Juli Zeh, UNTER/LEUTEN

Aus Literarische Altersbilder

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Vielfalt der Perspektiven

Die Erzählweise oder genauer Erzählsituation und -perspektive[1][1] scheint ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Romans von Juli Zeh[2] und seines Erfolges bei Publikum und Literaturkritik[2] zu sein – so jedenfalls unsere durch die genauere Untersuchung des Textes zu begründende Hypothese.

Auf den ersten der mehr als 600 Seiten des Werkes gerät der Leser unvermittelt mitten in ein erregtes Gespräch zwischen Gerhard Fließ und seiner Frau Jule. Wir hören den Dialog, verstehen aber zunächst wenig: von welchem „Tier“, das „uns in der Hand“[3] hat (S. 9) , ist hier die Rede? Während wir die offensichtlich verzweifelte Frau nur in der Außensicht erleben, erfahren wir von ihrem Mann sehr viel mehr, denn wir lernen seine Innenwelt kennen („Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben.“ S. 9[4]) und erleben Jule aus seinem Blickwinkel und mit seinem Hintergrundwissen. So denkt er beim Anblick ihrer Erschöpfung zurück an die Zeit vor fünf Jahren, als er Jule kennenlernte (vgl. S.10), und vermittelt dem Leser damit zugleich eine Menge an Informationen auch über sich selbst.

Wir finden also im ersten Kapitel einen personalen Erzähler[5] aus der Sicht der Erzählfigur Fließ, der nicht mehr, aber auch nicht weniger weiß als das, was Gerhard Fließ von sich und seinem Leben sowie den Menschen, mit denen er zu tun hat, weiß. Wir sehen[6] durch seine Augen und erleben seine Gefühle und Gedanken mit, aber der Erzähler spricht[7] über ihn in der dritten Person Singular, durch die eine gewisse Distanz immer gewahrt bleibt.

Die Tatsache, dass alle Kapitel als Titel die Namen von Figuren tragen, wie der Leser spätestens zu Beginn des 2. Kapitels feststellt, gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass wir es hier mit vielen verschiedenen Perspektiven zu tun haben. Es tauchen im I. Teil des Romans elf verschiedene Figuren als Träger der personalen Perspektive auf, und der Blick in das Inhaltsverzeichnis am Schluss des Buches zeigt, dass sich ausschließlich diese Namen in allen fünf Teilen des Romans wiederholen – mit einer Ausnahme: im 62. und letzten Kapitel des Textes begegnet uns noch ein neuer Name, dazu später mehr.

Aufgrund der Vielfalt der personalen Erzähler erscheint es angemessen von einer multiperspektivischen Erzählweise oder vielleicht sogar von einem multiplen Erzähler zu sprechen. Der Leser lernt durch die Perspektivenvielfalt die sehr unterschiedlichen Figuren intensiv kennen; auf deren Darstellung im einzelnen soll hier verzichtet werden, weil sowohl der Verlag als auch die im Internet rund um den Roman veröffentlichten Materialien[8] ausreichend Informationen zu den Figuren bieten. Man kommt gar nicht umhin, ihren Blickwinkel einzunehmen und Verständnis, sogar Anteilnahme zu entwickeln, was umso verblüffender ist als es sich um teilweise in scharfer Opposition zueinander stehende Figuren handelt (Gombrowski – Kron) oder auf den ersten Blick sehr unsympathische (Schaller), um Figuren mit akademischen Berufen (Fließ, Kron-Hübschke), mit sehr geringer Bildung (Schaller), mit starker Bindung an das Dorf (Seidel, Kron,…), mit städtischer Herkunft und ohne jede Verbundenheit zur neuen Umgebung (Franzen, Fließ-Weiland, Wachs), mit viel oder wenig Geld (Meiler – Schaller), am Anfang des Lebens als Erwachsene stehend (Franzen, Fließ-Weiland) oder an dessen Ende (Kron). So erlebt der Leser ein ständiges Wechselbad der Gefühle: hat er zum Beispiel gerade noch mit der Figur von Gerhard Fließ mitgefühlt, so erlebt er diesen in einem der nächsten Kapitel in der Wahrnehmung einer anderen Figur und muss erschreckende Seiten an ihm feststellen.

