Monika Maron, Zwischenspiel

Aus Literarische Altersbilder
Version vom 10. Februar 2021, 09:30 Uhr von RSpekking (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

zur Analyse in kollektiver Autorschaft vgl. [1]

zur Biographie von Monika Maron vgl. Monika Maron, Endmoränen (von Sieglinde Krause)

Inhalt

Der Roman erzählt von einem außergewöhnlichen Tag im Leben der sechzigjährigen Museumsangestellten Ruth, deren Sichtweise auf ihr Leben durch ein vermeintliches Naturphänomen am Himmel scheinbar ins Rutschen gerät, wodurch Vergangenes und längst vergessen Geglaubtes in ihr wieder wachgerufen wird. Die plötzlich aufgetretene Sehstörung ausgerechnet am Beerdigungstag von Olga, die beinahe ihre Schwiegermutter geworden wäre, lässt die reale Welt als "impressionistische Variante" (S.31)[1] erscheinen, während das Erinnerte erstaunlicher Weise seine klaren Formen beibehält.

Ruth hat sich entschlossen an der Beerdigung von Olga teilzunehmen, "weiße Rosen mit einer kleinen weißen Schleife: In Liebe, Ruth" (S.7) bestellt und bricht rechtzeitig mit ihrem Wagen zum Friedhof am östlichen Stadtrand Berlins auf. Trotz guter Vorbereitung und Navigationsgerät verfährt sie sich jedoch, und die Fahrt endet schließlich an einem Park. Nachdem Ruth bereits im Autoradio plötzlich Olgas Stimme gehört hat, versäumt sie nun zwar deren Beerdigung, trifft aber stattdessen auf einer Bank in diesem Park Olga selbst. Später begegnet ihr Bruno, der früh verstorbene Jugendfreund ihres Mannes Hendrik. Ein Hund läuft ihr zu und begleitet sie durch den Park und die immer rätselhafter werdenden Erlebnisse dieses Tages, zu denen Begegnungen mit dem Ehepaar Honecker, später mit dem einem Porträt des 15. Jahrhunderts entsprungenen bösen Menschen gehören und die schließlich in einem "wilden Getümmel"(S.185) gipfeln, das stark an Goyas Gemälde "Das Begräbnis der Sardine" [2] erinnert. Mit Einbruch der Dunkelheit ist der Spuk vorbei, Ruth sieht die Realität wieder klar.

Ein Hauptthema dieses Romans ist die Frage nach der Identität. In einer Art Bilanz reflektiert die Protagonistin die verschiedenen "Ichs" (S.17) ihrer Vergangenheit, die jeweils abhängig waren von den persönlichen und politischen Lebensumständen und die sie ganz oder teilweise vergessen bzw. verdrängt hat.

Die moralischen Fragen von Schuld und Verrat bilden einen weiteren Schwerpunkt des Romans in zahlreichen Rückblenden und in den imaginierten Gesprächen der Ich-Erzählerin Ruth mit Olga, deren Motto "Schuld bleibt immer, so oder so" (S.34) lautet, und mit Bruno. Ruth muss erkennen, dass sie bei allen wesentlichen Lebensentscheidungen nicht verhindern kann, entweder an sich selbst oder an ihren Mitmenschen schuldig zu werden. Es scheint keinen Mittelweg der Schuldlosigkeit zu geben.

Als Gegenpol zu dieser existentiellen menschlichen Problematik setzt der Roman ein Tier ein, ähnlich wie schon in Marons Romanen "Endmoränen" [2] und "Ach Glück". Der Hund lebt ohne Selbstbewusstsein als schuldunfähige Kreatur ganz im Augenblick, genießt die Zuwendung, die Ruth ihm den Tag über gibt, und kehrt abends ohne sich umzuschauen zu seinem Besitzer zurück.


Figuren

Die Figuren des Romans entstammen 3 Generationen: die Elterngeneration wird in erster Linie durch Olga repräsentiert, die eine Hauptrolle spielt, währemd ihr Mann Hermann sowie Mutter, Vater und Stiefvater der Ich-Erzählerin nur in den Erinnerungen vorkommen und das Ehepaar Honecker zwar auftritt, aber nur eine satirische Episode bildet. Die mittlere Generation ist zahlenmäßig am stärksten vertreten, nämlich durch die Ich-Erzählerin und Protagonistin Ruth, den ebenfalls direkt auftretenden Jugendfreund Bruno sowie Bernhard und Hendrik, Ruths Männer, die nur in ihren Erinnerungen vorkommen. Die Enkel-Generation wird durch Ruths Tochter Fanny und Bernhards Sohn Andy vertreten, spielt aber nur eine Nebenrolle im Roman. Alle Figuren entstammen dem bildungsbürgerlichen Milieu der DDR, wobei die Protagonistin mit Mann und Tochter das Land verlassen und in die BRD übergesiedelt ist.

Ruth

Ruth, die Ich-Erzählerin, ist 60 oder 61 Jahre alt, hat früher in Ostberlin gelebt und dort wie auch in der Erzählgegenwart in Westberlin als Kunsthistorikerin an einem Museum gearbeitet. Sie hat eine erwachsene Tochter: Fanny. Deren Vater Bernhard hat Ruth kurz vor der Hochzeit verlassen, weil sie nicht die Sorge um Bernhards behinderten Sohn, Andy, aus einer vorigen Beziehung übernehmen mochte. Auch nach der Trennung von Bernhard bleibt Ruth in nahem freundschaftlichem Kontakt mit Bernhards Mutter, Olga. 1988 darf Ruth mit ihrem damaligen Mann Hendrik, einem in der DDR unliebsamen Schriftsteller, und ihrer Tochter Fanny in die BRD ausreisen. Bernhard benutzt Fanny als Informationsquelle für die Stasi, weil er dadurch mit seiner Tochter auch weiterhin in Kontakt bleiben kann. Hendrik hat sich inzwischen von Ruth getrennt. Die Kinder-Eltern-Beziehungen zwischen Ruth und ihrer Mutter ebenso wie die zwischen Ruth und ihrer Tochter Fanny sind gekennzeichnet durch große Nähe, solange die Kinder klein sind. Ruth erlebt ein paradiesisches Glück, solange sie mit der Mutter alleine lebt; Erinnerung an das eigene „erste Mutter-Ich“, das im Zustand reinen Glücks gelebt hat (S. 20). Väter dagegen, findet Ruth, seien nicht wichtig (S. 155). Ihre Erinnerungen an den kranken, fremden Vater (S. 21), der gestorben ist, als die Ich-Erzählerin 4 Jahre alt ist, sind vom Fehlen menschlicher Nähe geprägt. Sie denkt auch nicht daran, was es für Bernhard bedeutet, wenn sie Fanny bei der Trennung mitnimmt, schließlich sogar in die BRD. Als Erwachsene sind die Generationenbeziehungen aber vor allem gekennzeichnet durch Ansprüche, Vorwürfe, Bevormundung: der „Genosse Keller“ (S. 22), den die Mutter heiratet, ist der falsche Mann, mit dem die Mutter eine falsche politische Überzeugung teilt, was Ruth ihrer Mutter bis zuletzt vorwirft; sie will der Mutter vorschreiben, an seinem Grab nicht zu weinen; die Mutter reagiert müde, resigniert auf die kindlich-zornigen Tränen der erwachsenen Ruth. Man erfährt nicht, dass Ruth um ihre Mutter, die vor 6 Jahren gestorben ist, trauert. Ruth wirft Fanny vor, ihre Beziehung zu ihrem Vater nicht abgebrochen zu haben; gerade diese Haltung jedoch verändert sich im Laufe des Zwischenspiel-Tages, an dessen Ende sie Verständnis auch für Bernhards Verhalten entwickelt und anerkennt: „Bernhard ist ihr Vater“ (S. 134). Fanny ihrerseits wirft ihr streng, gereizt, „vormundschaftlich“ (S. 125) vor, Olgas Beerdigung zu verpassen, und Ruth fragt sich, ob es schon ihr Alter sei, das Fanny zu diesem Ton ermutige. Fannys Telefonanruf erlebt sie wie das Weckerrasseln, das einen Traum stört; Fanny gehört der „realen“ Oberflächenwelt an, eine emotional enge Beziehung scheint nicht zu bestehen. Ganz anders ist die im Roman als zentral dargestellte ideale, erwachsene Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und Olga.

