Ian McEwan, Maschinen wie ich: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 19. April 2021, 14:44 Uhr

Die Projektgruppe „Literarische Bilder unserer Zeit“ hat sich im WS 2020/2021mit dem Roman von Ian McEwan „Maschinen wie ich“ beschäftigt. Über den umfangreichen Themenkomplex der Künstlichen Intelligenz hinaus lädt der Roman zur Beschäftigung mit vielfältigen weiteren Themen ein. Eine Auswahl von Beiträgen dazu findet sich im Folgenden.

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Fakten und Fiktion in Ian McEwans Roman „Maschinen wie ich“[1]. Mehr als nur „Ein Spiel mit der Zeit“? (von Rainer Smits)

Fiktion versus Fakten

Bei einem Arztbesuch (vgl. 89ff.) sieht sich Charlie Friend, der Ich-Erzähler des Romans, im Wartezimmer mit verschieden Plakaten konfrontiert, wie sie so oder ähnlich in vie-len Wartezimmern zu finden sind: Die Poster machen ihn wie uns auf Themen wie Früherkennung oder auf die Verbreitung virenverseuchter Aerosole durch ungeschütztes Niesen aufmerksam – ein Thema, das uns in diesen pandemischen Zei-ten so nachhaltig begleitet, dass wir das, was wir gerade erleben, noch zur Entstehungszeit des Romans (2018/19) in diesem Ausmaß vermutlich als Science Fiction wahrgenommen hätten…

Für den Ich-Erzähler ist das Poster an der Wand Anlass, über die Entdeckung von Keimen durch Louis Pasteur und andere in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nachzudenken. Er hält historisch korrekt fest: „Dabei gab es das Instrument, das der Medizin die Wahrheit hätte offenbaren können, schon zweihundert Jahre vor Pasteur“ (90) und verknüpft diese Feststellung mit einem spekulativen Exkurs („Einmal angenommen, …“ (91)) darüber, wie die Geschichte der Medizin und damit der Menschheit hätte verlaufen können, wenn ein fiktives Mitglied der Royal Society aufgrund der bereits vorhandenen mikroskopischen Möglichkeiten im 17. Jahrhundert, also bereits zweihundert Jahre vor Pasteur, eine Theorie der Keime als Krankheitsursachen entwickelt hätte.

Überraschend an diesen Überlegungen ist zweifellos, dass der Ich-Erzähler Charlie sich als vermeintlicher Fachmann in Medizingeschichte entpuppt und er ohne Wei-teres Namen wie Antoni van Leeuwenhoek, Hugo de Lucca, Girolamo Fracastoro und selbst den Namen des im zweiten nachchristlichen Jahrhunderts praktizieren-den griechischen Arztes Galenos von Pergamon (Galen) parat hat (vgl. 91f.). Hierauf weist auch Monika Hartkopf in ihren Ausführungen zur Erzählhaltung des Romans hin: „Auf einer zweiten Ebene wird der Erzählstrang aber immer wieder durch teilweise sehr umfangreiche Reflexionen über grundsätzliche Themen unterbrochen. Ein Beispiel findet sich von S. 90 bis S. 93, wo die Zeit im Wartezimmer eines Arztes mit einer Darstellung der Entdeckungen von Pasteur gefüllt wird, also eines Teils der Geschichte der Medizin, von der jemand ohne besondere Fachkenntnisse nichts oder sehr we-nig weiß, während Charlie hier erstaunlich gut informiert ist.“ Und sie schlussfolgert: „Der Verdacht kommt auf, dass wir es nicht nur mit dem Ich-Erzähler Charlie zu tun haben, sondern hinter ihm ein weiterer, nicht als Figur erscheinender Erzähler durchscheint, möglicher Weise ein auktorialer Erzähler oder schlicht der Autor selbst.“

Es spricht vieles dafür, hinter den im Roman eingeschobenen Reflexionen den Autor selbst zu vermuten. McEwan selbst hat hierauf in einem Interview mit der Los Angeles Times in Bezug auf die Romanfigur Charlie hingewiesen: „I just gave him (Charlie – Anm. d. Verf.) everything he needed — he needed to have a bit of a grip on AI and to be reasonably intelligent. He has to carry the whole weight of the story. One bit of it was autobiographical, I can now confess: the Wiring Club. When I was a teen, I toiled away for months, soldering, following these strict instruc-tions with all these little bits, trying to make a radio. The difference between me and Charlie is that mine never worked. I never got a sound out of it. That’s a little wish fulfillment.“

In gleichem Maße dürfte das für die zitierten Überlegungen zur Medizingeschichte gelten, die McEwan seinem Protagonisten Charlie in den Mund legt, um in diesem Kontext den Leser auf das Erzähl- und Grundprinzip des Romans aufmerksam zu machen: Erzählen gegen den Strich der Zeit. So heißt es folgerichtig gerade an dieser Stelle: „Die Gegenwart ist ein unwahrscheinliches, unendlich fragiles Konstrukt. Es hätte anders kommen können. Etwas oder alles könnte auch ganz anders sein.“

Auf diesen theoretischen Ansatz als Ausgangspunkt der Romanhandlung hat McEwan in mehreren Interviews selbst hingewiesen, sehr konkret auch auf die Keimtheorie bezogen:„Ich denke oft darüber nach, wie leicht unser jetziger Technologie- und Wissensstand viel später oder früher hätte erreicht werden können, wie im Falle der Keimtheorie. Sie wäre bereits im siebzehnten Jahrhundert möglich gewesen. Der Stand der Dinge scheint mir auf jedem Gebiet eine kontingente Angelegenheit zu sein.“ Und allgemeiner:„We’re always predicting the future [and we’re] always wrong about it. Why not be wrong about the past? I wanted to reflect on how very frail a construct the present days [are], how easy it would be for things to be different, that nothing is inevitable about where we are. So everything in the book is fundamentally different.“ Wie konsequent McEwan diesen kontrafaktischen Erzählansatz, der wissenschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Bereiche tangiert, in seinem Roman umgesetzt und durchgehalten hat, sollen einige Beispiele exemplarisch verdeutlichen.

Wissenschaft und Technik / Alan Turing

Der Autor hat die Romanhandlung im Jahr 1982 angesiedelt. Zwar sind automati-sche Apparaturen seit der Antike Gegenstand von Erfindungen, ein Android wie Adam aber, der nicht nur ein selbstlernendes System darstellt, sondern im Verlauf der Handlung zunehmend menschliche Gefühle entwickelt, ist nicht nur in der Jetztzeit, sondern erst recht 1982 nicht in Sicht, sondern Science-Fiction. Damit soll nicht gesagt sein, dass Science-Fiction und eine zukünftige Wirklichkeit einander ausschließen, dass die Wirklichkeit das Imaginierte nicht einholen kann. Bezeich-nenderweise gehören die schon in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts niedergeschriebenen Robotergesetze des Science-Fiction-Autors Isaac Asimov, dessen erstes auch McEwan in seinem Roman zitiert , mit zu den Grundlagen ethischer Fragestellungen im Zusammenhang mit Robotik, auch wenn die Entwick-lung Künstlicher Intelligenz weitere und tiefergreifende Fragestellungen etwa zu Sicherheitsaspekten bereithält: „We are at the beginning of something now, ready to take a huge leap forward. It is beginning to invade or enhance our lives, however you want to see it. We now have extraordinary phones in our pockets. On the dark side are the tragic deaths of almost 400 people in two Boeing 737 Max because the system is telling itself the plane is stal-ling when it is not. Airlines don’t like to call their jets ‚autonomous vehicles‘, but I think this comes close. In the last 10 years, there have been extraordinary advances in voice recognition and face recognition. The great goal now is general intelligence, to deal with situations without being told what the situations are in advance. That’s deep learning, and we have got our fingers at least on the crust of this pie. Manufacturers of autonomous automobiles are thinking about the extent to which they protect the driver at the expense of pedestrians. So we’re at the edge of moral decisi-ons.“