Da alle Figuren sowohl über die anderen als auch über sich selbst nachdenken, sich erinnern an Vergangenes und planen für die Zukunft, werten und urteilen, wird der Leser mit einer derartigen Fülle von Informationen und teilweise intimen Innensichten konfrontiert, dass er das Gefühl bekommt, über allen Figuren zu stehen und einen Überblick zu haben, wie ihn nur der auktoriale Erzähler im Sinne eines gottgleichen Alleswissers haben kann. Zu dieser Fehleinschätzung trägt besonders bei, dass die Selbstbetrachtungen einzelner Figuren sich auf einem distanzierten Reflexionsniveau bewegen, das man ihnen nicht recht zutrauen mag. So heißt es in einem aus der Sicht Schallers erzählten Kapitel: „Als Schaller im Krankenhaus gelegen hatte und wieder lernen musste, was ‚ich‘ bedeutete, war Miriam zur Regisseurin jenes Films geworden, den er heute sein Leben nannte.“ (S. 348f.) Dass gerade Schaller, von dem es wenig später heißt: „Kein einziger Gedanke belebte seinen großen, leeren Kopf.“ (S. 351), sein Leben so zu sehen vermag und ihm diese Worte zur Verfügung stehen, muss zumindest verwundern.

An vielen Stellen scheint der multiple Erzähler den Figuren gewissermaßen Artikulationshilfe zu geben, indem er ihre Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle und Gedanken in Worte und Bilder fasst, die auffallend differenziert sind und teilweise geradezu den Charakter von Sinnsprüchen oder Sentenzen bzw. Aphorismen haben. Beispiele lassen sich hier von vielen oder vielleicht sogar allen Figuren geben, ein Grund, weshalb der Leser seine Sympathie immer wieder neu verteilen muss und für alle Figuren Verständnis entwickelt. So denkt beispielsweise der verbohrte und von seiner eigenen Tochter als neurotisch bewertete Kron durchaus selbstkritisch: „Nur der Mensch wollte das Leben partout als Straße und nicht als Zustand verstanden wissen, weshalb er sich selbst und andere mit Ereignissen quälte, die schon stattgefunden hatten oder noch kommen sollten.“ (S. 483)

Vereinzelt scheint es so, als wisse der personale Erzähler etwas, was er aus der jeweiligen Figurensicht gar nicht wissen kann. Wenn aus Frederiks Sicht erzählt wird: „Linda, zu deren Gewohnheiten es gehörte, jede seiner Bewegungen zu beobachten, verkniff sich eine Bemerkung.“ (S. 296), scheint hier die Innenperspektive Lindas vorzuliegen. Dieser Eindruck wird aber durch den folgenden Satz geschickt abgefangen: „Dummerweise konnte Frederik ihre Gedanken lesen […]“ (S. 296), d.h. durch Nähe und inniges Verständnis erklärt, was es bei Paaren, die einander gut kennen, geben mag.

Die Verunsicherung des Lesers hinsichtlich der Erzählsituation verstärkt sich schließlich noch einmal erheblich durch das als Epilog bezeichnete 62. Kapitel. Hier tritt die Journalistin Lucy Finkbeiner als Ich-Erzählerin auf, so dass ein Wechsel von der hetero- zur homodiegetischen[9] Erzählung vorliegt und diese Ich-Erzählerin sich dadurch über die personalen Erzähler zu erheben scheint. Der Leser erfährt nun, dass Finkbeiner den Unterleutener Leichenfund und seine Vorgeschichte akribisch recherchiert und in 20 Aktenordnern mit Gesprächsprotokollen dokumentiert hat. Eine „magazintaugliche Reportage“ sieht die Redaktion, für die Finkbeiner arbeitet, allerdings nicht in dem Material, sondern den „Stoff […] für einen Roman“ (S.627). Besonders dieser Hinweis verführt den Leser geradezu, in der Figur der Ich-Erzählerin den verkleideten auktorialen Erzähler bzw. gar die Autorin selbst zu sehen.

