten Mitschüler Alex gibt oder sie rauchen lässt. Violas durchgängig pubertäres Verhalten ist ausschließlich auf die Beziehung zu ihrer peergroup fixiert, Elternhaus und Schule werden als lästige Übel so weit wie möglich ausgeblendet bzw. hintergangen. Xane prägt für die wirren Erklärungen von Viola den Begriff „Pubertätsdemenz“ (S. 292). Das schlechte Verhältnis zu den Erwachsenen wird noch gesteigert durch Violas Abscheu gegenüber dem Alter, der sich beim Pflicht-Besuch der dementen Oma im Altersheim zeigt, aber auch in ihrer Sicht auf Nelson („der faltige Zwerg“ S. 287). Die einzig positive Beziehung zur Welt der Erwachsenen besteht zu ihrem Vater, der für sie das Sinnbild der Verlässlichkeit ist und von dem sie sich die unbeschwerte Zuwendung aus Kindertagen wünscht. Dies verdeutlicht die Zerrissenheit zwischen dem Ende der Kindheit und dem mühsamen Anfang eines zunehmend selbstbestimmten Lebens.

Nachdem die Beziehung zu ihrem ersten Freund in die Brüche gegangen ist, überwindet Viola ihre Enttäuschung und Verletztheit, indem sie sich gewissermaßen neu entwirft, d.h. ihr Äußeres radikal verändert, um sich und der Umwelt zu demonstrieren, dass sie eine andere geworden ist. Damit entspricht sie dem Klischee eines vom Aussehen bestimmten Frauenbildes, wie es besonders in Frauenzeitschriften propagiert wird.

In Violas teilweise asozialem Verhalten finden sich Parallelen zu Lisa und Sally (vgl. 4. Kap.), die aber insofern Gegenfiguren bilden, als sie einer anderen Generation angehören und die vor allem durch die Unkonventionalität bzw. bewusste Konventionsverletzung ihres Verhaltens auffallen. Deutliche Übereinstimmungen finden sich dagegen zu den im ersten Kapitel erzählten Erlebnissen der jugendlichen Xane und ihrer Freundin Judith, deren Leben sich allerdings in ländlicher Umgebung abspielt, während der Schauplatz von Violas Trennung von der Familie Berlin ist, das als Großstadt ungleich gefährlichere Möglichkeiten der Ablösung bereit hält.

Vermeidung und Verdrängung

Bei diesem Thema ist besonders an die vier Kapitel mit ausgeprägter politischer Relevanz zu denken, nämlich das zweite Kapitel über Auschwitz, das überdies Zusammenhänge mit dem zehnten Kapitel herstellt, in dem vom Besuch von Xanes Vater bei seinem sterbenden Freund Rozmburk erzählt wird. Das dritte Kapitel zeigt exemplarisch die Folgen de fehlenden Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen. Auch das sechste Kapitel enthält politische Bezüge zu einem Kriegsverbrecherprozess in Den Haag – der Leser denkt, ohne dass dies explizit genannt wird, an die Prozesse gegen Mladic und Karadzic. Im zwölften Kapitel geht es um eine Publikation über Tötungen in Altersheimen.

Auschwitz und das Fortwirken rechter Gesinnung (2.und 3. Kapitel)

Der im zweiten Kapitel erzählte Auschwitz-Besuch der Protagonistin wird motiviert durch ihre Suche, nicht ein „Mehr an Gefühlen braucht, sondern an Fakten.“ (S. 94) Ihr Zugang zu Auschwitz ist nicht emotional, sondern analytisch. Trotzdem überfällt sie unvorhergesehen an einer Stelle schmerzlich die Erinnerung an den Tod der Jugendfreundin Claudia.