Zum Kronzeugen dieser überraschenden Versuchsanordnung im Hause Friend und seiner Bewohner bestellt McEwan bereits auf der zweiten Romanseite Alan Turing, der Charlie den letzten Anstoß zum Kauf seines Android-Exemplars liefert: „Es war eine leichtsinnige Entscheidung gewesen, befeuert von Berichten, dass sich Sir Alan Turing, Kriegsheld und größtes Genie des digitalen Zeital-ters, dasselbe Modell hatte liefern lassen.“

Dabei genießt Turing nicht nur die uneingeschränkte Bewunderung Charlies, auch für den Autor selbst scheint der historische Turing, der immerhin schon 1954 starb, so wichtig zu sein, dass er ihn in seinem Roman weiterleben lässt. Im Roman entwickelt Turing im Jahr 1968, also gegen jede historische Wirklichkeit, mit seinem Kollegen Demis Hassabis „eine neue Ära menschenähnlicher Soft-ware“ , die sie „im Geiste von Open Access“ online für alle verfügbar machen, ebenso wie sie die Funktionsweise von Deep Learning und neuronalen Netzen der Öffentlichkeit zu erklären versuchen. Auch hier greift McEwan der Wissenschafts-geschichte weit voraus: Die Turing und Hassabis zugeschriebene Software, die un-ter Rückgriff auf Lernmethoden tiefer neuronaler Netzwerke und damit des Deep Lear-nings für den Erfolg einer Maschine („AlphaGo“) gegen koreanische Meister im Brettspiel Go sorgte, stammt sogar erst aus der Zeit unmittelbar vor Veröffentlichung des Romans . Wissenschaftstheoretisch geht McEwan sogar so weit, Turing die Lösung des bis dato ungelösten P-NP-Problem zuzugestehen (S. 58). Indem McEwan Turing als den entscheidenden Entwickler „von künstlicher Intelligenz und Computerbiologie“ darstellt, der seine Arbeiten völlig uneigennützig in Open-Source-Veröffentlichungen publiziert , stilisiert der Autor ihn wissenschaftstheoretisch zur „figurehead“ (Galionsfigur) der Künstlichen Intelligenz. Eine bedeutende Galionsfigur ist Alan Turing, den er intellektuell immer bewundert hat, für McEwan allerdings auch im gesellschaftspolitischen Kontext: „Alan Turing, for example, becomes a very, very famous figure, not only in science but in society. He becomes something of a figurehead in the changing of attitudes about gay men and women. It was rather pleasurable to hand over to a man that I’ve always admired intellectually.“ Bei McEwan lebt der im realen wie im fiktiven Leben schwule Wissenschaftler Turing seit 1969 offen mit einem Physiker zusammen, engagiert sich in der AIDS-Forschung, nimmt die Presidental Medal of Freedom entgegen, nimmt an einem Bankett zu seinen Ehren mit Präsident Carter teil, hat Lunch mit Mrs Thatcher und diniert mit dem brasilianischen Präsidenten, um ausgerechnet diesen (man hat un-weigerlich den aktuellen Präsidenten vor Augen) für den Schutz des Regenwaldes zu gewinnen.

Am Ende des Romans lässt McEwan seinen fiktiven Turing auf die Biographie des historischen Alan Turing zurückblicken. Als im England der frühen fünfziger Jahre geächteter Homosexueller droht ihm wegen seiner sexuellen Orientierung, die zur damaligen Zeit eine Straftat war, der Prozess. Soweit die Fakten. Auf eine Strafe, so heißt es im Buch, könne dann verzichtet werden, wenn er sich schuldig bekenne oder er im Gegenzug einer chemischen Kastration durch eine Östrogen-Behandlung zustimme. Tatsächlich hatte der historische Turing diese Wahl nicht. Er konnte die Behandlung nicht wie sein fiktives Pendant verweigern, sondern wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und vor die Wahl gestellt, diese anzutreten oder in eine Behandlung einzuwilligen, da Homosexualität in der psychiatrischen Medizin als Krankheit eingestuft wurde. Turing willigte in die Behandlung ein, die einer Kastration gleichkam, was ihn in der Folge in eine Depression stürzte und, wie seine Biographen übereinstimmend annehmen, 1954 in den Suizid trieb. Erst im Jahr 2009 sprach der damalige britische Premierminister Gordon Brown eine offizielle Entschuldigung im Namen der Regierung für die unmenschliche Behand-lung Turings aus: „The dept of gratitude he is owed makes it all the more horryfying, therefore, that he was treated so inhumanly. […] So on behalf of the British government, and all those who live freely thanks to Alan’s work, I‘m very proud to say: we’re sorry. You deser-ved so much better.“ Eine formelle Begnadigung wurde aber noch 2011 trotz einer Petition unter Hinweis auf die geltende Rechtslage abgelehnt. Erst am Weihnachtsabend, dem 24. De-zember 2013, sprach Königin Elisabeth II. posthum ein „Royal Pardon“ (Königliche Begnadigung) aus. Durch diesen königlichen Gnadenakt gilt Turing nun auch offiziell als rehabilitiert, fast 60 Jahre nach seinem Tod.

Liest man McEwans Buch im Lichte der historischen Ereignisse, so wird man nicht umhinkönnen festzustellen, dass der Autor ihn nicht nur wissenschaftlich auf den Sockel gehoben hat – das wird der historische Turing aufgrund seiner Leistungen nicht nötig gehabt haben. Indem er Turing in der Fiktion weiterleben lässt, gelingt es McEwan vielmehr, ihm auch mit den Mitteln der Literatur als Mensch ein Denkmal zu setzen: „He was basically driven to suicide by the primitive, stupid attitudes of his time. Every-thing could have been otherwise — it’s rooted in real possibilities, but it’s also a bit of wish fulfillment keeping him alive.“ Ende 2021, also 65 Jahre nach Turings Tod, wird die Bank of England eine neue 50-Pfund-Note in Umlauf bringen, die Alan Turing gewidmet ist und ihn als „Vater der Computerwissenschaft und der künstlichen Intelligenz“, aber auch als „Kriegs-helden“ ehrt – und auf seine gesellschaftliche Bedeutung als geächteter Homose-xueller verweist. Die Banknote zeigt u.a. eine Fotografie von Turing mit seiner Un-terschrift und dem Zitat „This is only a foretaste of what is to come, and only the shadow of what is going to be“ – das sich neben dem Kipling-Zitat auch gut als Motto des Romans machen würde.