Olga

Früher hat Ruth Olga zwar auch bemitleidet und sogar verachtet, weil sie ihrer Meinung nach als Mutter, Ehefrau, Großmutter ihr eigenes Leben verpasste (vgl. S. 30). So hat Olga ihren behinderten Enkel Andy wie einen Sohn aufgezogen und damit die Jahre der Bindung an Haushalt und Familie noch einmal beträchtlich verlängert. Obwohl sie als junges Mädchen Schauspielerin werden wollte, hat sie nie einen Beruf ausgeübt, sondern ihre Bestimmung in der Familie gesehen: Sie bleibt sogar bei ihrem Mann Hermann und den beiden Söhnen, als sie von seinem Doppelleben erfährt, er hat mit einer anderen Frau zwei Töchter (vgl. S. 81). Erst nach dem Tod ihres Mannes nimmt sie eine Tätigkeit als Buchhändlerin an, entwickelt neue Beziehungen und wechselt sogar das religiöse Bekenntnis (vgl. S. 84). Ruth gesteht Olga, sie habe sich gewünscht so zu sein wie sie. Olga ist die Figur, die nicht ideologisch erstarrt ist, die gerade keine Schuldzuweisungen vornimmt, die ohne selbstgerechten Anspruch oder Vorwurf ist, sondern den Kontakt zu Ruth aufrecht erhält, obwohl diese Bernhard und Andy verlassen hat. Olga wird für Ruth die große Lehrerin im Umgang mit ihrer zentralen Lebensfrage, wie man mit Schuld umgehen kann.

Bruno und Hendrik

Bruno und Hendrik, Ruths inzwischen geschiedener Ehemann, sind Freunde seit der Schulzeit. "Hendrik und Bruno hatten in der Oberschule gemeinsam einen kleinen konspirativen Literaturzirkel gegründet", in dem Bruno "die unangefochtene literarische Autorität" (S. 58) war. Bruno, der aus einer gebildeten und vermögenden Familie stammt, sieht sich als "unglücklich Geborenen" (S. 61), der sich und die "dumpfe, von allem Geistigen gelöste, die menschliche Intelligenz verhöhnende Gesellschaft" (S. 62) nur im Alkoholrausch ertragen kann. Er beschließt, "dieser Arbeiter- und Bauern-Gesellschaft jede Nützlichkeit [...] zu versagen" (S. 63), "sich lieber der Lektüre der großen Meister [zu] widmen, statt sein Leben mit eigener Stümperei zu verplempern" (S. 59), studiert Physik und verdient seinen Lebensunterhalt als Redakteur einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Brunos religions- und aufklärungskritische Argumentation hat als Hintergrundfolie existentialistische Theorien (Camus, Sartre, Kierkegard). Er selber versucht durch Nicht-Entscheiden im Möglichkeitsspiel zu bleiben, aber damit entscheidet er sich bereits (z.B. gegen die Möglichkeit seine Fähigkeiten zu verwirklichen). Er delegiert an Hendrik auch die Schuld, wie er mit dem Bild des Hütchenspiels erläutert (vgl. S. 112). Brunos Leiden am Leben wird nur durch Alkohol erträglich, wobei er seine Melancholie auch genießt. Er übernimmt – sogar noch aus dem Jenseits - die Narrenrolle, wobei die Trunkenheit wie ein Tarnmantel wirkt, unter dem er alles sagen kann, ohne ernst genommen zu werden und sich evtl. zu gefährden (DDR). Er tritt auf „wie ein zerlumpter Possenspieler, der eben einer Jahrmarktsbühne entsprungen war“. (S. 105)

"Hendrik bewunderte Bruno". (S. 59) In der von Ruth erst später durchschauten "Männerfreundschaft" (S. 57) profitiert Hendrik vom Talent seines Freundes, der ihm "alles in seine blauen Heftchen diktiert" (S. 63) und damit Hendriks Schriftsteller-Karriere begründet (vgl. S. 45f.). Hendrik wendet sich erst von Bruno ab, als dessen Alkoholismus so weit fortgeschritten ist, dass er keine Hilfe mehr für ihn ist, sondern nur noch Ekel und Verachtung hervorruft. Ruth fragt sich später, ob sie sich "vielleicht weniger in Hendrik verliebt hatte als in seinen Roman" (S.71), und stellt fest, "dass Hendrik, nachdem sein Vorrat an Brunos gespeicherter Seele aufgebraucht war, nie wieder schreiben konnte wie vorher." (S. 67) Die Symbiose von Hendrik und Bruno lässt sich im Bild von Ameise und Grille, Bürger und Künstler fassen, wobei die Tatsache, dass Hendrik ausgerechnet den Beruf des gemeinhin zu den Künstlern zählenden Schriftstellers ausübt, komisch wirkt und sein Künstlertum indirekt in Frage stellt.

Ehepaar Honecker

Das Auftauchen der Honeckers wirkt zunächst wie eine – evtl. verzichtbare – Slapstick-Einlage auf einer Puppenbühne: Margots lila Haare und ihr herrisches Auftreten oder wie der hinfällige Erich auf der Wiese sitzt und von „Solismus“ und „Rot Front“ brabbelt (S. 104). Aber Ruth fühlt bei dem Auftauchen der „grotesken Gespenster“ (S. 104) sofort wieder Wut: „Sie hatten uns vertrieben aus unserem eigenen Leben, aus unserer Kindheit, unserer Jugend, aus allem, was wir bis dahin geliebt hatten.“ (S. 102) Bruno erwartet von ihnen ein Schuldeingeständnis, zu dem sie aber nicht in der Lage sind, weil sie in der Zeit um 1990 stecken geblieben sind und nichts dazugelernt haben. Man fühlt sich an den Fernsehfilm über Margot Honecker erinnert, in dem sie starr und kämpferisch die alten Ideale vertrat und dabei wie ein Gespenst aus vergangenen Zeiten wirkte.

der böse Mensch

Bei der Begegnung mit „dem Bösen“ wundert sich Ruth, dass sie ihn wie ihre „Kopfgeburten“ sieht, d.h. klar, nicht verpixelt wie lebendige Personen oder den Hund (S. 159). Der Mann stammt aus einem Porträt aus dem 16. Jh., bei dessen Betrachtung Ruth die beiden unterschiedlichen Augen des Mannes irritiert hatten, die ihn einerseits „stolz und selbstbewusst“, andererseits „kaltblütig, unheimlich erscheinen lassen. (S.164) Der Böse ist süchtig danach Sterbeprozesse zu sehen, „diesen banalen Augenblick zwischen Leben und Tod“ (S. 167), verursacht sie z.T. auch selbst vorsätzlich. Er ist aber auch berührt von der Erhabenheit des Todes. Ruth empfindet nicht nur Entsetzen, sondern hört ihm interessiert zu. Die Begegnung mit dem Bösen deutet sie als die Begegnung mit ihrer anderen Seite. So fragt sie Olga: „Und wenn er recht hat? Wenn es stimmt, dass das Böse in mir fasziniert war von ihm?“ (S. 172) Aber Olga erläutert den Unterschied zwischen bösen Gedanken und einer bösen Tat. Ruth wollte den Sekretär, den neuen Mann ihrer Mutter, töten, und Olga betete sogar um Gottes Hilfe, um die Geliebte ihres Mannes bei einem Unfall sterben zu lassen, aber beide hätten niemals wirklich jemanden töten können. Bruno drückt es noch drastischer aus, indem er sagt, es mangele Ruth zum wahren Bösen an Phantasie. (S. 176) „Sonst wären Sie eine Künstlerin statt eine Kunstverwalterin geworden. Künstler sind fasziniert vom Bösen, weil es so interessant ist.“ (S. 176) Brunos Argumentation wechselt dann – etwas im Zickzack –auf die politische und gesellschaftliche Ebene: Hätte Hitler als Künstler Erfolg gehabt, wäre der Welt viel erspart geblieben (S.177). Es folgt seine Überlegung, ob Moral einem „Mangel an Phantasie“ entspringe oder „dem zivilisatorischen Dressurakt“ (S. 178).

Identität und Schuld

Insgesamt kann man die Romanhandlung als Illustration der Bewältigung einer Identitätskrise verstehen. Ruth, die Ich-Erzählerin, unterdrückt nach Möglichkeit ihre Erinnerungen an die Vergangenheit. Seit sie von Olgas Tod und der bevorstehenden Beerdigung (bei der sie nach 20 Jahren Bernhard und Andy wieder begegnen wird) erfahren hat, „rumorte es in den Verliesen der verbannten Erinnerung“ (S. 12). Dabei geht es vor allem um die Konfrontation mit der eigenen alten Schuld, Bernhard mit Andy verlassen zu haben, und um Bernhards Verrat an Fanny. Bisher hat Ruth eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld abgewehrt, indem sie lieber meint, dass es eine andere Ruth gewesen sei, "die es nicht mehr gab und deren Schuld mit ihrem Verschwinden getilgt war und der ich nachträglich dankbar sein musste für ihre tapfere Herzlosigkeit“ (S. 17), oder indem sie von ihrer eigenen Schuld durch den aufrechnenden Blick auf Bernhards Schuld ablenkt.