Von Xane erfährt der Leser nur aus der Perspektive von Professor Barney, der sie empfindet als kapriziös, kompliziert, dazu geneigt, Dinge zu dramatisieren. „Ein klassischer Fall halbjüdischer Doppelhelix, wie er [gemeint ist Barney] das bei sich nannte, ein schwer auflösbares Geflecht aus Angst, Schmerz über unklare Zugehörigkeit, ironischer Distanzierung und Selbstüberschätzung auf der Suche nach der angemessenen Haltung.“ (S. 73) Abseits der Besichtigung des Konzentrationslagers zeigt sie sich durchaus verspielt und lässt sich in einer Bar gern darauf ein, zu viel zu trinken. Sie erzählt nicht viel, verschweigt vieles. Dass für sie die Auseinandersetzung mit der Weigerung Österreichs, seine Geschichte im Dritten Reich aufzuarbeiten, eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich erst im dritten Kapitel in den Erfahrungen mit ihrem Vermieter Tschoch.

Dieser ist für sie ein Spießbürger, Repräsentant eines großen Teils der Bevölkerung, die sich der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im Dritten Reich verweigert. Der Kontakt zum Vermieter der Wohnung in Hietzing, einem gutbürgerlichen Stadtteil Wiens, basiert auf konventionellem Verhalten. Trotz ihrer Reserve gegenüber Tschoch verhält sie sich geschickt, diplomatisch, ordentlich, rücksichtsvoll angepasst, obwohl sie sich insgeheim über ihn lustig macht und ihn, wo eben möglich, vorführt. Dies zeigt sich z. B. an ihrer Einhaltung der peniblen Vorschriften für das Einbringen des Namensschildes an der Wohnungstür (vgl. S. 117 f.) Tschoch erweist sich als Geschäftsmann mit materiellen Interessen und politisch rechten Neigungen, die sich darin zeigen, dass er die Erinnerungen an das antisemitische Verhalten seiner Eltern verdrängt und verschweigt (vgl. S. 124 f.). Gleichzeitig bespitzelt er seine Mieterin, was ihm selbst als bravem Christen aber auch unangenehm ist. Xane verfolgt ihre eigenen Interessen, ist politisch kritisch und engagiert und nutzt das „Grödner Jesulein“ (S. 111) der Vermieter, das voller Stolz gezeigte Schmuckstück des Wohnzimmers, offenbar zu radikal harten Aussagen in einem Fernsehspot. Diese Radikalität wird noch gesteigert durch Xanes Äußerungen in dem im Anschluss an die Ausstrahlung des Spots im Fernsehen gezeigten Gespräch, in dem sie die „Mozartkugel-Seligkeit“ (S. 135) attackiert und mit den Worten, die meisten Österreicher „bekreuzigten […] sich und fütterten fröhlich ihre Frettchen“ (S. 135), zwar ohne Nennung des Namens, aber für den Leser ebenso wie für Tschoch selbst und seine Familie unverkennbar diesen meint und blamiert.


Familienschweigen (1. und 10. Kapitel)

Vermeidung und Verdrängung spielen abseits der großen politischen Themen auch im privaten Leben der Figuren eine Rolle. Dies zeigt sich schon im ersten Kapitel, in dem sowohl der Aspekt der nationalsozialistischen Vergangenheit in Gestalt der Großeltern von Xanes Freundin Judith angedeutet wird als auch das Verstecken der psychischen Krankheit von Judiths Mutter sowie der vermutlich durch Überforderung ausgelösten Aggression des Vaters gegenüber Judith.

Beispielhaft soll daher hier anhand des ersten Kapitels die Verschränkung von Gesellschaftlichem und Privatem und der Einfluss auf das Individuum gezeigt werden.