Zu dieser Verführung tragen auch solche Stellen bei, an denen der Leser in den Überlegungen verschiedener personaler Erzähler gewisse Parallelen zur Autobiographie der Autorin bzw. ihrem Werk zu erkennen meint. Bereits die Widmung des Romans "Für Ada" erinnert an Zehs Roman "Spieltrieb"[3], in dem die Protagonistin diesen eher seltenen Namen trägt. Die Figur der Kathrin Kron-Hübschke zeichnet eine große Nähe, wenn nicht gar Liebe zur Literatur, besonders zu dicken Romanen aus, die sie selbst begründet: „Selbst wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefging, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besaßen Qual und Leiden doch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.“ (S. 355f.) Weiterhin vermutet der personale Erzähler, dass es „kein Zufall [war], dass Kathrin einen Schriftsteller geheiratet hatte“ (S. 356), der gerade „ein neues Theaterstück begonnen [hatte]. Es sollte ‚Fallwild‘ heißen“ (S. 357), zufällig auch die Überschrift des letzten Teils von Zehs Roman.

Einer Gleichsetzung von Ich-Erzählerin und Autorin steht entgegen, dass auch Lucy Finkbeiner eine Figur der erzählten Welt ist und mit den übrigen Erzählfiguren auf einer Ebene steht, insofern sie mit ihnen spricht – wir lernen sie kennen beim Spaziergang mit Arne Seidel - bzw. gesprochen hat, weshalb der Leser von ihr auch erfährt, was in der im Roman nicht mehr erzählten weiteren Zukunft mittlerweile geschehen ist. Die Erzählsituation des Romans erweitert sich damit nicht nur in zeitlicher, sondern auch in räumlicher Dimension, eröffnet sich doch hier eine neue Erzählebene, durch die Figuren und Geschehnisse dem Leser näher rücken. Diese Nähe zur Lebenswelt des Lesers, wie sie besonders durch die Einbeziehung realer Ereignisse wie dem aus der Sicht von Frederik Wachs erzählten Unfall bei der Duisburger Love-Parade[10] erzeugt wird, wird noch beträchtlich gesteigert durch die Überschreitung der Erzählungsgrenzen in den Raum des Internets, in dem die fiktionale Welt des Romans in einer Vielzahl von Paratexten[11] fortgesetzt wird.