Sie erlebt sich als Folge ihrer abgespaltenen Erinnerungen selbst kaum bzw. nur in Bruchstücken als biografische Einheit; im Gespräch mit Olga sagt sie: „Du hattest ein Leben, ein einziges, ganzes Leben. Ich hatte vier Viertel oder sechs Sechstel, und an manche kann ich mich kaum erinnern.“ (S. 35) An anderer Stelle überlegt sie: „Was ist so ein Ich eigentlich, [...] wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letze immerhin verdankt?“ (S. 17) Sie kann sich an das Kind, das sie einmal war, besser erinnern als an alle folgenden Ichs (vgl. S. 18) und fragt sich, ob multiple Persönlichkeiten etwa nichts anderes seien als Menschen, die sich von ihren Ichs im Laufe des Lebens nicht trennen konnten (vgl. S. 19). Ruth scheint der Auffassung zu sein, das Leben bestünde aus einer Abfolge voneinander abgegrenzter, unverbundener, unterschiedlicher, widersprüchlicher und sich fremder Ichs, die miteinander keine Ganzheit ergeben könnten, daher sei es besser, sich von ihnen zu trennen, sie zu vergessen. Sie spricht von „Erinnerungsleiche[n]“ (S. 12). Mit emotionalen Gehalten ihrer Vergangenheit beschäftigt sie sich lieber nicht (sie hält auch nichts von Psychotherapie), allenfalls auf der oberflächlichen Ebene gesteht sie der Vergangenheit eine gewisse Realität zu: „Es war so, so ist es gewesen, nichts weiter“. (S. 25).

Jürgen Straub bestimmt Identität so, dass sie die Konstitution der Person als einer Einheit bedeutet, die dieselbe bleibt, obschon die Umstände und die eigenen Orientierungen gerade nicht dieselben bleiben [3]. Legt man diese Bestimmung zugrunde, dann scheint der Zustand der Ich-Erzählerin, die diese Einheit ihrer Person nicht zu erkennen vermag, problematisch und labil zu sein. Ihr fehlt, da sie sich nicht erinnern möchte, die biografische und historische Orientierung.

Bei Olga hingegen kann sie nur Unveränderlichkeit feststellen, diese sei, meint sie, immer und bis ins äußere Erscheinungsbild unverändert die Gleiche geblieben (vgl. S. 28f.). Dass auch Olga sich im Laufe ihres Lebens immer wieder geändert hat, aber nicht im Sinne von Ruth, die sich in Bruchstücken verliert, sondern im Sinne einer nach Straub gelungenen Identitätsbildung in heutiger Zeit, die ein flexibles Ich fordert, das erkennt Ruth im Laufe ihres Tages im Park, wenn sie sich an Olgas neues Leben nach Hermanns Tod erinnert (Olga in der Buchhandlung, mit der Buchhändlerin als neuer Freundin, Reisen, der Bahai-Glaube) und als ihr Olga die eigenen Rachegefühle gegenüber der zweiten Frau Hermanns gesteht (vgl. S. 172). Äußeres Zeichen für diese andere, von Ruth bisher nicht wahrgenommene Olga ist, dass diese sie um eine Zigarette bittet. Olga ist das Modell für gelungene Identitätsbildung.

Olgas Lebensziel als junge Frau war es, Schauspielerin, besonders die Hauptdarstellerin in Strindbergs Stück „Traumspiel“ zu sein, das in der Erkenntnis kulminiert: „Es ist schade um die Menschheit“ (S. 140). Agnes äußert diesen Satz, nachdem sie auf Erden gesehen hat: „Immer ist das Glück des einen das Unglück eines anderen, hinter jedem Glück lauert das Unglück eines anderen, mit dem es bezahlt werden muss“ (S.139). Dieser Satz hat Olga immer getröstet, indem er sagt, dass Schuldigwerden conditio humana ist, seit der Mensch vom “Baum der Erkenntnis“ gegessen hat und so Sünde und Schuld in die Welt kamen (S.141).Auch wenn Olga dieses erste Lebensziel aufgibt, um Ehefrau und Mutter zu sein, behält sie den Kern-Satz als Leitspruch ihr Leben lang, wie ein Kennzeichen für ihre zugleich flexible und stabile Identität.

Lebensziele und Wünsche der jungen Ruth waren vermutlich das Mutter-Sein, die berufliche Selbständigkeit als Kunsthistorikerin sowie die Befreiung aus dem einengenden DDR-Staat. Nach der Ausbürgerung scheint sie jedoch nur noch oberflächlich Fuß zu fassen. Wünsche und Lebensziele der jetzigen Ruth werden nicht angesprochen, sie scheint keine zu haben. In die Zukunft gerichtete Selbstentwürfe gehören zur Identitätsbildung dazu[4]. Indem Ruth sich mit ihrer Vergangenheit nicht auseinandersetzt, schneidet sie sich von ihrer Zukunft ab. Identität und Autonomie des Handelns sind so nicht möglich.

Anlässlich der Beerdigung von Olga gerät Ruth in einen krisenhaften Ausnahmezustand der Identitätsdiffusion, von dem nach Straub kein modernes Subjekt völlig verschont bleibt[5]. Im Roman wird dieser Zustand verbildlicht, indem Raum und Zeit außer Kraft gesetzt werden. Nach Straub sind es aber gerade diese Übergänge, der Roman benennt sie bereits in seinem Titel als „Zwischenspiel“, in denen sich Identität bilden kann[6].

Ruth setzt sich im traumhaften Zustand des Zwischenspiels mit ihrer Vergangenheit auseinander. Dazu gehört, dass sie sich sowohl mit der eigenen Schuld als auch mit der von Bernhard versöhnt. Olgas zentrale Aussagen, dass es immer Schuld gebe, so oder so, und dass es schade sei um die Menschheit, weisen der Ich-Erzählerin die Richtung. Statt ums Aufrechnen von Schuld geht es um ein Verständnis füreinander. In Bezug auf Fanny bedeutet diese Einsicht Ruths, dass sie schließlich sagen kann: „Bernhard ist ihr Vater, dachte ich oder sagte Olga“ (S. 134). Hier ist Ruth schon sehr nahe daran, die im Park auftretende Olga als ihren eigenen inneren Anteil in ihr eigenes Ich zu integrieren.

Zu der Auseinandersetzung mit ihren Erinnerungen gehört auch die emotionale Auseinandersetzung mit Sterblichkeit. Während Ruth bislang Olgas Tod als einschneidende Änderung leugnet im Sinne des gängigen Spruches "Solange Du in unserer Erinnerung lebst, bist du nicht tot." (S. 32), kann sie am Ende des Tages zum ersten Mal Trauer um Olga (vgl. S. 173) und um das eigene Leben und Gewordensein und verpasste Möglichkeiten (vgl. S. 151) empfinden. Ruth nutzt den Ausnahmezustand des Tages, um sich einzuordnen in den großen Rahmen der Menschheitsgeschichte von der Schöpfung bis zur jüngsten Geschichte; dabei wird das zentrale Thema der persönlichen Schuld relativiert als anthropologisches Schicksal, dem niemand entkommen kann. Verständnis, Mitleid, Versöhnlichkeit treten an die Stelle von Selbstgerechtigkeit und Ideologie. Sie muss anerkennen, dass ebenso wie Schuld auch Sterblichkeit zum menschlichen Leben gehört und dass die Zeitlosigkeit der Kunst angesichts dessen nur ein Trost sein kann. Am Ende des Tages ist für Ruth der Zustand der Identitätsdiffusion vorüber. Ruth wird ihr Leben wieder autonom in die Hand nehmen können.

Auseinandersetzung mit normativen Ansprüchen

Normative Ansprüche treten uns auf der Handlungsebene schon zu Beginn des Romans entgegen in Form des Navigationsgeräts, das mit immer strengerer Stimme, so erscheint es Ruth, darauf besteht, dass sie den richtigen Weg zum Friedhof und damit zu Olgas Beerdigung nimmt - ein normativer Anspruch, den später auch Fannys Telefonanruf einfordert.