Dargestellt wird zum einen die Familie von Judith: Der Vater hat selber ein altsprachliches Gymnasium besucht. Er und die Mutter haben sich während ihrem Musikstudium am Konservatorium kennengelernt (vgl. S. 25). Beide haben jedoch nie einen entsprechenden Beruf ausgeübt, Judith weiß nicht einmal vom Studium ihres Vaters, nur die Mutter singt Arien in der Badewanne. Stattdessen haben die Eltern eine Bäckerei aufgebaut, die sie gerne als „Konditorei“ bezeichnen. Sowieso strebt die Familie nach „Höherem“ und sozialem Aufstieg, so sehen die Eltern in dem baufälligen Haus eine beinahe Jugendstil-Villa, die Räume nennen sie „Salon“, sodass bei Judiths Klassenkameraden der Eindruck entsteht, die Familie und Judith seien zu vornehm, als dass sie von ihnen besucht werden könnten. Judiths Mutter ist psychisch schwer krank und arbeitsunfähig, der Vater beschäftigt sich seit 14 Jahren erfolglos und völlig überfordert mit der Instandsetzung seines baufälligen Hauses, in dem es nicht einmal ein intaktes Badezimmer gibt. Er hat seine (jüdische?) Frau jung, gegen den Willen seiner Eltern, geheiratet, denen er vorwirft, Nazis gewesen zu sein. Nach außen gelingt es der Familie einen intakten Anschein zu erwecken; die Eltern werden sogar beneidet, weil sie, so nimmt man an, gemeinsam ihre Konditorei aufgebaut haben; Judiths Mutter wird nicht als krank, sondern als vornehm zurückhaltend wahrgenommen. Die Krankheit der Mutter, die die Kinder erschreckt (Salome flüchtet sich zu Judith ins Bett, ist Bettnässerin) muss vertuscht werden, die beiden Töchter, v. a. Judith als die ältere, müssen immer mehr die Hausarbeiten der Mutter übernehmen, und der Vater erweist sich gegen Judith als brutaler Schläger, vor allem dann, wenn er fürchtet, das Gesicht zu verlieren und den Schein nicht aufrecht halten zu können. Die Mutter kümmert sich an Judiths erstem Schultag nur um deren Haar, das sie mit rauen, schmerzhaften Methoden zu glätten bzw. zu leugnen (vgl. S.12) versucht, wobei ihr auch mehrfach „die Hand ausrutscht“ (S. 13), statt dafür Sorge zu tragen, dass Judiths Schultüte nicht von Salome leergegessen wird und dass Judith ihre Buntstifte dabei hat. Die Mutter flüchtet sich in „lautlose Tränen“ (S. 13) oder in Wortspielereien und will offensichtlich nicht wahrnehmen und lenkt ab, wenn ihr Mann Judith verprügelt. Humanistische Bildung gilt dem Vater als wichtig im Sinne des äußeren Ansehens. Sein eherner Grundsatz ist, dass man bei einer Entscheidung, die man selber einmal getroffen hat, auch bleiben muss. Alles andere würde bedeuten, „das Gesicht zu verlieren“. In welchem Zusammenhang diese Einstellung mit dem letztlich gescheiterten Musikstudium beider Eltern zusammengehört, wird nicht deutlich.

Zum anderen erfahren wir etwas über die Familie Molin. Sie wohnt, obwohl sie wohlhabend ist, in einer „spießigen Neubauschachtel“ (S. 20). Der Vater ist ständig auf Geschäftsreisen, aber auch Frau Molin, die einen äußerst wohlorganisierten Haushalt führt, hält sich vor allem außer Haus auf und beschäftigt sich mit Friseurbesuchen, Bridgepartien, Besuchen bei Freundinnen etc. Für ihre Tochter Xane interessieren sich die Eltern nur am Rande, sie möchten vor allem nicht gestört werden. Das betrifft auch die schulischen Belange und hat zur Folge, dass Xane in Bezug auf einen Schulwechsel ihren Willen ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen kann.