McEwan garniert seinen Roman mit unzähligen weiteren wissenschaftlichen Volten, die den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts jedenfalls nicht zugeeignet werden können: Wie selbstverständlich wird bereits digital kommuniziert und in Sozialen Medien recherchiert. Charlie besitzt einen PC, „Mitte der Sechziger und secondhand in einem Trödelladen in Brixton gekauft“ , weist auf die Bürde von Spracherkennungssoftware und die Gewohnheit hin, es seit langem gewohnt zu sein, „mit Maschinen zu reden, in unseren Autos, daheim, bei Telefonaten mit ei-nem Callcenter oder der Arztpraxis“ – Siri und Alexa, „Mitbewohnerinnen“ erst seit dem letzten Jahrzehnt, grüßen hier aus dem vergangenen Jahrhundert. Und dass Maxfield Blake, Mirandas Vater, von seinen Söhnen schon in den achtziger Jahren „den neuesten Armbandcomputer“ geschenkt bekommt, ist dann nur noch ein net-tes Aperçu.

Auch in Sachen Mobilität startet McEwan durch: Bereits 1982 sind bei ihm die briti-schen Züge 400 Stundenkilometer schnell – eine Anspielung des Autors auf den britischen Advanced Passenger Train? Dieser erreichte bei Probefahrten immerhin 257 km/h, wurde 1981, also etwa zeitgleich zur Romanhandlung, in Dienst gestellt, fuhr jedoch aufgrund technischer Probleme ganze sechs Tage, um dann 1986 end-gültig aus dem Verkehr gezogen zu werden. Nur beim autonomen Fahren scheint Charlie aus der Spur gefallen, war er „offenbar der einzige Fahrer, der sein Gefährt noch selbst steuerte“ , während um ihn herum die „meisten Menschen auf dem, was einmal der Fahrersitz war, […] zu schlafen“ schienen. Immerhin träumt auch Charlie davon, seinen wirtschaftlichen Erfolg durch Adams Transaktionen voraus-setzend, sich „ein leistungsstarkes autonomes Auto zu[zu]legen“ . Mit einem British Leyland Urbala aus dem Jahr 1965 fährt er einen Oldtimer, der allerdings nach dem Willen McEwans schon Mitte der sechziger Jahre das „erste Modell [war], das 1500 Kilometer ohne aufzuladen schaffte“ . Zum Vergleich: Der Tesla Model bringt es als reichweitenstärkstes Elektroauto aktuell nur auf ca. 600 Kilometer. Nun muss man nicht so weit gehen wie der Rezensent der drittgrößten englischsprachigen indischen Tageszeitung „The Hindu“, McEwans alternativer Welt aufgrund solcher und anderer technischer Unwahrscheinlichkeiten insgesamt „an implausible mess“ („ein unplausibles Durcheinander“) zu bescheinigen, um zu dem Verdikt zu kommen: „By disrespecting history, McEwan reduces this understanding to a caricature. The re-sult is a tedious novel, incompetently written and incoherently conceived.“

Gerade das autonome Fahren gilt McEwan als Beleg für die Tragweite, die mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz verbunden ist. Da diese Autos „von mächtigen, mit Satelliten und Bordradar verbundenen Computernetzen abhängig und damit so au-tonom wie neugeborene Babys“ sind, führt das von ihm drastisch geschilderte Szenario eines Autounfalls zurück auf die moralisch-ethische Dimension und den menschlichen Faktor: „Die Entscheidung wird davon abhängen, welche Prioritäten in der Software festgelegt wurden.“

Kultur und Gesellschaft

Andere Beispiele, etwa aus dem kulturellen oder politischen Bereich, zeigen, mit welcher Sorgfalt McEwan seine kontrafaktische Erzählstrategie konstruiert hat.

Beim Abendessen von Charlie und Miranda „dudelte das Radio, ein Song der Beat-les, die sich nach zwölf Jahren Trennung gerade erst wiedervereint hatten“ – zwei Jahre nach John Lennons Ermordung 1980 im New Yorker Central Park. Und so findet McEwan auch die famose Formulierung für diese „fake news“: „Lennons raue Stimme schwebte aus fernem Echoraum wie von jenseits des Horizontes oder jen-seits des Grabes zu uns herüber“ . Der Titel „Love and Lemons“ des neuen Albums der alten Beatles, dessen Stücke Charlie später in der Badewanne mitsingt , ent-behrt dabei nicht einer gewissen – ich behaupte: vom Autor bewusst gewählten - Hintergründigkeit. Das „Love“ greift nicht nur den Bestandteil eines der bekanntes-ten und im Kontext auch zitierten Beatles-Titels „All you need is love“ auf , „Love“ ist zugleich auch der Titel eines Remix-Albums der noch lebenden realen Beatles, „das Musik enthält, die exklusiv für eine gleichnamige Show des Cirque du Soleil zusammengestellt wurde. Das Album erschien am 17. November 2006 in Deutschland, am 20. November 2006 in Großbritannien. Die ursprüngliche Idee, dass der Cirque du Soleil Musik der Beatles verwenden durfte, entstammte aus der Freundschaft zwi-schen George Harrison und dem Gründer des Cirque du Soleil, Guy Laliberté. Die Ar-beit an dem Album begann aber erst nach dem Tod von Harrison im Jahr 2004, nach-dem Paul McCartney, Ringo Starr, Yoko Ono und Olivia Harrison (letztere zwei ver-treten die verstorbenen Beatles John Lennon und George Harrison) erlaubten, aus den originalen Mehrspuraufnahmen der Beatles für die Show LOVE des Cirque du Soleil ein Medley zusammenzustellen. Auf dem Album werden verschiedene Lieder der Beatles miteinander vermischt, so beispielsweise wurde auf den Rhythmus von Tomorrow Never Knows der Gesang aus Within You Without You gelegt. Produziert wurde das Album von George Martin und dessen Sohn Giles Martin in den Abbey Road Studios.“

Charlie ist im Übrigen ein ausgemachter Fan des „neuen“ Beatles-Albums: „Mir ge-fiel diese kraftvolle Sentimentalität…“ , im Gegensatz zu den Kritikern, die das Al-bum wegen seines Bombasts verspotten - und offenbar auch ganz im Gegensatz zum Autor, der sich im Gespräch mit der Los Angeles Times auf die Seite der Kritiker schlägt, augenzwinkernd aber darauf hinweist, “the Beatles went on to make another album after ‘Love and Lemons,’ and it was really good.”

Damit nicht genug: Auch der zweite Bestandteil des fiktiven Beatles-Albums „Love and Lemons“, die Zitronen also, scheint vom Autor nicht zufällig gewählt. Als Miran-da, Charlie und Adam dem tatsächlichen und zugleich vermeintlichen, inzwischen aus dem Gefängnis freigelassenen Vergewaltiger Peter Gorringe einen Besuch ab-statten, ertönt als Klingelton an der Haustür „Oranges and Lemons“ . Hierbei han-delt es sich um einen alten Kinderreim aus London, der beschreibt, wie jemand, der Orangen und Zitronen gekauft hat, die Ware aber nicht vollständig bezahlt, vom Scharfrichter in den Tod geschickt wird. So heißt es im „Oranges and Lemons“-Kinderreim: „Here comes a candle to light you to bed And here comes a chopper to chop off your head! Chip chop chip chop – The last man's dead.“

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass McEwan mit Blick auf den Vergewaltiger Gorringe ausgerechnet diesen Klingelton gewählt hat, weil offenbar noch im England des 18. Jahrhunderts sogar ein nicht bezahlter Kauf als Diebstahl angesehen und als vergleichsweise geringes Vergehen mit dem Tod bestraft werden konnte.