Bei den normativen Anspüchen wird im Roman immer wieder deutlich, dass der Schein trügt und sich hinter der vorgeblichen Wahrheit eine Lüge auftut. Beispiele hierfür sind: Hendrik, der den Ruhm erntet, der eigentlich seinem genialen Freund Bruno zustände; Hermann, der heimlich eine zweite Familie hat; Bernhard, der Fanny als Informantin der Stasi missbraucht; die jämmerlichen Gestalten, als die sich die Honeckers präsentieren. Lediglich das Tier, im Roman durch den Hund Nicki vertreten, der bezeichnender Weise weder Steuermarke noch Leine besitzt, worauf die im Park auftauchende Frau mit Kind schimpfend hinweist, ist allen normativen Ansprüchen entzogen[7].

Olga und Bruno repräsentieren komplementäre Möglichkeiten, mit normativen Ansprüchen umzugehen: Bruno entzieht sich allen solchen Ansprüchen, verweigert die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, indem er lieber zum Säufer wird, dem der Alkohol den Verstand zerstört. Seine Verweigerung zeigt sich auch in der Überzeugung: "Ich habe meine Kinder zu sehr geliebt, als dass ich es übers Herz gebracht hätte, sie zu zeugen." (S. 114)

Olga dagegen scheint sich - so jedenfalls die Außenwahrnehmung durch Ruth - Rollenerwartungen sogar weit über das übliche Maß hinaus anzupassen: sie bleibt als Ehefrau bei Hermann, auch als sie von dessen zweiter Familie erfahren hat; sie wird die Ersatz-Mutter von Andy. Tatsächlich aber spricht Olga allen von außen an den Einzelnen herangetragenen normativen Ansprüchen ihre Berechtigung ab: es gibt nicht das allgemein verbindlich Richtige, worauf es im Leben ankommt, wonach Ruth sucht, sondern nur ein für die jeweilige Person im jeweiligen Moment Richtiges. Olgas Lebensmotto „Es ist schade um die Menschen“ (S. 140) meint, sie seien zu Besserem bestimmt, aber ein Defekt oder ein unglücklicher Umstand hindere sie zu werden wie sie sein könnten. „Schuld bleibt immer, so oder so“ (S. 34) ist Olgas Erkenntnis, so dass Versöhnlichkeit, Verzeihen angemessen sind, um Schuld nicht als niederdrückende individuelle Last auch im Umgang der Generationen zueinander überzubewerten.

In Bezug auf die normativen Ansprüche in der Politik treten Margot und Erich Honecker in karikaturhafter Verzerrung leibhaftig im Park auf, Erich keifend und wegen seines Dialekts von "Solismus" (S. 104) statt Sozialismus predigend, worin sich die Verkehrung einer Idee in ihr Gegenteil andeutet. Ruth begründet das Erscheinen der Honeckers im Park damit, dass "auch der Gefängniswärter zum Leben eines Häftlings gehört."(S. 165) Der von ihnen vertretenen Ideologie mit ihren normativen Ansprüchen stellt sich Ruth entgegen und muss dafür schließlich die DDR verlassen. Politische Ideologien stellt auch Hendriks Buch über den Vater infrage, der zunächst Nazi ist, dann überzeugter Kommunist wird und schließlich desillusioniert mit dem Einrollen der russischen Panzer das Ende des Prager Frühlings miterleben muss. Der Fall der Mauer wäre eine historische Sollbruchstelle und würde die Möglichkeit einer politischen Erneuerung bieten, aber Ruth scheint desillusioniert, die Lust am Siegen, sagt sie, sei ihr vergangen (vgl. S.104).

In Bezug auf die Religion und ihre normativen Vorstellungen verweisen sowohl Olga als auch Bruno auf das Paradies, in dem die Menschen das erste göttliche Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, missachten. Bruno erklärt den biblischen Sündenfall als die erste, weil von Gott eingeplante Sollbruchstelle in der Geschichte des Menschen. Gott habe als der Schöpfer des Menschen von vorneherein gewusst, dass dieser sich nicht an sein Gebot halten würde, die Strafe der Vertreibung aus dem Paradies sei eingeplant gewesen. Olga ist dem Bahai-Glauben beigetreten, einer Religion, die sich nicht als die einzig richtige versteht und sich damit von der allgemein normativen Tendenz anderer Religionen unterscheidet, die der Hochmut derer sei, die sich gewiss sind, meint Ruth (vgl. S. 86). Dazu passt der gefährliche religiöse Taumel, in den die Szene von Goyas Gemälde am Ende des Romans ausartet.


Tod und Kunst

Der Tod stellt ein zentrales Thema des Romans dar, was schon daran ersichtlich ist, dass die Handlung durch eine Beerdigung ausgelöst wird und die Ich-Erzählerin primär mit Verstorbenen, die zu lebendigen Akteuren werden, spricht. Schon morgens erinnert sich Ruth an den Traum in der Nacht, der sich, wie sie vermutet, mit dem Tod beschäftigte. Sie denkt immer wieder über den Tod nach und hat "das Gefühl, der Tod schmuggele sich bedenklich oft und unvermittelt in [...ihren] Alltag." (S. 74) Der Tod des durch Krieg und Gefangenschaft schwerkranken Vaters wird erinnert. Sie erkennt, dass sich das Verhältnis zum Tod im Laufe des Lebens verändert: "Als ich jung war, hing ich weniger am Leben" (S. 76), "der Gedanke an den Tod (war) [...] verführerisch" (S. 77). Sie fragt sich, "warum wir dann so verbissen um jeden Tag kämpfen" (S. 76), wenn das Alter schon seinen Tribut fordert und das Leben durch Krankheiten weitaus weniger erfreulich geworden ist.

Ruth denkt aus der atheistischen Perspektive über den Tod nach und "beneidet[...] alle Menschen, die ernsthaft an einen Gott und ihr Weiterleben nach dem Tod glaubten" (S. 76). "Mein eigner Tod blieb für mich eine absolut unvorstellbare, wenn auch mit Sicherheit zu erwartende Angelegenheit." (S. 75) Im Kontrast zu ihrer Ratlosigkeit konfrontiert sie gleich der erste Auftritt von Bruno mit dessen Lob des Todes: "Dem verkommensten, verfehltesten Leben folgt er als erhabener Schluss." (S. 54) Er begründet die Überlegenheit des Todes gegenüber dem Leben mit seiner Notwendigkeit und ewigen Wahrheit: "nichts ist echter als der Tod. Das Leben ist reiner Zufall. [...] Der Tod aber ist ein Ritter, ehrlich und zuverlässig. Für den Tod gibt es keinen Zufall, er lässt niemanden zurück. Und erst im Dunkel des Todes erscheint unser Leben im rechten Licht." (S. 55) Brunos Gleichsetzung von Kunst und Tod (vgl. S. 54) bezieht sich auf die ewige Gültigkeit, die beide für sich beanspruchen. Dabei handelt es sich um einen beliebten Topos. Mit dem Tod ist die Möglichkeit der Veränderung nicht mehr gegeben, das Leben einer Person kann dann schriftlich fixiert bzw. festgeschrieben (Biographie) oder in einem Bild wie Munchs „Schrei“ festgehalten werden. So kann die Kunst den Tod überwältigen, so dass der Tod zum Kunstwerk wird; dazu gehört auch das Wiederkehren der Gestalten in Ruths Kopf. Mit Olgas Tod ist etwas fixiert, was dann von Ruth gestaltet werden kann, um sich mit Verdrängtem auseinanderzusetzen.

Brunos Behauptung "Der Tod adelt Betrüger“ (S. 54) erinnert an das – christlichen Vorstellungen entgegenstehende - Bild vom „Recyclingdepot“, „wo Gut und Böse einträchtig vermodern“ (S. 55). Durch den Tod als einzige Grundkonstante neben der Geburt bekommt das einzelne Leben einen Ewigkeitsbezug, eine Gewichtung. „Der Tod adelt Betrüger, Mörder, Säufer und alle anderen Tunichtgute, er nimmt sie gnädig zurück als misslungene Schöpfungsversuche der Natur...“ (S. 54).

