Juli Zeh, UNTER/LEUTEN

Aus Literarische Altersbilder
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1. Vielfalt der Perspektiven

Die Erzählweise oder genauer Erzählsituation und -perspektive scheint ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Romans und seines Erfolges bei Publikum und Literaturkritik zu sein – so jedenfalls unsere durch die genauere Untersuchung des Textes zu begründende Hypothese. Auf den ersten der mehr als 600 Seiten des Werkes gerät der Leser unvermittelt mitten in ein erregtes Gespräch zwischen Gerhard Fließ und seiner Frau Jule. Wir hören den Dialog, verstehen aber zunächst wenig: von welchem „Tier“, das „uns in der Hand“[1] hat (S. 9) , ist hier die Rede? Während wir die offensichtlich verzweifelte Frau nur in der Außensicht erleben, erfahren wir von ihrem Mann sehr viel mehr, denn wir lernen seine Innenwelt kennen („Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben.“ S. 9), erleben Jule aus seinem Blickwinkel und mit seinem Hintergrundwissen. So denkt er beim Anblick ihrer Erschöpfung zurück an die Zeit vor 5 Jahren, als er Jule kennenlernte (vgl. S.10), und vermittelt dem Leser damit zugleich eine Menge an Informationen auch über sich selbst. Wir finden also im 1. Kapitel einen personalen Erzähler aus der Sicht der Erzählfigur Fließ, der nicht mehr, aber auch nicht weniger weiß als das, was Gerhard Fließ von sich und seinem Leben sowie den Menschen, mit denen er zu tun hat, weiß. Wir sehen durch seine Augen und erleben seine Gefühle und Gedanken mit, ein Erzähler spricht zu uns über ihn. Die Tatsache, dass alle Kapitel als Titel die Namen von Figuren tragen, wie der Leser spätestens zu Beginn des 2. Kapitels feststellt, gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass wir es hier mit vielen verschiedenen Perspektiven zu tun haben. Es tauchen im I. Teil des Romans sage und schreibe 11 verschiedene Figuren als Träger der personalen Perspektive auf, und der Blick in das Inhaltsverzeichnis am Schluss des Buches zeigt, dass sich ausschließlich diese Namen in allen V Teilen des Romans wiederholen – mit einer Ausnahme: im 62. und letzten Kapitel des Textes begegnet uns noch ein neuer Name, dazu später mehr. Aufgrund der Vielfalt der personalen Erzähler erscheint es angemessen von einer multiperspektivischen Erzählweise oder vielleicht sogar von einem multiplen Erzähler zu sprechen. Der Leser lernt durch die Perspektivenvielfalt die sehr unterschiedlichen Figuren intensiv kennen; auf deren Darstellung im einzelnen soll hier verzichtet werden, weil sowohl der Verlag als auch die im Internet rund um den Roman veröffentlichten Materialien ausreichend Informationen zu den Figuren bieten. Man kommt gar nicht umhin, ihren Blickwinkel einzunehmen und Verständnis, sogar Anteilnahme zu entwickeln, was umso verblüffender ist als es sich um teilweise in scharfer Opposition zueinander stehende Figuren handelt (Gombrowski – Kron) oder auf den ersten Blick sehr unsympathische (Schaller), um Figuren mit akademischen Berufen (Fließ, Kron-Hübschke), mit sehr geringer Bildung (Schaller), mit starker Bindung an das Dorf (Seidel, Kron,…), mit städtischer Herkunft und ohne jede Verbundenheit zur neuen Umgebung (Franzen, Fließ-Weiland, Wachs) mit viel oder wenig Geld (Meiler – Schaller), am Anfang des Lebens als Erwachsene stehend (Franzen, Fließ-Weiland) oder an dessen Ende (Kron). So erlebt der Leser ein ständiges Wechselbad der Gefühle: hat er zum Beispiel gerade noch mit der Figur von Gerhard Fließ mitgefühlt, so erlebt er diesen in einem der nächsten Kapitel in der Wahrnehmung einer anderen Figur und muss erschreckende Seiten an ihm feststellen. Da alle Figuren sowohl über die anderen als auch über sich selbst nachdenken, sich erinnern an Vergangenes und planen für die Zukunft, werten und urteilen, wird der Leser mit einer derartigen Fülle von Informationen und teilweise intimen Innensichten konfrontiert, dass er das Gefühl bekommt, über allen Figuren zu stehen und einen Überblick zu haben, wie ihn nur der auktoriale Erzähler im Sinne eines gottgleichen Alleswissers haben kann. Zu dieser Fehleinschätzung trägt besonders bei, dass die Selbstbetrachtungen einzelner Figuren sich auf einem distanzierten Reflexionsniveau bewegen, das man ihnen nicht recht zutrauen mag. So heißt es in einem aus der Sicht Schallers erzählten Kapitel: „Als Schaller im Krankenhaus gelegen hatte und wieder lernen musste, was ‚ich‘ bedeutete, war Miriam zur Regisseurin jenes Films geworden, den er heute sein Leben nannte.