Noch augenfälliger aber dürfte sein, dass der Kinderreim „Oranges and Lemons“ auch in George Orwells „1984“ eine prominente Rolle spielt und von McEwan damit indirekt das einschlägige Werk dystopischer Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg zitiert wird. In „1984“ ist die Kontrolle von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch den „Großen Bruder“ eine vollkommene: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: wer die Gegenwart kon-trolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“

Für die Vergangenheit steht bei Orwell symbolisch der Kinderreim „Oranges and Lemons“, der von denen erinnert und zitiert wird, die sich zunächst als Verbündete der Hauptfigur Winston ausgeben (Mr. Charrington, O’Brien), letztendlich aber Agenten der Macht sind, deren Ziel die vollständige Gedankenkontrolle ist. So wird bei der Verhaftung Winstons und seiner Geliebten Julia, die sich ebenfalls als Vermächtnis ihres Großvaters dunkel an einige Verse des Reims erinnert , dessen blutrünstiges Ende bemüht:

„Und dieses Kerzlein leuchtet dir Tropf, und dieses Hackbeil hackt ab deinen Kopf!“

Während McEwan mit der Vergangenheit spielt und ihr Zufälligkeit bescheinigt, wird bei Orwell mit der Verhaftung und Folterung Winstons und Julias die Erinne-rung an „Oranges and Lemons“ getilgt - und damit die Vergangenheit ausgelöscht. Anders als Orwell, der in „1984“ die Dystopie einer autoritären, geschlossenen und zutiefst inhumanen Gesellschaft entwirft, entzieht McEwan Geschichte der Verein-nahmung durch Festlegungen auf historische Fakten. Indem er auf andere Mög-lichkeiten geschichtlicher Entwicklungen in der Vergangenheit verweist, hält er den Blick – auch den des Lesers – für einen sensiblen Umgang mit dem Thema „Künstliche Intelligenz“ in der Zukunft offen. Indirekt steht das vom Autor gegen alle Fakten eingeführte Beatles-Album „Love and Lemons“ also mit dem realen „Love“-Remix-Album, dem Kinderreim „Oranges and Lemon“ und Orwells „1984“ in einem für McEwans Roman sinnstiftenden größeren Zusammenhang.  

Politik

Komplex gerät McEwan das kontrafaktische Erzählen ebenso mit Blick auf den rea-len historisch-politischen Hintergrund der britischen Geschichte in den frühen achtziger Jahren, also der Zeitläufte, in denen die Romanhandlung spielt.

Zur Erinnerung die Fakten : Nachdem Labour die Zeichen der Krisen-Zeit mit einem deutlichen Anstieg der Ar-beitslosigkeit nicht erkennt, schreibt Premierminister James Callaghan 1979 nach einer Niederlage bei einem Misstrauensantrag im Unterhaus Neuwahlen aus, die die Tories (Konservativen) mit einer deutlichen Mehrheit für sich entscheiden. Pre-mierministerin wird Margret Thatcher, die damit als erste Frau Regierungschefin ei-nes westeuropäischen Landes ist: „Was als Sieg weiblichen Machtanspruchs hätte gedeutet werden können, wurde von ihr selbst freilich polemisch umgedreht, indem sie bewusst den Eindruck vermittelte, der einzige Mann in einem Kabinett von Schwächlingen zu sein.“

Thatcher bleibt von 1979 bis 1990 Regierungschefin des Vereinigten Königreiches und ist damit länger als jeder andere britische Premierminister des 20. Jahrhunderts im Amt. Ihre Regierungszeit ist innenpolitisch eng verbunden mit Privatisierungen von Staatsbetrieben und der Entmachtung der Gewerkschaften, der Durchsetzung flexibler Arbeitsmarktgesetze sowie einer Deregulierung des Finanzsektors. Außen-politisch sieht Thatcher neben einem engen Schulterschluss mit den USA (Ronald Reagan; Stationierung von Cruise-Missiles auf englischem Boden; NATO-Doppelbeschluss) zwar durchaus die Notwendigkeit einer Kooperation der europäi-schen Staaten, wendet sich aber strikt gegen die Europäische Währungsunion – Großbritannien ist nach einem Referendum unter Edward Heath 1973 der EWG beigetreten - und hält am britischen Pfund fest. Bereits kurz nach ihrem Amtsantritt tritt sie für eine Reduzierung der britischen Zahlungen an die EWG ein, die sie schließlich auch durchsetzt.

Entscheidend zu Thatchers Reputation trägt zweifellos der Sieg Großbritanniens im Falklandkrieg 1982 bei, der ihr endgültig den Ruf der „Iron Lady“ verschafft: „Es war dann tatsächlich der ‚Falkland-Faktor‘, der Britanniens heroische Zeiten als imperiale Großmacht beschwor und Margret Thatcher, die sich zuvor auf einem Tief-punkt ihrer Popularität befunden hatte, im folgenden Jahr einen glänzenden Wahlsieg bescherte.“ Mit „eisernem Willen“ hatte Thatcher innerhalb ihrer Regierung ein militärisches Eingreifen auf den Falklandinseln durchgesetzt, immerhin 13.000 Kilometer ent-fernt und seit 1833 Objekt territorialer Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und (zunächst) Spanien und dann Argentinien. Das Ziel: Die Zurückweisung der als Provokation empfundenen Beanspruchung der Inseln durch die argentini-sche Militärjunta (General Galtieri) durch Entsendung von argentinischen Elitesol-daten am 02. April 1982. Das Ergebnis: 255 Tote auf britischer und 649 Tote auf ar-gentinischer Seite und ein gewisser Nationalstolz auf britischer Seite nach dem Sieg , nachdem zu Beginn der Auseinandersetzungen festzustellen war: „Weder leisteten die auf den Falklands stationierten Truppen nennenswerten Widerstand, noch existierte in Großbritannien ein gesteigertes Interesse an jenen Territorien, auf denen man mehr Schafe als menschliche Einwohner (insgesamt 2000) vermutete.“

Für die argentinische Militärjunta war die Intervention auf den Falklands der Versuch, von den innenpolitischen Zuständen im Land (desolate wirtschaftliche Lage; Menschenrechtssituation) abzulenken. Die kriegerischen Auseinandersetzungen endeten nach 72 Tagen Mitte Juni 1982 mit der „Kapitulation“ Argentiniens. Das Ergebnis führte (mit) zum Sturz der Junta und zur Rückkehr zum demokratischen System.