In der Kunst sieht Bruno außerdem eine Möglichkeit, das Böse und damit die Schuld zu vermeiden, nämlich das Böse in der Phantasie auszuleben. Er vermutet, "dass es manche Menschen vor allem zur Kunst drängt, weil sie nur da ihre Mordgelüste und Machtphantasien ausleben können, ohne hinter Gittern zu landen."(S. 176) In diesem Sinne wird Goyas Gemälde lebendig. Die dargestellte Szene zeigt den Abschied vom Karneval, der ähnlich begangen wird wie im Kölner Karneval die Nubbelverbrennung. In der Szene kollektiver Ausgelassenheit verbinden sich, durch Masken und Kostüme dargestellt, die Elemente von Irrationalität (der große Schein), Religion bzw. Kirche (Priester- u. Nonnentrachten; der Teufel), Sexualität (die beiden Frauen, der Bär, der Spieß, der tanzende Priester) und Tod (die Totenmaske)[8]. Die Szene enthält trotz der dargestellten Fröhlichkeit insgesamt eine nächtliche, drohende Atmosphäre. Goyas Gemälde beschwört einen bedrohlichen Totentanz herauf, Ruth sieht in der Vorausschau ihren eigenen Tod. Dazu passt, dass sich Goya zur Zeit der Entstehung des Gemäldes auch mit Werken beschäftigt hat, die die Schrecken des Krieges darstellen, den Tod der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, Darstellungen aus dem Inneren eines Irrenhauses. Ruth, die, wie sie sagt, oft von dem Gemälde geträumt hat, hört schon den ganzen Tag im Park über berunruhigende Geräusche, die die Szene ankündigen. Aus dem Bild schält sich als Essenz für sie der kollektive Rauschzustand heraus, der, ganz im Sinne der Aufklärung, als gefährliche Abwesenheit der Vernunft verstanden ist und in dessen Irrationalität und Massenhysterie sich die Grenzen auflösen zwischen Freudentaumel, blindwütigem Kriegsgeschrei und religiösem Ritual. Allerdings bleibt zu Ruths Beruhigung die Szene immer im Rahmen des Bildes gefangen, d. h. sie bleibt in der Kunst gebändigt, womit sich Brunos These von der Auslagerung des Bösen in die Kunst bestätigt. Allerdings befürchtet Bruno am Schluss des Romans, Goya werfe mit seinem Gemälde auch einen Blick ins 21. Jahrhundert, alles fange von vorne an, ein zweiter Versuch (vgl. S. 188). Zu der pessimistischen Vorstellung einer ewigen Wiederholung der Geschichte passt dann auch Olgas Verschwinden aus der Szene, die sie mit ihrem Leitsatz, es sei schade um die Menschheit, kommentiert.

Dem Vorwurf, dass Monika Maron so schwerwiegende philosophische Themen nicht plausibel genug darstelle, sie teilweise nur anreiße und den Leser dann alleine lasse, lässt sich entgegenhalten, dass die Autorin ihre Hauptfigur Ruth sich mit diesen Themen eher assoziativ befassen lässt und die Positionen auf verschiedene Figuren ihres Romans verteilt. Kunst hat das Potential zu irritieren und Anstöße zu geben für eine eigene Auseinandersetzung des Lesers, sie muss nicht komplette Denksysteme entfalten.

Brunos negativer Blick auf Zeugung und Geburt und sein Lebensekel verweisen auf das „Geworfensein des Menschen“ (Existenzialismus) und Kierkegards Sicht auf das Leben als „Krankheit zum Tode“. Andererseits ist die Figur als anregender, sogar unterhaltsamer Provokateur angelegt und seine zum Teil haarsträubenden Argumentationen werden auch im Text relativiert, wenn die Ich-Erzählerin nüchtern feststellt: "Dass ich Brunos Lust an Untergangsszenarien [...] nicht teilen wollte, lag wahrscheinlich nur daran, dass er tot war und ich lebte." (S. 115) Sogar Bruno selbst distanziert sich von seinen Überlegungen, indem er anmerkt: "alles nur Phantomgedanken, das ist meine Version für die ungeraden Wochen, für gerade habe ich eine andere" (S. 116). Ruth ist durch die Erfahrung von Olgas Tod in ihren Grundfesten erschüttert, relativiert die Erfahrung aber, indem sie sie auf die Ebene des Spiels zieht, sich mit ihr spielerisch, aber zugleich ernsthaft auseinandersetzt.

Exkurs: Fünf Gründe, warum Monika Maron auf den Hund kommt (von Jutta Rech-Garlichs)

In „Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog“[9], den der Literaturkritiker Jochen Hieber kürzlich mit Monika Maron geführt hat, sagt Maron über ihr privates Hunde-Verhältnis: „Das Leben mit einem Hund ist glücklicher als ein Leben ohne Hund. Hätte ich schon früher gewusst, wie schön das Leben mit einem Hund ist, hätte ich sicher nicht so oft geheiratet.“[10] Und zum gar nicht so seltenen Vorkommen des Hundes in der Literatur: „Es ist kein Zufall, dass der Hund in der Literatur so präsent ist: Jack London, Turgenjew, Tschechow, Maeterlinck, Thomas Mann, [. . .], die Reihe ist endlos. Jeder [. . .] war fasziniert von der Beziehung zwischen Mensch und Hund“[11], eine Feststellung, die sie bereits in „Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche“ macht[12], dem Text, der ihrer 2005 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt gehaltenen Poetikvorlesung zugrunde liegt. Mit ihren Romanen „Endmoränen“, „Ach Glück“ und „Zwischenspiel“, dem Text ihrer Frankfurter Poetikvorlesung und dem eingangs erwähnten E-Mail-Dialog gibt uns Monika Maron direkt und indirekt Auskunft darüber, welche Rollen und Funktionen sie als Schriftstellerin und Romanautorin durch ihre Protagonistinnen Johanna („Endmoränen“/ „Ach Glück“) und Ruth („Zwischenspiel“) dem Hund in diesen Texten zuspricht. Eine genauere Betrachtung entsprechender Textstellen lässt erkennen, dass es im Wesentlichen fünf „Gründe“ sind, warum Monika Maron auf den Hund kommt: In „Endmoränen“ und „Ach Glück“ markiert das Auftauchen des Hundes (Bredow) einen Neuanfang im Leben der Protagonistin Johanna; in „Zwischenspiel“ hat der Hund (Nicki) vor allem die Funktion der „Erdung“ der Geschichte – beides poetologische Funktionen. In „Ach Glück“ geht es für die Protagonistin vor allem darum, vom Hund zu lernen: Lebensfreude und Glück durch pures Dasein. In „Zwischenspiel“ steht der Hund vor allem dafür, was dem Menschen fehlt und wonach er sich sehnt. Alle hier betrachteten Texte vermitteln: Die besondere Nähe Mensch – Hund beruht auch darauf, dass das Alter uns den Tieren gleich/gleicher macht.

Poetologische Funktion des Hundes

Protagonistin Johanna in „Endmoränen“ ist privat und beruflich in einer Sackgasse gelandet; Ratlosigkeit, Überdruss und Resignation bestimmen ihr Lebensgefühl, die „öde lange Restzeit“ (S. 55) erscheint als ein einziges großes Fragezeichen. In dieser Situation kommt am Ende des Romans der Hund ins Spiel, den Johanna, weil sie ihn, den Ausgesetzten, an der Autobahnausfahrt „Bredow“ mitnimmt, eben so benennt: Bredow. Mit Bredow wird ein „wunderlicher Anfang“(S. 253) gesetzt, der Johannas Lebenskräfte neuen Auftrieb verschafft und maßgeblich dazu beiträgt, dass die Autorin nach eigener Aussage[13] mit dem Roman „Ach Glück“ der Geschichte eine Fortsetzung gibt. „Hätte sie [Johanna] ihn ins Tierheim gebracht, wäre die Geschichte eigentlich zu Ende gewesen. Alles wäre geblieben, wie es war.[14] Entscheidend ist, dass Johanna dem Zufall in ihrem Leben ein Recht einräumt. […], sie schmeißt ihr Leben über den Haufen“[15], begründet Maron das Auftauchen des Hundes Bredow und damit dessen hauptsächliche poetologische Funktion in diesen beiden Romanen. Nicki, der Hund in „Zwischenspiel“ und nach Tibor Dérys Niki („Niki oder Die Geschichte eines Hundes“) benannt, hat eine andere Funktion: „Mein Nicki“, so Maron, „muss die Geschichte, wenn sie ins Überirdische abzuheben droht, immer wieder auf die Erde holen.“[16] So zum Beispiel, als er in ein lastendes Schweigen im Gespräch zwischen Olga und Ruth „ein so herzhaft irdisches Geräusch erzeugte, dass wir beide [Ruth und Olga] lachen mussten“(S. 136), oder als er, wiederum während eines schwierigen Gesprächs der beiden Protagonistinnen, plötzlich anhebt, eine „Hinterlassenschaft seiner Vorgänger energisch zu überpinkeln“(S. 140). Auch alle Begebenheiten im Roman, die sich aus Nickis Wurstleidenschaft ergeben, sind in dieser Hinsicht anzuführen und tragen dazu bei, das surreale, bisweilen düstere Scenario aufzubrechen, aufzulockern und aufzuheitern.