Von ihrem Äußeren erfahren wir, dass Judith ein Pippi-Langstrumpf-Kind mit krausen roten Haaren ist, die die Mutter hässlich findet. Judith ist die älteste von zwei Töchtern der Familie. Mit ihrer um drei Jahre jüngeren Schwester Salome (vgl. 13) streitet sie sich häufig, ist aber auch deren Schutz und Trost, wenn sie nachts nicht schlafen kann. Die Mutter fällt, u. a. auch wegen ihrer psychischen Erkrankung, in der Erziehung aus, Judith findet ihre schwachen Schimpfereien zum Lachen. Sie hat gelernt auf sich allein gestellt zu sein und von nirgendwoher Hilfe erwarten zu können. Mit „kerzengeradem Rücken“ (S. 13) stellt sie sich trotzig und tapfer den anfänglichen Hänseleien der Mitschüler, und es gelingt ihr, sich schließlich den Ruf einer gefürchteten Amazone zu erarbeiten. Sie schämt sich für ihr chaotisches Zuhause und lädt deshalb keine Klassenkameraden zu sich ein. Die Eltern sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie das nicht irritiert. Insgeheim würde sich Judith nichts mehr als ein spießiges, geordnetes Leben wie das von Xanes Familie wünschen. Judith hat Methoden entwickelt, um sich gegen die wüsten Beschimpfungen und die ständigen brutalen körperlichen Misshandlungen des Vaters zu immunisieren, sie wie eine Naturgewalt über sich ergehen zu lassen (S.14). Zum Vater hat sie eine Kampfbeziehung, sie liebt und hasst ihn. Einerseits erlebt sie es als Verlust, ihn nicht mehr mit „Papa“ anreden zu können, nachdem Xane ihn „Heinz“ nennen darf, andererseits lässt sie ihn für seine Brutalität büßen, wenn sie seine Zigaretten stiehlt oder wenn er ihr aus seiner eigenen Scham heraus zu viel Taschengeld gibt, und sie genießt ihre Überlegenheit, wenn sie ihn beim Lügen beobachtet. Sie kennt ihn so gut, dass sie ihn „austricksen“ kann, wenn sie z. B. ungefragt Xane einlädt. Die gemeinsame Zeit mit Xane ist ihr dermaßen wichtig, dass sie dafür die Schläge des Vaters in Kauf nimmt, sei es bei der Einladung Xanes, sei es bei dem geplanten Schulwechsel. Allerdings befolgt Judith auch selber die Vorgabe der Eltern, nicht das Gesicht zu verlieren und verheimlicht daher die Umstände ihres Lebens zuhause auch vor ihren einzigen Freundinnen Claudia und Xane. Es gibt niemandem, dem sie vertrauen würde. Provokant setzt sie sich zunehmend von der Welt des gutbürgerlichen Scheins ab, sei es durch den Kauf von Drogen, sei es durch die Kleidung, die sie anlässlich der Beerdigung von Claudia trägt. Ihre gute Menschenkenntnis lässt sie eine Dodo sofort durchschauen und instrumentalisieren.

Xane wird beschrieben als sehr gute Schülerin und als Liebling ihrer Lehrerin. Ihr Lebensumfeld erscheint als bürgerlich abgesichert, gleichzeitig jedoch ohne wirkliches Interesse an der Tochter und ihren Belangen. Xane wirft ihrer Mutter Oberflächlichkeit und Spießigkeit vor. Sowieso scheint sie, die „Tochter aus gutem Hause“ sich nach dem Unkonventionellen von Judiths Familie zu sehnen. Es beeindruckt sie ebenso wie Judith, dass man Claudias Mutter Lizzi duzen darf. Sie fühlt sich zur Erwachsenen aufgewertet, als Judiths Vater ihr ebenfalls das Du anbietet. Indem Xane sich auf diese gleichrangige Ebene mit Judiths Vater einlässt, „verrät“ sie ihre Freundschaft mit Judith, der, um mit Xane ebenbürtig zu sein, nichts anderes übrig bleibt, als den Vater ab jetzt ebenfalls mit Vornamen anzureden. Xane spielt die vernünftige, musterhafte Tochter, das ‚“Prämienmodell aus dem Tochterkatalog“ (S. 25), wenn sie mit dem Vater gemeinsam kocht, aber auch wenn es sich um einen Streit zwischen Judith und Salome handelt oder wenn es darum geht, mit Judiths Mutter Obst einzukochen. Es scheint ihr eher darum zu gehen, bei Xanes Eltern einen guten Eindruck zu machen, als für Judith eine gute Freundin zu sein.