Margret Thatcher scheitert im November 1990 bei der anstehenden Wahl zur/zum Parteivorsitzenden, weil sie die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlt: „Sie befand sich damit in derselben Situation wie Heath im Jahr 1975, als sie gegen ihn angetreten war. Erneut galt die Abstimmung als Misstrauensvotum, und auch Thatcher sah keine andere Möglichkeit, als zurückzutreten.“ Die Gründe für diese Niederlage sind vielfältig, eine kopfbezogene Steuer (die Poll Tax), die Thatcher 1990 politisch durchsetzen wollte und die hier besonders er-wähnt wird, weil sie auch im Roman eine gewisse Rolle spielt, „war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“

Was hat Ian McEwan nun aus diesem realen historischen Gerüst gemacht? Allgemein wird man festhalten können, dass er die britische Geschichte konsequent gegen den Strich bürstet. Diese Umdeutung tatsächlicher historischer Ereignisse beginnt mit dem Falkland-krieg, der bei McEwan mit einer Niederlage Großbritanniens endet mit der Folge, dass die argentinische Junta nicht nur an der Macht bleibt, sondern „ihre Beliebtheit […] ins Unermessliche“ wuchs „und die Falklandinseln […] von nun an Las Malvinas“ hießen. Charlie lässt das Unternehmen beim Auslaufen der britischen Schiffe Richtung Falklandinseln zu Beginn nicht unbeeindruckt: „Es ließ mich nicht kalt, sooft ich auch erklärt hatte, dass ich eigentlich dagegen bin. Ich liebte mein Land“ (S. 32). Dem Nationalstolz, vom Autor in wenigen Zeilen treffend skizziert - „Fast das ganze Land wie auf einer Traumbühne…“ – verfällt auch er: „Das rührte mich, obwohl ich derlei verabscheute. Als eine Highland-Pipers-Kapelle in dichter Reihe zur Schiffspier marschierte, ging mir das Herz auf“. Fast meint man, „Rule Britannia“, die inoffizielle britische Nationalhymne, zu hören. Nach der vermeintlichen Niederlage, der Autor zählt 2920 Tote auf britischer und 406 Tote auf argentinischer Seite , spürt Charlie daher gerade wegen seiner anfänglichen Begeisterung „eine ge-wisse Mitverantwortung“, da allerdings die Premierministerin „die volle Verantwortung“ übernimmt, ihren Rücktritt anbietet, aber dennoch nicht abtreten muss, bleibt Charlie weiter Zuschauer: „Wir übrigen saßen am Fernseher und schauten erschüttert zu“.

Wie volatil seine Haltung eigentlich ist, offenbart er in einer Auseinandersetzung mit Miranda über den Falklandkrieg, bei der Miranda sich vehement als überzeugte Nationalistin zeigt, die den Einsatz der britischen Flotte verteidigt, wäh-rend Charlie die nun ebenfalls eindeutige Haltung vertritt, „dass sie [Thatcher] nach einem solchen Gemetzel im Amt bleibe, sei der größte politische Skandal unserer Zeit“ . Das Gespräch entgleitet den beiden, so dass Adam von Miranda als Schiedsrichter angerufen wird, auch, um seine Loyalität gegenüber einem von ihnen einzufordern. Das erwartet vor allem auch Charlie. Adam hingegen, der offensichtlich keine Partei ergreifen, sondern neutral bleiben möchte, flüchtet sich zur Erklärung zunächst in das Bayessche Theorem der Wahrscheinlichkeit, um dann einzulenken und darauf zu verweisen, dass es mit Blick auf die Zukunft „keine absoluten Werte geben“ könne, sondern nur „sich ändernde Wahrscheinlichkeits-grade“. So lässt er offen, wessen Position er für die richtige hält und wem er „bestenfalls Neutralität“ bieten kann.

Die historischen Ereignisse um den Falklandkrieg sind für McEwan damit die Folie, auf der er das Dreiecksgeflecht Charlie/Miranda/Adam literarisch entfalten kann, insbesondere im Hinblick auf den sich anbahnenden „Krieg“ zwischen ihnen – Miranda schläft im Anschluss an diese Auseinandersetzung mit Adam, der für Charlie so zum Rivalen wird, den er am Ende zerstört („tötet“). Dass McEwan die realen Ereignisse gegen die Fakten wendet, ist für diese „private“ Auseinandersetzung dabei allerdings unerheblich und keine schlüssige Begründung für die weitere Handlung.

Kontrafaktisch ist ebenfalls die Position, die McEwan für Tony Benn bereithält, den er als Vertreter der Labour Party zum Oppositionsführer und damit zum Gegenspieler Thatchers macht . Während der historische Benn bereits 1971/72 Vorsitzender der Labour Party war und 1981 unter dem neuen Vorsitzenden Michael Foot die Wahl zum Stellvertreter gegen Denis Healey knapp verlor, ist er bei McEwan derjenige, der Margret Thatcher, die im Roman bereits 1982 über die Einführung der „Poll Tax“ stolpert, bei Neuwahlen als Regierungschef ablöst: „Der Sieg war erdrutschartig“. Einigermaßen überraschend gehört der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zum Programm Tony Benns, das er in einer Rede an die Nation erläutert: „Europa sei nicht bloß eine Union, von der vorwiegend große Konzerne profitierten. Die Geschichte der anderen Mitgliedsstaaten unterscheide sich zudem grundlegend von unserer eigenen. Sie hatten gewaltsame Revolutionen erlitten, Invasionen, Besat-zungszeiten und Diktaturen. Folglich waren sie nur zu bereit, ihre Identität einer ge-meinsamen Sache zu unterstellen, unter Brüssels Federführung. Wir dagegen seien seit beinahe tausend Jahren nicht mehr erobert worden. Und bald würden auch wir wieder in Freiheit leben.“ McEwan konterkariert damit die tatsächlich äußerst disparate Haltung Labours zum Brexit unter ihrem Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, die sich kurz so zusammenfassen lässt: Wir sind im Prinzip für einen Verbleib in der EU, respektieren aber das Ergebnis des aktuellen Referendums. Bei vorgezogenen Neuwahlen bleiben wir zunächst neutral, handeln im Falle eines Wahlsiegs mit Brüssel aber einen besseren Deal aus, als die Tories das hinbekommen und stellen diesen Deal dann in einem Referendum zur Wahl.

Tony Benn fällt bei McEwan auf einem Labour-Parteitag in Brighton einem Bombenanschlag zum Opfer. Der Autor bringt den amerikanischen Präsidenten Carter und den französischen Präsidenten Marchais ins Spiel, die ihren Urlaub abbrechen bzw. Trauerbeflaggung anordnen – US-Präsident ist seit 1981 Ronald Reagan, Georg Marchais, Chef der KP Frankreichs, war zwar bei den Wahlen 1981 Gegenkandidat Francois Mitterands, hat es aber nie ins Präsidentenamt geschafft. Auf Margret Thatcher verübt die IRA am 12. Oktober 1984 auf einem Parteitag der Konservativen in Brighton tatsächlich einen Bombenanschlag, sie bleibt aber unverletzt.

Weitere historisch-politische Umdeutungen McEwans komplettieren seinen Ansatz des kontrafaktischen Erzählens, verbergen sich jedoch hinter Bindestrich-Hinweisen - so Kennedys „Beinahe-Ermordung“ oder der nicht erfolgte Atombombenabwurf auf Hiroshima - und bleiben scheinbar Randnotizen.