Vom Hund lernen

Im Umgang mit dem Hund erkennt Johanna vor allem, was ihrem Leben fehlt bzw. verloren gegangen ist: „Angesichts der unverstellten Gefühlsäußerungen des Hundes, seiner Fähigkeit, Glück zu empfinden und Glück zu bereiten, empfindet sie die eigenen Mängel oder Verluste.“[17] Nicht nur verhilft Bredow ihr wieder zu mehr Freiheit – als Beispiel dafür führt sie die nächtlichen Spaziergänge an, die ihr in all den Jahren davor gefehlt hätten[18] –, mit ihm lernt sie auch wieder zu lachen[19] , öffnet sich für Empfindungen von Liebe und Glück[20] und lässt die Hoffnung zu, dass „es auch mir [ihr, Johanna] gelingen könnte, wenigstens mir selbst als Sinn zu genügen und froh zu sein, weil es mich gibt, wie der Hund froh ist, dass es ihn gibt “.[21]

Der Hund hat, was dem Menschen fehlt

Auch in „Zwischenspiel“ hat der Hund, Nicki, den Menschen etwas voraus: „[…] er hat nichts zu tun mit der Schuld, die alle Menschen in der Geschichte umtreibt. Er ist unfähig zur Schuld.“[22] „Ein glückliches bewusstloses Geschöpf bist du“(S. 111), sagt Bruno zu Nicki, im Gegensatz zum Menschen, der „verstoßen [ist] aus der Unschuld der Tiere, […] und ausgesetzt der eigenen Schuld“(S. 145). Das Tier – hier der Hund – erscheint als sprachlose, bewusstlose, schuldunfähige und: glückliche Kreatur, die überdies „hat, wonach der […] Mensch sich sehnt: etwas, zu dem er gehört, das größer ist als er selbst“[23], während die Gottessehnsucht des modernen aufgeklärten Menschen ins Leere ragt.[24] „Dass sie für ein Wesen auf dieser Erde das Paradies sein konnte, […] weckte in ihr ein Gefühl, das sie schon lange nur noch aus der Erinnerung kannte […] und sie für Momente glauben ließ, sie hätte endlich die Bestimmung allen Lebens, auch ihres eigenen, verstanden“[25], beschreibt Johanna ihr Liebesverhältnis zu Bredow, das hier ins Religiöse gehoben wird.(vgl. S. 122) Unterstrichen wird dieser „religious turn“ dadurch, dass sowohl Johanna als auch Ruth in der Begegnung mit dem Hund Fügung und Botschaft sehen.[26]

Das Alter macht uns den Tieren gleicher

In „Ach Glück“ schreibt Natalia Timofejewna, jene betagte kunstbeflissene russische Fürstin und Freundin von Leonora Carrington, die Johanna im Auftrag des Galeristen Igor in Mexico City besucht: „ Ich habe erst unter der Knute des Alters meinen menschlichen Hochmut aufgegeben. Das Alter und der Tod machen uns den Tieren gleicher; unbarmherzig ziehen sie uns auf die andere Seite, in das Reich der Natur. Wenn unser Gehirn allmählich schwach wird und die Organe ihren Dienst verweigern, rettet uns unsere Kultur nicht mehr, und wir unterliegen dem gleichen Gesetz wie die Tiere.“[27] In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung nimmt Maron Bezug auf diese Stelle und spricht davon, dass der Hund „als Fragezeichen hinter der eigenen Sinn- und Glücksvorstellung“[28] und „als Konfrontation mit dem kreatürlichen Anteil in uns selbst“[29] gesehen werden kann.

Am Ende des E-Mail-Dialogs sagt Maron zu den Beweggründen ihres Schreibens befragt: „Ich befürchte, dass ich viel lüge, […]. An die Wahrheit kann ich mich entweder nicht erinnern oder sie kommt mir zu banal vor, um sie der Öffentlichkeit mitzuteilen. Oder es handelt sich um Geheimnisse.“[30] Vielleicht steckt auch hinter Monika Marons literarischer und tatsächlicher Hunde-Liebe noch das ein oder andere Geheimnis.

Das Verhältnis Mensch-Tier ist gegenwärtig Gegenstand eines breit gefächerten und komplexen gesellschaftlichen Diskurses, mit dessen wissenschaftlicher Erforschung und Analyse sich die Human-Animal-Studies befassen, ein relativ junges, interdisziplinäres Forschungsfeld. Je nach Wissenschaftsdisziplin – Soziologie, Psychologie, Philosophie, Anthropologie, Kultur-, Geschichts- und Erziehungswissenschaft, Gerontologie – liegt der Fokus dabei z. B. auf der Repräsentation von Tieren in den Medien (Film, Fernsehen, Internet, Kunst, Literatur), auf der Untersuchung von Einstellungs- und Umgangsweisen des Menschen zu und mit Tieren und deren historischen Veränderungen und auf der Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses unter den Aspekten Gewalt und Ausbeutung. Delphin-Therapie für behinderte Kinder, Hippotherapie, Therapeutisches Reiten und Lama-Therapie – „tiergestützte Therapien“ als Teil alternativmedizinischer Behandlungsverfahren zur Heilung und Linderung der Symptome vor allem psychischer und neurologischer Erkrankungen und Behinderungen erfahren seit einigen Jahren enorme Beachtung und Aufschwung. Altersheime öffnen sich zunehmend für den Einsatz von Hunden in der Pflege vor allem an Demenz erkrankter Menschen, in Großstädten entstehen, dem japanischen Vorbild folgend, Katzen-Cafés, in denen Menschen beim Kuscheln mit Katzen Stress abbauen können, auf die Behandlung von Psoriasis und Neurodermitis spezialisierte Einrichtungen setzen neuerdings auf Kangalfische, und selbst die uralte Blutegel-Therapie erfreut sich neuer Beliebtheit.

Auch auf einem anderen Gebiet, dem der Ernährung, zeigt sich in den letzten Jahren mit dem Wechsel von mehr und mehr Menschen zu einer vegetarischen oder veganen Lebensweise nicht nur generell ein stärkeres ökologisches Bewusstsein – es spiegelt auch einen kritischeren und sensibleren Umgang im Verhältnis Mensch-Tier wider.

Tiere haben zu jeder Zeit ihren Platz in Kunst und Literatur gehabt, insofern ist die Beobachtung, dass sie zumal in der neueren Literatur auffallend häufig vorzukommen scheinen und als Beleg und Spiegel dieses anderen Mensch-Tier-Verhältnisses betrachtet werden können, kritisch zu sehen. Plausibler erscheint mir die umgekehrte Betrachtungsweise: Die Präsenz von Tieren/Hunden hat nicht wegen eines veränderten Mensch-Tier-Verhältnisses zugenommen, sondern unsere Wahrnehmung der Präsenz und Präsentation von Tieren/Hunden hat sich aufgrund des Human-Animal-Diskurses verändert und verschärft.


Alterstopoi

Inmitten der existentiellen Themen von Leben und Tod bleibt die Thematik des Alter(n)s eher im Hintergrund, d.h. das Alter und die damit verbundenen Probleme werden nur indirekt angesprochen und sind als Topoi schwer zu fassen. Zwar kann die von Beginn an präsente Todesthematik als Altersklage aufgefasst werden, sie wird aber nur selten als Klage formuliert. Die alterstypischen Überlegungen Ruths darüber, wie lange sie neuerdings morgens braucht, bis sie fertig ist zum Verlassen des Hauses(vgl. S.9f), ihre Gedanken an Schlaganfall oder Herzinfarkt nach der Sehstörung (vgl. S.28) erfolgen eher beiläufig.

Der Tod Olgas jedoch, zu deren Begräbnis zu gehen sie sich innerlich widerstrebend entschließt, zwingt Ruth, sich mit ihrem Leben und ihrem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Fragen darüber, wie oft sie noch das Glück des Frühlings erleben könne oder ob dies der letzte neue Kühlschrank in ihrem Leben sei, beschäftigen sie und markieren eine Veränderung in ihrem Lebensgefühl. Sie wäre gerne religiös gewesen, um die „Kränkung“ (S.75) des „Wegseins“ durch den Trost eines Weiterlebens nach dem Tod kompensieren zu können.

An diese Überlegungen schließt sich eine direkte Klage darüber an, was den Menschen im Alter erwartet, „wie Krankheiten und drohendes Siechtum die verbleibende Zeit verdüstern“ (S.76), und die Frage „warum wir dann so verbissen um jeden Tag kämpfen“, während in der Jugend der Tod, als Protest gegen die Welt der Erwachsenen, keinen Schrecken zu haben schien. Die Angst vor dem Tod ist letztlich für Ruth eine Angst vor dem Sterben. Ihre persönliche Betroffenheit durch Gedanken an den eigenen Tod weicht im weiteren Verlauf des Romans allgemeinen Feststellungen zu den Grundkonstanten des Lebens und der menschlichen Existenz.