Medienlandschaften

Das Leben im Dorf Unterleuten erscheint dem Leser, wenn er sich der Sicht von Kathrin Kron-Hübschke anschließt, weit entfernt von der großen Welt der Medien: „Der globalen Einschüchterung, die den ganzen Planeten im Griff hielt, boten sie keine Angriffsfläche. Wer nichts las, schaute, klickte oder hörte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern noch von Informationen und Ängsten“ (S. 450). Allerdings muss auch Kathrin spätestens mit dem Verschwinden ihrer Tochter lernen, dass sie auch in ihrem Dorf unbeherrschbaren Gewalten ausgesetzt ist. Nicht nur die große Politik greift durch die Förderung von Windkraftanlagen die Ruhe des dörflichen Lebens an, sondern ihre Familie wird scheinbar zum Spielball der widerstreitenden Interessen. Die vermeintliche Entführung der Tochter erweist sich zwar als Produkt der durch den gärenden Konflikt aufgeladenen und durch den Dorffunk verbreiteten Hysterie. In ihr erkennt der Leser jedoch auch die Parallelen zur medial geschürten Aufregung im globalen Dorf. Derartige Parallelen sieht auch Kron, wenn er denkt: „Man musste nur ein handelsübliches Dorf besuchen, um zu verstehen, was der gläserne Mensch tatsächlich war.“ (S. 211) Krons Umgang mit den Medien – er liest 2 überregionale Tageszeitungen und sieht jeden Abend im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Nachrichten und Talkshows (vgl. S. 114) – widerlegt Kathrins Vorstellungen von der Medienferne in Unterleuten. Ihr Vater seziert Presse und Fernsehen hinsichtlich ihrer seiner Meinung nach vernichtenden politischen Wirkung: „Der Konsumbürger schaute den Journalisten zu, wie sie den Politikern dabei zuschauten, wie diese der Wirtschaft beim Wirtschaften und den Katastrophen beim Eintreten zuschauten.“ (S. 115) Kron wird damit zum Sprachrohr einer Medienkritik, wie sie besonders durch Neil PostmanReferenzfehler: Für ein <ref>-Tag fehlt ein schließendes </ref>-Tag.zu sein. Indem sie der Romanfigur eine virtuelle Leitfigur beigesellt, zeigt die Autorin auf die Herkunft der kruden neoliberalen Erfolgs- und Machtideologie der insgesamt stark satirisch gezeichneten Figur und lässt die Wirkmechanismen des Internets sichtbar werden, leistet also Aufklärung im besten Sinn des Wortes, denn viele der pointierten Merksätze des Manfred Gortz erkennt der Leser als schon oft gehörte und teilweise sicher auch selbst befolgte Empfehlungen wieder.



Rezensionen

Sieglinde Geisel, Im Dorf sind die Leute toleranter, Neue Züricher Zeitung, 06.09.2016 [https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/juli-zeh-ueber-ihren-roman-unterleuten-im-dorf-sind-die-leute-toleranter-ld.115025

Dietmar Jacobsen, Die Idylle trügt, literaturkrtik.de [4]

Harald Jähner, Radikal unter Leuten, Frankfurter Rundschau, 20.03.2016 [5]

Jörg Magenau, 'Unterleuten' von Juli Zeh, Süddeutsche Zeitung, 21. März 2016 [6]

Ursula März, 'Unterleuten': Jedes Dorf ist eine Welt, Die Zeit, 5. April 2016 [7]

Christoph Schröder, Windkrafträder auf Misthaufen, Der Tagesspiegel, 12.03.2016 [8]

Anmerkungen

  1. Der Begriff bezieht sich auf K. Stanzels 1955 erstmals veröffentlichte "Theorie des Erzählens" (1979), der vor allem die hier verwendeten Fachtermini "Person/personaler Erzähler", "(Innen-/Außen-)Perspektive" und "auktorialer Erzähler" entstammen.
  2. vgl. die angegebenen Rezensionen
  3. Alle Seitenangaben zu den Zitaten aus dem Roman beziehen sich auf die Erstausgabe: Juli Zeh, UNTER/LEUTEN, München 2016 (Luchterhand).
  4. Kursivdruck nicht im Text
  5. Die maskuline Form in ihrer generischen Bedeutung wird in diesem Text verwendet, weil es sich um eingeführte Fachtermini handelt, deren Änderung in Form von z.B. ‚Erzähler*in‘ zu Verwirrung führen könnte.
  6. Entspricht Stanzels Kategorie der Perspektive – Gérard Genette führt in seiner Erzähltheorie den Terminus Fokalisierung ein und unterscheidet die beiden Kategorien Fokalisierung und Stimme (entspricht der Person in Stanzels Modell)
  7. Entspricht Stanzels Kategorie der Person, für die Genette den Begriff „Stimme“ einführt und entsprechend die heterodiegetische (3. Person) von der homodiegetischen (1. Person) Erzählung unterscheidet
  8. Vgl. www.unterleuten.de
  9. Vgl. Fußnote Nr. 6
  10. Vgl. S. 411ff.
  11. Vgl. hierzu das 4. Kapitel dieser Analyse