Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne

Aus Literarische Altersbilder
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Perspektive und Sprache

Der Roman wird ausschließlich aus der Perspektive der Humanoidin Klara erzählt, deren Name deshalb auch den Titel bestimmt und – wie könnte es anders sein – deren Sprache die Sprache des gesamten Romans ist, abgesehen natürlich von den Dialogen. Damit nimmt Ishiguro als erster Autor das Wagnis auf sich, nicht nur eine Figur mit künstlicher Intelligenz in einen Roman aufzunehmen oder überhaupt das Thema künstliche Intelligenz belletristisch zu bearbeiten[1], sondern sich gewissermaßen in den Androiden hineinzuversetzen. Die damit verfolgte Absicht des Autors gilt es zu untersuchen. „Als wir neu waren, standen Rosa und ich in der Ladenmitte […] und hatten den größeren Teil des Schaufensters im Blick.“ (9)[2] – so lautet der erste Satz des Romans, mit dem der Leser unvermittelt den Blickwinkel des künstlichen Menschen einzunehmen gezwungen wird, denn Menschen sind nicht „neu“, sondern klein, jung, alt … und stehen auch nicht in einem Laden zum Verkauf. Selbst wenn man diese Signale übersehen sollte, wird die Künstlichkeit der sog. „KFs“ (= Künstliche/r Freund/in) in den folgenden Abschnitten dadurch veranschaulicht, dass sie ihre Energie aus dem Sonnenlicht beziehen und deshalb um die hellsten Plätze konkurrieren. Dabei wird schnell deutlich, dass die KFs nicht wissen, wie die Energieübertragung funktioniert, so dass Klara, als sie versucht, das direkte Sonnenlicht mit ihren Händen zu berühren und genau in diesem Moment offenbar Wolken die Sonne verdunkeln, sich bemüht durch Klopfen und Reiben über den Boden das Sonnenlicht zurückzuholen (vgl. 10). Das völlige Fehlen von Naturerfahrung und Wissen um natürliche Zusammenhänge erinnert an kleine Kinder. Das gesamte 1. Kapitel, immerhin 49 Seiten, spielt in diesem Laden, in dem die durch Aussehen, Geschlecht und Namen individualisierten Modelle auf ihren Verkauf warten bzw. in Klaras Worten „ein Zuhause“ (26) finden. Das sich über Wochen hinziehende Warten ermüdet zwar den Leser, nicht aber die durch „höchstentwickelte Auffassungsgabe“ (56) gekennzeichnete Klara. Sie beobachtet unentwegt mit nicht nachlassender Ausdauer ihre Umgebung und stellt darüber Überlegungen an. Hierbei mischen sich antrainiertes Verhalten einerseits, z.B. für den Umgang mit Kunden (vgl. 16) und kindliches Unwissen und Naivität andererseits. Letzteres zeigt sich eindrücklich in der Sprache, in der die Außenwelt beschrieben wird.

  1. Derartige Versuche haben bereits eine längere Geschichte und in der heutigen Zeit zahlreiche Bespiele, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturgeschichte_der_Roboter
  2. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne, Karl Blessing Verlag, München 20213