Der Topos des Alterslobs wird von Olga repräsentiert. Dass sie sich, seit Ruth sie im Alter von 55 Jahren kennenlernte (vgl. S.29), in ihrem Äußeren nicht verändert hat, d. h. „gleichbleibend altmodisch“ (S. 30) geblieben ist, kann unter Hinweis auf Brechts "Geschichten von Herrn Keuner" kritisch gesehen werden. Trotz den sich aus diesem Äußeren ergebenden Vorurteilen muss auch Ruth letztlich Olgas Fähigkeiten zu Toleranz, zu Hilfsbereitschaft und ihre Hinwendung zu den Bedürfnissen der Menschen anerkennen und im Stillen bewundern. Als Gegenfigur zu Ruth zeigt Olgas Lebensweg, dass Entwicklung und Veränderungen auch in der zweiten Lebenshälfte möglich sind. Olga hat die Nackenschläge und Frustrationen des Lebens nicht verdrängt, sondern sich ihnen gestellt und sie verarbeitet. Sie hat Andy gepflegt, sie hat die Verbindung zu Ruth und ihrer Enkelin Fanny aufrechterhalten, sie hat ihren Mann Hermann nicht verlassen, nachdem sie von seiner zweiten Familie erfuhr, ihm auch nicht das Leben zur Hölle gemacht und schließlich nach seinem Tod, also nach ihrem 65. Geburtstag, noch eine Berufstätigkeit aufgenommen. Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen zeigt sich in ihrer Hinwendung zu der Religion der Bahai (vgl. S.84f), die für sie all das verkörpert, was sie gelebt hat. Noch in dem letzten Telefongespräch, das Ruth erinnert, spielt Olga ihre Beschwerden und damit ihre eigene Person herunter und klingt fest und zuversichtlich (vgl. S.28). Neben dem Bild des positiven Alters, das Olga verkörpert, ist es vor allem ihre Lebenseinstellung, die sie von den anderen Figuren und deren Pessimismus unterscheidet und sie vielleicht etwas zu idealisiert erscheinen lässt.

Auf den ersten Blick scheint es keine Anhaltspunkte für den Altersspott zu geben. Löst man die Episode mit Honeckers jedoch von den tragischen Verwicklungen mit der Zeitgeschichte, so zeigen sich hier Merkmale, die dem Altersspott zugeordnet werden können (auch wenn sie sich nur im Kopf der Protagonistin abspielen, wie Bruno feststellt (vgl. S.147f, S.184). Dazu gehört vor allem das Groteske ihrer Erscheinung, das durch lächerliche Verhaltensweisen gesteigert wird (vgl. z.B. Honeckers Reaktion auf den Hund) und in Zusammenhang mit dem Alter die Funktion hat, die Distanz der Protagonistin zu dem vergangenen politischen System zu unterstreichen. Es wird gezeigt, wie im Gegensatz zu Olga die Honeckers starr und ohne Rücksicht auf die Menschen an ihrer Ideologie festhalten. Geistige Unbeweglichkeit und Altersstarrsinn verhindern eine Reflexion und ein Infragestellen ihrer ehemaligen politischen Ziele. Zu einem Schuldbekenntnis, wie Bruno es erwartet, sind sie nicht in der Lage. Dass Margot Honecker ihren Mann herumkommandiert, eine der Realität entnommene Verhaltensweise, unterstreicht die Greisenhaftigkeit Honeckers und seine Regression in kindliche Verhaltensweisen. Unter dem Gesichtspunkt der Alterstopoi betrachtet sind dies typische in der Literatur dargestellte Fehlentwicklungen im Alter. Hier dienen sie dazu die Schrecken der Vergangenheit erträglich zu machen, indem sie ins Lächerliche gezogen werden, gleichzeitig wird aber eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eher verhindert als unterstützt. Dies leistet dagegen in gewisser Weise der Alkoholismus Brunos, dessen Selbstironie aus der Distanz des Jenseits u. U. dem Altersspott zugeordnet werden könnte.


Gattungseinordnung

Bei Monika Marons „Zwischenspiel“ handelt es sich um einen Roman, also eine fiktionale Geschichte, deren Handlung auch nur als solche überhaupt möglich ist. Der Titel „Zwischenspiel“ ist eine Anspielung auf das im Roman auch explizit genannte "Traumspiel" (S. 139) von Strindberg[3], bei dem es sich um ein Bühnenstück handelt, dessen Thematik deutliche Parallelen zu Marons Roman aufweist. Auch in formaler Hinsicht sind Anklänge an die dramatische Form erkennbar. Die Struktur des Romans entspricht in auffallender Weise der dramatischen Regel von den Einheiten von Raum, Zeit und Handlung[4]. Der Roman enthält auch einen relativ hohen Anteil an Dialogen. Die einzelnen Szenen, in denen die Protagonistin Ruth an diesem Tag in dem Park Gespräche mit Verstorbenen oder reinen Kunstfiguren (vgl. den bösen Menschen) führt, wirken wie Bühnenauftritte. Dementsprechend heißt es zum Beispiel in der Szene mit dem Ehepaar Honecker, dass "das Licht wie auf eine Bühne fiel."(S. 109) Brunos Auftritte erinnern an das Auftauchen des Deus ex machina[5], von dem es heißt, "er [...] stand da wie ein zerlumpter Possenspieler, der eben einer Jahrmarktsbühne entsprungen war."(S.105)

Der von Maron für ihren Roman gewählte Titel verweist einerseits auf ein Schau-Spiel und andererseits auf einen Zwischen-Zustand. Für die Darstellung des Zuständlichen ist die erzählerische Form entschieden geeigneter als die dramatische. Während dieses Zustands, der dadurch eingeleitet wird, dass eine Wolke am Himmel plötzlich anders als die übrigen ihre Richtung umkehrt und rückwärts schwebt, kehrt auch die Ich-Erzählerin ihren Blick zurück in ihre Vergangenheit. Es kehren sich die Ebenen von Realität und Irrealität um, im Roman plastisch dargestellt als spontane Sehstörung, durch die die Realitätsebene von der Ich-Erzählerin nur noch wie ein impressionistisches Gemälde undeutlich wahrgenommen wird, wogegen die aus der Erinnerung aufgerufenen Personen, Geschehnisse, Gemälde klar umrissen in die Handlung eintreten. Zu der Sehstörung tritt später noch eine Störung des Hörsinns, indem Ruth plötzlich Olgas Stimme aus dem Autoradio hört. Anfangs versucht Ruth, die Realitätskontrolle zu behalten, indem sie die Spülmaschine einräumt, Blutdruck und Puls kontrolliert (vgl. S. 27) und sich einredet, sie sei auf dem Weg zum Friedhof, obwohl sie dem Navigationsgerät nur sehr sporadisch folgt (vgl. S.38, S. 40f.). Das innere Erleben kann im Roman als äußeres Geschehen lebendig werden, Ruth erschafft ihre Erinnerungsfiguren und stellt dem Leser beinahe so etwas wie die multiple Persönlichkeit vor, von der sie am Anfang des Romans spricht (vgl. S. 17). Außerdem geschieht als Romanhandlung genau das, was der Spruch „Solange du in unserer Erinnerung bist, bist du nicht gestorben“ sagt. Dadurch wird einerseits die Erinnerungsarbeit und Identitätssuche der Ich-Erzählerin anschaulicher und lebendiger, andererseits kann aber auch eine Distanzierung von dem von den einzelnen Erinnerungsgestalten Geäußerten stattfinden.

Erzählweise

Die Geschichte wird uns hauptsächlich aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Ruth geschildert. Die Innensicht, die uns die Ich-Erzählerin bietet, wird ergänzt durch die Außensicht auf Ruth, die Bruno und Olga als persönlich auftretende Erinnerungsfiguren beisteuern. Allerdings kann das, was sich in der Figurenrede als deren Innensicht darstellt, auch als indirekte Außensicht auf sie durch Ruth verstanden werden, was dann gleichzeitig bedeutet, dass die vermeintliche Außensicht auf Ruth nur deren Vorstellung davon wiedergibt, wie Bruno und Olga sie gesehen haben. Die Begegnungen und Gespräche mit den Erinnerungsfiguren führen insgesamt zu weiteren Erinnerungen der Ich-Erzählerin, immer weiter in die eigene biografische Vergangenheit und sogar noch hinter jene zurück bis zu dem Gemälde von Goya.