Xane idealisiert alles (Xane versteht nichts, findet Judith, S. 38) und missinterpretiert vieles, was sie im Zuhause von Judith erlebt, als „interessant“ (S. 24) so z. B., wenn sie zu verstehen glaubt, was es mit der Krankheit der Mutter auf sich hat, und das gipfelt darin, dass sie Judith ein Siegeszeichen zuwirft, als diese gerade von ihrem Vater zum Verprügeln in das Saunagebäude abkommandiert wird. Sie versucht sich von den bisher für sie geltenden Werten abzusetzen, indem sie, beeinflusst von ihrem neuen Freund Tom, auf ein neusprachliches, aus ihrer Sicht cooleres Gymnasium wechseln will und taktiert erfolgreich, was den Schulwechsel angeht, auch, weil ihre Eltern an dem Thema (und ihr, sie hätte sich den Widerstand größer gewünscht) so wenig interessiert sind, dass sie dem kaum Widerstand entgegen setzen. Judith findet, Xane sei schwach und bekomme daher alles, was sie will und wie es für sie am besten ist (vgl. S.37 f.). Mithilfe von Judith experimentiert sie mit dem Übertreten von Verboten, was ihr aber zunehmend unheimlich wird. Beim Kauf der Drogen mag sie gar nicht mehr dabei sein. Im Kontakt mit Judiths Eltern spielt sie die Rolle der vernünftigen, fast erwachsenen Tochter. Sie mag und kann Judith auf deren Weg in die trotzige Abgrenzung von der Familie nicht folgen. Sie ist nicht so sicher, wie sie vorgibt, nicht eine Kämpferin wie Judith. Sie kann schlecht verlieren, und schämt sich, wenn ihr etwas nicht sofort gelingt (vgl. S. 34). Von der neuen Klassenlehrerin, die sich selbst offensichtlich bei in der Klasse tonangebenden Schülern anbiedert, wird Xane sofort als uncool bloßgestellt. Dafür bietet ihr die bisherige Klassenlehrerin eine Rückkehr in die alte Schule an, und wahrscheinlich wird Xane dieses Angebot gerne annehmen. Mit ihrem Spruch „Errare humanum est“ bezieht sich die Lehrerin auf den Schulwechsel, aber wohl auch auf die zu Ende gehende Freundschaft zwischen ihrem Liebling Xane und Judith, die sie kaum eines Blickes würdigt.