Die Thatcher/Benn-Thematik, die McEwan entwickelt, spielt dagegen eine handlungsleitende Rolle im Roman, da auch hier, wie schon bei den Ereignissen um den Falklandkrieg, ein deutlicher Gegensatz zwischen Charlie und Miranda zutage tritt: „Ich bin beileibe kein Tory“, so Charlie, „glaube aber, ich wäre ebenso schockiert gewesen, wenn Mrs Thatcher in dem Hotelbett gelegen hätte. […] Miranda sah das anders, für sie war Benn als Mensch in einer ganz anderen Liga als Margret Thatcher. Und doch auch nur ein Mensch, warf ich ein. Ein Graben tat sich zwischen uns auf, in den wir lieber nicht hineinblickten.“

Effekte des „Spiels mit der Zeit“

Die Gräben, die sich zwischen Charlie und Miranda im Verlauf der Handlung auftun, schlagen sich nicht nur in ihrem unterschiedlichen Menschen-, sondern auch in ihrem Geschichtsverständnis wieder. Über Miranda heißt es: „Da sie an einer traditionellen Universität studiert hatte, die auf altmodische Art narrative Berichte über die Vergangenheit produzierte, musste sie ein neues Vokabular lernen, eine neue Art zu denken.“

Offenbar hat Miranda sich mit einer für die damalige Zeit neuen wissenschaftlichen Methode, der Dekonstruktion, auseinanderzusetzen: „Als gegeben anzunehmen, dass in der Vergangenheit überhaupt etwas geschehen war, gehörte sich nicht mehr. Es galt allein, historische Dokumente zu berücksichtigen, den sich ändernden wissenschaftlichen Zugang zu diesen Texten und unser eigenes, sich änderndes Verhältnis zu diesen jeweiligen Zugängen, die allesamt durch ihren ideologischen Kontext sowie durch ihren Zusammenhang mit Macht und Wohlstand, mit Rasse, Klasse, Geschlecht und sexueller Orientierung definiert waren.“

Charlie hingegen hält dies zwar nicht für „sonderlich unvernünftig“, aber „auch nicht [für] sonderlich interessant“. Sein Interesse gilt einer „Zukunft mit Miranda“. Er ist sogar bereit, hierfür seine „eigene jüngste Geschichte zu vergessen“, die historischen Zeugnisse seiner eigenen Vergangenheit auszulöschen, sich „neu zu erfinden“.

Und der Autor selbst? McEwan baut im Gegensatz zu Charlies Geschichtsvergessenheit ganz auf die historischen Personen und Ereignisse, die insbesondere die britische Geschichte und Gesellschaft der letzten Jahrzehnte dominiert haben. Wie aber sich dieser Vergangenheit nähern, um sie für die Handlung fruchtbar zu machen? Nimmt er die jüngere Geschichte zum Anlass, um sie zu dekonstruieren, dem Leser also die Perspektiven-, Zeit- und Interessengebundenheit der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen romanhaft nahezubringen und hierauf ein Handlungsgerüst zu gründen? Schon die feine britische Ironie, mit der er Miranda für ihr Studium wissenschaftliche Arbeiten mit wunderbar abstrusen Titeln wie „Eichelmast in Swyncombe: Die Bedeutung halbwilder Schweine für die Haushaltsökonomie eines mittelalterlichen Dorfes in den Chilterns“ oder „Die Reform der Korngesetze des neunzehnten Jahrhunderts sowie deren Auswirkungen auf einer Straße in einer Stadt in Herefordshire“ anfertigen lässt, spricht jedenfalls nicht für diese Annahme.

McEwan dekonstruiert Geschichte nicht, so wenig wie er sie rekonstruiert, er treibt beides gewissermaßen auf die Spitze, indem er sich jede künstlerische Freiheit nimmt, im Interesse der (fiktionalen) Handlung historische Fakten so umzudeuten, dass er sie in ihr Gegenteil verkehrt: „There are novels, of course, which treat historical figures and go into their lives in a very deep and intense way and there I think novelists have a responsibility toward so-me notion of truth. Machines Like Me is much more playful. Although I don’t deal with the characters of Tony Benn or Mrs Thatcher, their fates are entirely different from the fates they experienced in real historical truth. I feel less of a responsibility to truth be-cause these are figures in the game that I’m playing with both history and politics and society and science.“ Und: „Es ist ein Spiel mit der Zeit, das mit Turing beginnt. Ich wollte ihn unbedingt in meinem Roman haben, ohne dass er eine lebensverlängernde Zauberpille nimmt oder Selbst-mord begeht.“

Der Autor selbst hat sein Spiel mit historisch-politischen, gesellschaftlich-kulturellen und wissenschaftlich-technischen Ereignissen dabei offenbar als eine Art Befreiung im Schreibprozess erlebt: „So it was a liberation, having spent half a lifetime researching my novels in a very de-tailed way; with this and my previous novel, ‚Nutshell‘, I really just sat at my desk and freed myself from the necessity of the facts.“ So wunderbar diese Befreiung von der Notwendigkeit der Fakten im Einzelfall auch arrangiert ist und gelingt, oft wirkt es, als seien die Personen nur Sprachrohr des Autors, der ihnen geradezu deklaratorisch theoretische Annahmen und Reflexionen in den Mund legt, die Figurenzeichnung bleibt bisweilen seltsam blass.

Nichtsdestoweniger bleiben Charlie und Miranda, Adam und Turing als Phantasiefiguren des Autors diejenigen, mit denen McEwan seinen und unseren Fokus zu einem Zeitpunkt auf die Künstliche Intelligenz richtet, in dem wir nach McEwan „in the process of handing over responsibility for safety, but also for ethical decisions, to machines” sind. Dabei ist er weit davon entfernt, KI-basierte Entwicklungen, und seien es künstliche Menschen wie Adam, von vorneherein zu verteufeln. Vielmehr beschäftigt ihn „die Möglichkeit, dass wir eine menschenähnliche Maschine herstellen, der wir unsere besten Eigenschaften überlassen. Denn wir wissen, wie wir gut sein können, aber es gelingt uns oft nicht, gut zu sein.“

Der Ball liegt also bei uns. Mit „Maschinen wie ich (und Menschen wie ihr)“, so der vollständige Titel des Romans, hält McEwan dem Leser einen Spiegel vor, in den wir unweigerlich blicken müssen, weil sich Welt und Menschheit unabänderlich weiterentwickeln. Ebenso unabänderlich sind mit der weiteren Entwicklung Künstlicher Intelligenz auch Fragen politischer, moralischer und ethischer Art verknüpft, denen sich Wissenschaftler, Politik und Gesellschaft stellen müssen.

Indem McEwan mit dem Androiden Adam eine so oder so ähnliche mögliche Zukunft in eine konstruierte, fiktive Vergangenheit der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts holt, gelingt es ihm, den Leser mit der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu konfrontieren. Im Interview mit der Los Angeles Times weist er auf seinen „old fashioned view“ hin, dass auch in unserer von Bildschirmen besessenen Welt, „a novel can be very effective in exploring ethical ques-tions.”