Dem entspricht im Roman die Darstellung des Raumes: Ruth verliert die räumliche Orientierung in der realen Stadt völlig und erkennt auch Orte, die ihr eigentlich vertraut sein müssten, nicht wieder. Der Traum-Park, in den sie gerät, entpuppt sich als Seelenlandschaft: je weiter zurück Ruth in ihrer Erinnerung geht, desto schmaler werden die Pfade, die sie zu immer tiefer im Park verborgenen Orten führen. Das Erleben des Raumes korrespondiert mit den Erinnerungsinhalten: während der Begegnung mit „dem Bösen“ verwandelt sich z. B. der idyllische Sommergarten "in ödes Nichts" (S. 171).

Leitmotivisch ist der Roman von Anfang an durchwoben mit Hinweisen auf die Abkehr von der realen Welt, die an diesem Tag stattfindet: dass es sich um eine Art von Traum handeln wird, kündigt sich bereits beim Aufwachen an, als Ruth noch die Last eines bedrückenden Traums, evtl. vom Tod, spürt (vgl. S. 7). Dieser Zustand der Unklarheit besteht in Bezug auf die zeitliche Dimension bereits ansatzweise dadurch, dass Ruth gewohnheitsmäßig die Zeitung des Vortages liest; im Verlauf des Tages aber werden (in Umkehrung des linearen Zeitablaufs, ebenso wie die Wolke ihre Richtung ändert) Verstorbene und sogar Figuren aus Gemälden plötzlich lebendig. Passend zur Abkehr von der Realität werden leitmotivisch Rauschzustände verwendet. Dass der Rausch zu besonderer Klarheit führen kann, hat Ruth bereits einmal erfahren, als sie nämlich während eines Haschischrauschs erkannte, dass sie die geplante Heirat mit Bernhard aufgeben musste (vgl. S. 14f.). Das Rauchen einer Zigarette, bei dem sie „den leichten, die Fehlfunktion [ihrer] Augen harmonisch ergänzenden Schwindel“(S. 153) genießt, zieht sich durch alle Etappen ihrer Erinnerungsreise; zum Schluss bittet auch Olga, die zu Lebzeiten nie rauchte, um eine Zigarette (vgl. S. 173). Die Erlösung von der Realität im Alkoholrausch ist außerdem das Lebenskonzept von Bruno.

Die Kunst ist ein den gesamten Roman durchziehendes Leitmotiv: die impressionistische Verpixelung der Welt, die als "Himmelsbild wie von Monet gemalt" (S. 26) bezeichnet wird, Olgas Augen, die an ein "Marienbild von El Greco" (S. 29) erinnern, Munchs "Schrei" (S. 54) als Beleg für den Vergleich von Kunst und Tod, die gefälschte Madonnenskulptur, derentwegen Ruth Todesängste erlebt (vgl. S. 79), Bernhards Deckname „Modigliani“ (S. 129), der leibhaftig auftretende Böse aus dem Werk eines unbekannten Künstlers (vgl. S. 164) und schließlich das Finale mit Goyas Gemälde.

Als weitere Leitmotive zu nennen sind Wolken, die hell und klein leicht ihre Richtung ändern können oder im Park auch dunkel und Unwetter ankündigend aufziehen, sowie der Tod (vgl. den Abschnitt über den Tod) und die Vertreibung aus dem Paradies. Sie wird einerseits als biblische Geschichte in der Diskussion zwischen Ruth, Olga und Bruno über die Erbschuld angesprochen (vgl. S. 141ff.). Andererseits bezieht sie sich auf Ruths Leben, die den Stiefvater nicht akzeptieren möchte und deshalb mit 18 Jahren aus dem Paradies der Kindheit ausziehen muss, später wegen ihrer regimekritischen Haltung aus ihrer Heimat, der DDR, ausgebürgert wird. Umgekehrt wird das Motiv, wenn sie der strengen Stimme des Navigationsgeräts nicht folgt, dafür aber nicht mit Ausweisung bestraft, sondern mit der Aufnahme in den Park belohnt wird, der „wie eine wunderschöne Verheißung“ ist (paradiesisch und Zukunftshaltig), in dem sie „einen der seltsamsten, aber auch schönsten Tage ihres Lebens“ erlebt.

Das (literarische) Erzählen wird im Roman selbst thematisiert, indem mit der Figur des Hendrik ein einigermaßen erfolgreicher Schriftsteller zum Personal gehört. Über die literarische Qualität und vor allem die Arbeitsweise ihres Mannes denkt die Protagonistin Ruth ausgiebig nach und kommt zu der Einschätzung, dass "den späteren Geschichten etwas schwer Benennbares (fehlte), das allen Gewissheiten gleich wieder den Boden entzog, das im Tragischen das Lächerliche durchscheinen ließ und umgekehrt, das glauben ließ, der Autor verfüge über ein geheimes Wissen, das ihn Menschen und Räume deutlicher erkennen ließ als andere, eben etwas, das Hendrik nur Brunos genialisch traurigem Blick auf die Welt zu verdanken hatte" (S. 67). Diese Darstellung von Hendriks Erzählungen erinnert durchaus an Marons Schreibweise in diesem Roman, der geprägt ist durch eine ironische Brechung, die ihm die im Titel angekündigte spielerische Leichtigkeit verleiht, indem die Ebenen von Realität und Phantasie sich ständig in die Quere kommen und komische Effekte erzeugen, z. B. wenn Ruth gegen das Navigationsgerät kämpft, Olgas Stimme im Autoradio hört, der Hund, eigentlich nur an der Bratwurst interessiert, durchgängig die Phantasiegestalten kommentiert, das groteske Auftreten des Ehepaars Honecker und viele andere Stellen, die den Leser schmunzeln lassen. Damit zeigt sich der Roman bei aller Ernsthaftigkeit des Themas auch als großes Spiel.

Die Reflexion des Erzählens in der Erzählung passt außerdem in besonderer Weise zum Thema der Identität. Die Psychologie hebt die identitätsbildende Funktion des Erzählens von Geschichten hervor. "Wer Erfolg hat bei der 'Suche' nach seiner Identität, hat in kreativen Akten geschaffen, wonach er suchte. Identität ist ein immer nur vorläufiges Resultat kreativer, konstruktiver Akte", als deren Ausdrucksmittel "das (höchst bedeutsame) Erzählen von Geschichten"[31] besonders hervorgehoben wird.

Anmerkungen

  1. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Monika Maron, Zwischenspiel, Frankfurt/M. 2013
  2. vgl. Monika Maron, Endmoränen (von Sieglinde Krause)
  3. vgl. Jürgen Straub, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität3, Frankfurt/M. 1998, S. 92
  4. vgl. Klaus Mollenhauer, Zum Schluß. Schwierigkeiten mit Identität, in: ders.: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, München 1983, S. 155-173
  5. vgl. Jürgen Straub, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität3, Frankfurt/M. 1998, S.88
  6. ebd., S. 92
  7. vgl. den Exkurs "Fünf Gründe ..."
  8. vgl. das Banner in Goyas Zeichnung aus dem Jahr 1816 mit dem selben Titel "Begräbnis der Sardine"
  9. Gefunden unter: www.hundertvierzehn.de/artikel/frau-und-hund-ein-e-mail-dialog (13.05.2014/10:44)
  10. ebd.
  11. ebd.
  12. Maron, Monika: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche. Frankfurt a. M. 2005, S. Fischer, S. 35
  13. Siehe dazu: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, S. 33
  14. vgl. hierzu auch „Ach Glück“, S. 158: „Ohne den Hund wäre vielleicht alles so weitergegangen und ich [Johanna] hätte mich damit abgefunden.“
  15. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  16. ebd.
  17. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  18. vgl. hierzu „Ach Glück“, S. 34f.
  19. ebd., S. 36
  20. vgl. hierzu z.B. ebd., S. 62 und „Ach Glück“, S. 33
  21. ebd., S. 62
  22. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  23. Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, S. 36
  24. ebd., S. 36, zitiert Maron Maeterlinck: „ Er [der Hund] ist das einzige Lebewesen, das einen […] Gott gefunden hat und anerkennt.“
  25. Ach Glück, S. 105f.
  26. dazu Maron über Johanna in ihrer Poetikvorlesung, S. 78, und Ruth in „Zwischenspiel“, S. 122
  27. Ach Glück, S. 180
  28. Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, S. 40
  29. ebd., S. 40
  30. Frau und Hund, ein E-Mail-Dialog
  31. Jürgen Straub, Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Aleida Assmann/Heidrun Friese (Hg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität3, Frankfurt/M. 1998, S. 93