Ihren Klassenkameraden erscheinen Judith und Xane mit ihrer „ironischen Distanz“ und ihrem blasierten Auftreten als gefürchtetes Amazonen-Duo (vgl. S. 10). Claudia ist zwischen Judith und Xane das wesentliche Bindeglied, der „Klebstoff“ ihrer Freundschaft, indem sich beide ihrer Überlegenheit und Gemeinsamkeit versichern, wenn sie sich über Claudia lustig machen. In Wirklichkeit sehnen sich wahrscheinlich beide nach einer Mutter, die sie, wie Lizzi Dannenberg ihre Tochter, uneingeschränkt liebt. Sicher beneiden sie auch Claudia, die ungeschützt offen, vertrauensvoll und warmherzig natürlich sein darf, auch wenn es sie aggressiv macht, dass sich eine Claudia nicht verstellen muss (vgl. S. 12). Insgeheim schämen sich beide für ihr Verhalten Claudia gegenüber, wissen aber keinen Ausweg, um ihre Freundschaft gegen die Risse zu schützen, die sich durch die Verliebtheit von Xane in Tom zeigen. Das gipfelt im Verrat an Claudia, die in die Schulwechsel-Pläne nicht einbezogen wird. Der Verrat lastet schwer, daher können sich beide darüber nicht freuen (vgl. S. 37). Ohne Claudia wird deutlich, wie wenig Gemeinsamkeit beide Freundinnen haben. Für Judith ist Xane mit ihrer angesehenen Familie im Hintergrund ein Trumpf, den sie gegen ihren Vater in der Hand hat. Sie fühlt sich sicherer, wenn Xane da ist. Wirkliches Vertrauen besteht zwischen den beiden Mädchen jedoch nicht, so verheimlicht Judith sowohl die Krankheit der Mutter als auch die Brutalität des Vaters und findet die Ahnungslosigkeit von Xane schwer erträglich „Xane versteht nichts“ S. 38. Zunehmend schadenfroh registriert sie, wenn Xanes Idealisierungen platzen, z. B. in Bezug auf die vorgebliche „Freundschaft“ mit Judiths Vater, „ die Arme, hat sich so lange für Heinz‘ beste Freundin gehalten“ (S. 36) aber auch, wenn Judith Xane, die über den nächtlichen Lärm (die Mutter badet, Glas zersplittert) erschrocken ist, über den Zustand der Mutter belügt (vgl. S. 28) und die Situation als „normal“ ausgibt. Für Xane eröffnet sich durch den Kontakt zu Judith ein Zugang zu Unkonventionellem, Verbotenem, wenn es z. B. um Zigaretten und den Kauf von Drogen geht. Hier allerdings geht es bereits um einen Machtkampf zwischen beiden, darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Die Unterschiedlichkeit beider wird deutlich, als sie beim Rauchen von Passanten nach ihrem Alter gefragt werden: während Xane schuldbewusst die Augen niederschlägt, geht Judith mit ihrer Gegenfrage zum Angriff über (vgl. S. 31). Auch bei dem Schulwechsel geht es für Xane vor allem um den Wunsch, eine coole, nicht spießige Schule zu besuchen. Wie wenig sie in diese Schule passt, wird klar, als die Lehrerin Xane ihres Namens wegen bloßstellt. Dass die Beziehung der beiden Mädchen nicht tragfähig ist, zeigt sich darin, dass Judith sich in dieser Situation nicht auf Xanes Seite stellt, eher schadenfroh findet, das Xane sich würde umstellen müssen (vgl. S. 43). Strategisch geschickt lässt Judith Xane als „kleine Spießerin“ (S. 45) fallen, sobald ihr in der neuen Schule Dodo über den Weg läuft, zu deren Anführerin sie sich macht (vgl. S. 44). Bei Claudias Beerdigung übernimmt Judith die Führung, indem sie für sich und Xane Zuckerwatte (wie Judiths Haar, der „einzig guten Formulierung von Claudia“ (S. 13) kauft, die sie beide, statt der konventionellen Rosen Xanes, auf Judiths Kommando, ins Grab werfen. Den Rückweg gehen beide Mädchen nicht mehr gemeinsam.

Anmerkungen

  1. Begriff bezieht sich auf Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 2008, S. 15
  2. Begriff bezieht sich auf Gérard Genette, Die Erzählung, Paderborn 2013, S. 121
  3. s. Nr. 1, S.16
  4. s. Nr. 2, S. 159
  5. Alle Seitenangaben beziehen sich auf die erste Taschenbuchausgabe von: Eva Menasse, Quasikristalle, München 2014
  6. Vgl. die Symmetrie bei den Schauplätzen Wien und Berlin und die Lebensmitte der Protagonistin als Achse im Altersverlauf
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/Quasikristall
  8. https://de.wikipedia.org/wiki/Ikosaeder
  9. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 2004, S.74ff.
  10. https://de.wikipedia.org/wiki/Entwicklungsroman