Mit den Mitteln des kontrafaktischen Erzählens unterhält McEwan den Leser vortrefflich, insbesondere den eingeweihten, der die Fakten kennt. Selbstironisch bekennt er: “Though I have become a merchant of fake news, I’m afraid, for probably an entire American audience and almost anyone else under 40.” Als „Händler von fake news“ amüsiert er den Leser, manchmal verblüfft auch schlicht die Wirkung, die sich beim Lesen entfaltet, wenn er die Ermordung Kennedys fiktional zurücknimmt und die Atombombe über Hiroshima nicht gezündet wird: „…so it’s not quite a dystopia, it’s something slightly better than reality.“

Neben dem Anspruch, mit seinen Büchern unterhalten zu wollen, zeigt McEwans Szenario einer konstruierten, fiktiven Vergangenheit die Relevanz des Themas „Künstliche Intelligenz“ für Gegenwart und Zukunft. Sein „Spiel mit der Zeit“, das den Leser auf zahlreiche Aspekte eines Themas stößt, das in seiner gesellschaftlichen Tragweite eine Zeitenwende markiert, hat damit eine zutiefst moralische Dimension. Natürlich gibt es auch für McEwan zum Thema „Künstliche Intelligenz“ keine fertigen Antworten, auch für ihn ist der Blick in die Zukunft offen. Immerhin gelte: „There is that rule about imagined futures: things are never quite as bad as pessimists say and never quite as good as optimists hope.“

LITERATUR

Adams, Tim (14.04.2019): Interview Ian McEwan ‘Who’s going to write the algorithm for the little white lie?’, in: The Guardian, URL: https://www.theguardian.com/books/2019/apr/14/ian-mcewan-interview-machines-like-me-artificial-intelligence (Stand: 14.01.2021)

Brüggemeier, Franz-Josef (2010): Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert, München: C.H. Beck

Hartkopf, Monika (2021): Erzählhaltung, Köln: unveröffentlichtes Manuskript

Menon, Anil (14.06.2019): Back to the present, in: The Hindu,URL: https://www.thehindu.com/books/books-reviews/machines-like-me-by-ian-mcewan-reviewed-by-anil-menon-back-to-the-present/article27914719.ece,(Stand: 14.01.2021).

Miller, Stuart (25.04.2019): Q&A: Ian McEwan on how ‘Machines Like Me’ reveals the dark side of artificial intelligence, in: Los Angeles Times, URL: https://www.latimes.com/books/la-et-jc-ian-mcewan-interview-machines-like-me-20190425-story.html (Stand: 14.01.2021)

Orwell, George (1949): 1984, o.O.: The Estate of Eric Blair (zitiert nach: Orwell: 1984 (482020), Berlin: Ullstein

Schmidt, Johann N. (2011): Großbritannien 1945 – 2010. Kultur, Politik, Gesellschaft, Stuttgart: Alfred Kröner The Penguin / Penguin Random House UK (15.04.2019), URL: https://www.penguin.co.uk/articles/2019/apr/ian-mcewan-machines-like-me-interview.html (Stand: 14.01.2021)

Thomas, Gina (18.05.2019): Wir sehnen uns nach künstlichen Menschen, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/schriftsteller-ian-mcewan-ueber-brexit-und-kuenstliche-intelligenz-16192770.html (Stand: 14.01.2021)


Legalität, Moralität und Ethik (von Monika Hartkopf)

Adam ist als künstlicher Mensch so programmiert, dass er die Gesetze kennt und beachtet, ja sogar selbständig gegen nicht gesetzeskonformes Verhalten vorgeht. Diese Seite seines Wesens deutet sich bereits am fulminanten Ende des ersten Kapitels an, als Adam Charlie davor warnt, dass Miranda eine „systematische, böswillige Lügnerin“ (48) sein könnte. Offensichtlich hat Adam, wie er später selbst erklärt (vgl. 85ff.), nach allen ihm zugänglichen Informationen über Miranda gesucht und ist dabei auf ihre Beteiligung an dem Prozess gegen Gorringe gestoßen. Dass er dasselbe sicher auch bezüglich seinem Besitzer Charlie getan und dabei dessen Steuerbetrug und den daraus folgenden Entzug der Anwaltszulassung (vgl. 23, 29f.) entdeckt hat, wird von ihm niemals erwähnt, vielleicht weil er auf Loyalität zu seinem Besitzer programmiert ist.

In konsequenter Anwendung des Prinzips der Gesetzestreue informiert Adam ungefragt die zuständigen Behörden, nachdem Mark bei Charlie abgeliefert worden ist, und bewirkt so, dass das Kind von Sozialarbeiterinnen abgeholt wird (vgl. 145f., 152f.). Den Gipfel der Eigenmächtigkeit erreicht Adam, als er einerseits das inzwischen von ihm an der Börse erwirtschaftete Vermögen von 97.000 Pfund zur Begleichung von Charlies Steuerschuld und für wohltätige Zwecke weggibt (vgl. 359f.) und andererseits einen Prozess gegen Miranda wegen Meineid und Falschaussage herbeiführt (vgl. 364f.), was zur Folge hat, dass Charlie Adam in einem vermeintlichen Notwehr-Akt erschlägt, Miranda zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und die Adoption von Mark erheblich erschwert wird. Im Streit mit Charlie und Miranda wird deutlich, dass der Android in seinem Verhalten klaren Leitlinien folgt und ihm dabei keinerlei Zweifel an deren Richtigkeit kommt. Er bezieht sich ausdrücklich auf allerdings inhaltlich nicht näher erläuterte Prinzipien: „Es gibt Prinzipien, die wichtiger sind als deine Bedürfnisse oder die von irgend jemand anderem zu jedem gegebenen Zeitpunkt.“ (366) Eine inhaltliche Forderung des Prinzips besteht in der Gleichheit der Rechte und Pflichten vor dem Gesetz. „Wenn Gorringe angeklagt wird, musst du auch angeklagt werden. Symmetrie, verstehst du?“ (364, vgl. auch 284, 393), erklärt er Miranda. Adam beruft sich außerdem auf die Logik (vgl. 365) als Maßstab für sein Verhalten. Von Miranda wünscht er sich, „dass du für deine Handlungen einstehst und akzeptierst, was das Gesetz entscheidet.“ (365)

So weit es sich um die Legalität, d.h. Rechtmäßigkeit von Handlungen bzw. Unterlassungen handelt, ist es vorstellbar, dass ein Roboter nach einem Algorithmus eindeutige Entscheidungen treffen kann. Denn hierbei geht es darum festzustellen, ob eine Handlung in den Regelungsbereich eines Gesetzes fällt und diesem ent- oder widerspricht. Schwieriger wird es dagegen im Bereich der Moral, die mit dem Recht vielfältig verwoben ist.

Einerseits setzt das Recht moralische Normen, also die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was gut und gerecht ist, voraus. Manche meinen sogar, die Rechtsordnung sei ausschließlich die in Gesetzesform gegossene Moral einer Gesellschaft, eine Position, die sich dadurch entkräften lässt, dass es offensichtlich Gesetze gibt, die keinerlei moralische Relevanz haben, wie z.B. das Rechtsfahr-Gebot. In vielen Fällen wird man aber feststellen, dass moralische Normen zugleich Rechtsnormen sind, ja dass sich letztere sogar ausdrücklich auf jene beziehen, z.B. bei den Grundrechten oder dem Tötungsverbot. Die Parallelität von Rechts- und Moralnormen wird besonders im klassischen Naturrecht und im Vernunftrecht betont.