“ (S. 348f.) Dass gerade Schaller, von dem es wenig später heißt: „Kein einziger Gedanke belebte seinen großen, leeren Kopf.“ (S. 351), sein Leben so zu sehen vermag und ihm diese Worte zur Verfügung stehen, muss zumindest verwundern. An vielen Stellen scheint der multiple Erzähler den Figuren gewissermaßen Artikulationshilfe zu geben, indem er ihre Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle und Gedanken in Worte und Bilder fasst, die auffallend differenziert sind und teilweise geradezu den Charakter von Sinnsprüchen oder Sentenzen bzw. Aphorismen haben. Beispiele lassen sich auch hier von vielen oder vielleicht sogar allen Figuren geben, ein Grund, weshalb der Leser seine Sympathie immer wieder neu verteilen muss. So denkt der verbohrte und von seiner eigenen Tochter als neurotisch bewertete Kron: „Nur der Mensch wollte das Leben partout als Straße und nicht als Zustand verstanden wissen, weshalb er sich selbst und andere mit Ereignissen quälte, die schon stattgefunden hatten oder noch kommen sollten.“ (S. 483) Vereinzelt scheint es so, als wisse der personale Erzähler etwas, was er aus der jeweiligen Figurensicht gar nicht wissen kann. Wenn aus Frederiks Sicht erzählt wird: „Linda, zu deren Gewohnheiten es gehörte, jede seiner Bewegungen zu beobachten, verkniff sich eine Bemerkung.“ (S. 296), scheint hier die Innenperspektive Lindas vorzuliegen. Dieser Eindruck wird aber durch den folgenden Satz geschickt abgefangen: „Dummerweise konnte Frederik ihre Gedanken lesen […]“ (S. 296), d.h. durch Nähe und inniges Verständnis erklärt, was es bei Paaren, die einander gut kennen, geben mag. Die Verunsicherung des Lesers hinsichtlich der Erzählsituation verstärkt sich schließlich noch einmal erheblich durch das als Epilog bezeichnete 62. Kapitel. Hier tritt die Journalistin Lucy Finkbeiner als Ich-Erzählerin auf, so dass ein Wechsel von der hetero- zur homodiegetischen Erzählung vorliegt und diese Ich-Erzählerin sich dadurch über die personalen Erzähler zu erheben scheint. Der Leser erfährt nun, dass Finkbeiner den Unterleutener Leichenfund und seine Vorgeschichte akribisch recherchiert und in 20 Aktenordnern mit Gesprächsprotokollen dokumentiert hat. Eine „magazintaugliche Reportage“ sieht die Redaktion, für die Finkbeiner arbeitet, allerdings nicht in dem Material, sondern den „Stoff […] für einen Roman“ (S.627). Besonders dieser Hinweis verführt den Leser geradezu, in der Figur der Ich-Erzählerin den verkleideten auktorialen Erzähler bzw. gar die Autorin selbst zu sehen. Zu dieser Verführung tragen auch solche Stellen bei, an denen der Leser in den Überlegungen verschiedener personaler Erzähler gewisse Parallelen zur Autobiographie der Autorin bzw. ihrem Werk zu erkennen meint. Als Beispiel sei hier auf Kathrin Kron-Hübschke verwiesen, die im 33. Kapitel über ihre Liebe zu dicken Romanen nachdenkt und dabei feststellt: „Selbst wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefging, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besaßen Qual und Leiden doch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.“ (S. 355f.) Weiterhin vermutet der personale Erzähler, dass es „kein Zufall [war], dass Kathrin einen Schriftsteller geheiratet hatte“ (S. 356), der gerade „ein neues Theaterstück begonnen [hatte]. Es sollte ‚Fallwild‘ heißen“ (S. 357), zufällig auch der Titel des letzten Teils von Zehs Roman. Einer Gleichsetzung von Ich-Erzählerin und Autorin steht entgegen, dass auch Lucy Finkbeiner eine Figur der erzählten Welt ist und mit den übrigen Erzählfiguren auf einer Ebene steht, insofern sie mit ihnen spricht – wir lernen sie kennen beim Spaziergang mit Arne Seidel - bzw. gesprochen hat, weshalb der Leser von ihr auch erfährt, was in der im Roman nicht mehr erzählten weiteren Zukunft mittlerweile geschehen ist. Die Erzählsituation des Romans erweitert sich damit nicht nur in zeitlicher, sondern auch in räumlicher Dimension, eröffnet sich doch hier eine neue Erzählebene, durch die Figuren und Geschehnisse dem Leser näher rücken. Diese Nähe zur Lebenswelt des Lesers, wie sie besonders durch die Einbeziehung realer Ereignisse wie dem aus der Sicht von Frederik Wachs erzählten Unfall bei der Duisburger Love-Parade erzeugt wird, wird noch beträchtlich gesteigert durch die Überschreitung der Erzählungsgrenzen in den Raum des Internets, in dem die fiktionale Welt des Romans in einer Vielzahl von Paratexten fortgesetzt wird.

  1. Alle Seitenangaben zu den Zitaten aus dem Roman beziehen sich auf die Erstausgabe: Juli Zeh, UNTER/LEUTEN, München 2016 (Luchterhand)