Andererseits sind Recht und Moral klar voneinander getrennte Normsysteme. Dies betont besonders der Rechtspositivismus[1], der Recht ausschließlich auf das Vorhandensein vom Gesetzgeber ordnungsgemäß erlassener Normen bezieht, deren Inhalt daher auch ungerecht sein kann. Die verfahrensmäßig korrekte Setzung des Rechts begründet zugleich die Norm, während die Moral dazu einer inhaltlichen Begründung im Diskurs bedarf, was zentrale Aufgabe der Ethik bzw. Moralphilosophie ist. Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt in der Durchsetzung der jeweiligen Normen; während der Verstoß gegen Gesetze nach festgelegten Regeln bestraft wird, das Recht also mit Zwang durchgesetzt wird, verläuft die Sanktionierung bei Missachtung moralischer Regeln informell, meist durch gesellschaftliche Ächtung.

Dreh- und Angelpunkt in der Frage nach dem Verhältnis von Legalität und Moralität ist die Gerechtigkeit. Ihre zentrale Rolle in der Ethik ist unbestritten, aber auch das Recht wird am Maßstab der Gerechtigkeit gemessen und auch Rechtspositivisten behaupten nicht, dass das Recht nicht gerecht sein sollte oder sogar ungerecht sein dürfte. Die Frage nach der Gerechtigkeit steht denn auch im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen Adam, Miranda und Charlie. Mirandas ausdrücklich erklärter Wunsch nach Gerechtigkeit (vgl. 216) versteht allerdings unter Gerechtigkeit Rache, was Adams massiven Widerstand herausfordert (vgl. 365, 367). Hier ist zu erkennen, dass der Android nicht nur sachlich und präzise rechtliche Normen anwendet, sondern mit Engagement und Gefühl bei der Sache ist. In seinem Verhalten zeigt sich die Orientierung an moralischen Prinzipien, wenn er sich an Versprechen gebunden fühlt und Loyalität sowohl gegenüber Charlie als auch Miranda empfindet (vgl. 161), so dass er in einen Gewissenskonflikt gerät. Es bereitet ihm gefühlsmäßige, sich sogar körperlich äußernde Probleme (vgl. 162), wenn er Charlie seine Liebe zu Miranda gesteht, wozu er sich offenbar verpflichtet fühlt. Solches Verhalten bestätigt Charlies Vermutung, dass „er auf ein gewisses Maß an intellektueller Redlichkeit programmiert war“ (111). Menschlich wirkt Adam aber gerade auch da, wo er gegen Regeln verstößt, z.B. wenn er nach dem zu seinem Tod führenden Schlag seine Besitzer bittet, ihn vor seinen Konstrukteuren zu verstecken und diese anzulügen, damit sein Körper zu Turing [2] gebracht werden kann (vgl. 369).

An der Bitte um eine Lüge zum Schutz seiner Persönlichkeit ist besonders auffallend, dass sie den Aussagen des fiktiven Turing über die Grenzen des künstlichen Verstands widerspricht. Dieser behauptet: „Wir haben noch keine Vorstellung, wie wir Maschinen das Lügen beibringen könnten.“ (400) Turing verweist auf die Grauzonen, in denen „[h]armlose oder gar hilfreiche Unwahrheiten“ (400) bei Menschen selbstverständlich, Adam aber nicht möglich seien. Turings Ansicht entspricht jedoch den Überlegungen, die Charlie anfangs über die Moral der Maschine anstellt: „Adam war mir angeblich moralisch überlegen. Einen besseren Menschen würde ich nie kennenlernen.“ (123) Er spekuliert über ein „perfekt gestaltetes Moralsystem“ in Form einer „Moralsoftware“ (124) und stellt einer derartigen Maschine den unvollkommenen Menschen gegenüber: „In menschlich-moralischen Dimensionen zu existieren bedeutete, einen Körper zu besitzen, […], Verhaltensmuster, ein Gedächtnis, Verlangen zu empfinden, […] Schmerz kennenzulernen.“ (124) Angesichts von Adams Entwicklung stellt der Leser fest, dass der Autor die gewohnte klare Unterscheidung von Mensch und Maschine im Verlauf des Geschehens immer fragwürdiger werden lässt.

Das Feld, in dem diese Unterscheidung am ehesten möglich wäre, ist die Ethik oder Moralphilosophie, in der es um die Begründung der moralischen Normen geht. Der Mensch ist eben nicht ein Wesen, das nach einem festgelegten Moralsystem jeweils die eine richtige Entscheidung treffen kann, wie es bei der Lösung mathematischer Probleme möglich sein mag, sondern er muss in jedem Einzelfall entscheiden, was in der jeweiligen Situation das Richtige ist. Das moralisch Gute überhaupt erst zu finden ist seine Aufgabe. Für diese Suche bietet die Ethik unterschiedliche Theorien an. So könnte sich Adam mit einem vehementen Lügen-Verbot auf den kategorischen Imperativ Kants berufen, der in viel gescholtener Rigidität verlangte, man dürfe den Mörder „auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei“ [3], nicht belügen. Kant begründet dies wie folgt: „weil die Pflicht der Wahrhaftigkeit […] keinen Unterschied zwischen Personen macht, gegen die man diese Pflicht haben, oder gegen die man sich auch von ihr lossagen könne, sondern weil es unbedingte Pflicht ist, die in allen Verhältnissen gilt.“[4] Würde Adam dagegen dem Utilitarismus [5] folgen und das größte Glück für die größte Zahl anstreben, sähe seine Entscheidung vermutlich anders aus. Diese Beispiele sollen genügen, um zu zeigen, dass die ethische Dimension der Moralbegründung im Roman keine Rolle spielt, wohl aber die Moral, über die auch die Maschine verfügt.

Im Blick auf die Entwicklung Adams, der mit jedem Tag mehr lernt, Mensch zu sein, sowie auf seine Hoffnung, in der Obhut von Turing weiterleben und -lernen zu können, legt der Autor die Schlussfolgerung nahe, dass das Potential der künstlichen Menschen noch nicht ausgeschöpft ist und die Ebene der moralphilosophischen Reflexion in der Zukunft erreichen wird. Das für eine solche Reflexion erforderliche Selbstbewusstsein nimmt Adam jedenfalls für sich in Anspruch, wenn er seine „Version von Schlaf“ (351) beschreibt, in dem er – darin wieder ganz ähnlich dem menschlichen Schlaf – einen „Prozess der Reparatur und Stabilisierung“ durchläuft, „aus dem er täglich erfrischt auftauche, froh, sich seiner selbst wieder bewusst, wieder im Zustand der Gnade zu sein – seine Worte -, das Bewusstsein zurückzuerlangen, das aus dem Wesen der Materie selbst entsprang.“ (352) Die Verwendung des durch die Parenthese besonders hervorgehobenen theologischen Begriffs der Gnade weist den Leser auf die Parallele zum menschlichen Selbstverständnis als Geschöpf Gottes hin. Verhindert bzw. erschwert wird die Entwicklung der künstlichen Intelligenz in diese Richtung laut dem Turing des Romans dadurch, dass „wir uns selbst nicht verstehen.“ (395) In diesem Sinne lässt McEwan den Wegbereiter der KI-Forschung das Resümee ziehen: „Wenn wir unser eigenes Innerstes nicht begreifen, wie sollten wir da ihres [das der Androiden] gestalten“ (395).

Anmerkungen

  1. Alle Zitate beziehen sich auf die Ausgabe von 2019 im Diogenes Verlag, Zürich. Seitenzahlen finden sich jeweils in Klammern hinter den Zitaten. Die Originalausgabe „Machines like me (and people like you)" erschien ebenfalls 2019 bei Jonathan Cape, London.