Robert Menasse, Die Hauptstadt

Aus Literarische Altersbilder
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Robert Menasse zeichnet in seinem Roman „Die Hauptstadt“ ein Vexierbild, das changiert zwischen dem drohenden Scheitern der EU und der EU als anzustrebendem humanem Ideal. Die von Menasse behaupteten [1] Motive und Antriebskräfte der Gründungsgeneration kommen in der Gegenwart kaum noch an. Der Roman zeigt, wie das Ideal des geeinten Europas an den Egoismen der beteiligten Nationen und dem Karrieredenken der Bürokraten zu scheitern droht. Zugleich werden aber auch Hoffnungen auf ein friedlich vereintes Europa und den Zusammenhang der Nationen und Generationen vermittelt.

Zu diesem Ergebnis, das im Folgenden dargestellt und begründet werden soll, hat die Analyse des Textes in der Projektgruppe geführt. Dabei bildet die Untersuchung der Protagonisten hinsichtlich ihrer Aktionen und den zugrundeliegenden Überzeugungen und Wertvorstellungen im Hinblick auf Europa das Zentrum. Die Annahme, dass es Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen der Protagonisten von Europa mit ihrer Generationenzugehörigkeit und Biographie gibt, soll untersucht werden. Als Voraussetzung für das Verständnis der Hauptfiguren soll zunächst ein Überblick über Aufbau und Handlung des Romans gegeben werden.


Titel und Struktur

Die Struktur des Romans ist komplex und vielschichtig. Im Prolog werden die Protagonisten bereits eingeführt und Handlungsstränge angedeutet, die erst allmählich verbunden werden.

Die Handlung beginnt in Brüssel, das den zentralen Schauplatz des Romans bildet, so dass der Leser den Titel sofort auf Brüssel als vermeintliche Hauptstadt der EU bezieht. Erst später erweist sich diese Vermutung als zu kurz gedacht, denn der Autor täuscht die Leseerwartungen, indem er eine tiefere Dimension des Titels erkennen lässt. Bestätigt wird dagegen die Erwartung, dass es um die EU geht, denn viele der zahlreichen Figuren des Romans arbeiten für die EU-Kommission und stehen in Kontakt miteinander.

In 11 Kapiteln werden die Ereignisse, die sich im Zeitraum weniger Monate abspielen, in mehreren, teilweise miteinander verflochtenen Handlungssträngen erzählt. Der zentrale Handlungsstrang ergibt sich aus der Planung zur Feier des 50. Geburtstages der EU-Kommission im Januar 2018, u.a. daraus lässt sich schließen, dass die Spanne der erzählten Zeit vom Januar (vgl. S. 36) bis in den Frühsommer (vgl. S. 362) des Jahres 2016 (vgl. S. 61) reicht.

An der Planung sind direkt oder indirekt zahlreiche Figuren des Romans beteiligt, allen voran Fenia Xenopolou (genannt Xeno), ihre Mitarbeiter Martin Susman, Bohumil und Kassandra, die in der Hierarchie über ihr stehende Mrs. Atkinson, Romulo Strozzi, Attila Hidegkuti und Lars Eklöf sowie Xenos Geliebter und Förderer Kai-Uwe Frigge (genannt Fridsch).

Im Zentrum des zweiten Handlungsstrangs steht Prof. Alois Erhart, der Mitglied der Reflection Group 'New pact for Europe' ist und zu den Sitzungen jeweils in Brüssel anreist, aber zu keiner der Figuren des 1. Stranges Kontakt hat, sondern sich nur an denselben Orten aufhält, mindestens einmal auch zur selben Zeit.

Der dritte Erzählstrang betrifft die Aufklärung eines im 1. Kap. geschehenen Mordes im Hotel Atlas in Brüssel durch Kommissar Emile Brunfaut.

Der vierte Handlungsstrang hat den geringsten Umfang. Hier geht es um einen polnischen Auftragsmörder namens Richard oder Mateusz Oswiecki (genannt Matek), den der Leser unweigerlich mit dem o.g. Mord in Verbindung bringt, obwohl dies an keiner Stelle explizit gesagt wird, wie auch das Opfer ungenannt und der Fall ungelöst bleiben.

Besondere Bedeutung hat der 5. Handlungsstrang, dessen Protagonist David de Vriend ein Überlebender des KZ Auschwitz ist, als erster und letzter im Roman auftritt, zu den übrigen Erzählsträngen seinerseits keinerlei Beziehung hat außer der räumlichen und zeitlichen Nähe, für das geplante Projekt aber eine wesentliche Rolle spielt.

Gerahmt wird das erzählte Geschehen von Prolog und Epilog, in denen es um ein in Brüssel zu Beginn der Handlung frei umher laufendes Schwein geht, das später auch in der Binnenhandlung mehrfach erwähnt wird und einen Medienrummel entfacht, der im Epilog sein Ende findet.

Die im Roman erzählten Ereignisse eines relativ eng begrenzten Zeitraums beziehen durch die Figuren auf vielfältige Weise die Vergangenheit mit ein. Die Lebens- und Familiengeschichten der Protagonisten reichen zurück bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auch die Handlungsschauplätze erstrecken sich sowohl durch erzählte Aktivitäten der Figuren als auch durch ihre Erinnerungen über Brüssel hinaus. So kommen z. B. Auschwitz, Wien und Prag vor.

Aufgrund der dargestellten Themen ist erklärlich, dass Menasses Werk von der Kritik[2] als erster EU-Roman gefeiert worden und dem Genre des politischen Romans zuzurechnen ist. Die Menasse inzwischen vorgeworfene "Fälschung" historischer Fakten, die besonders in Essays und Interviews vorkam, ist im Roman wegen seiner Fiktionaltät zu tolerieren im Sinne einer positiv verstärkten Ursprungsgeschichte der europäischen Idee. Gleichzeitig weist der Roman auch Elemente des Kriminalromans bzw. Polit-Thrillers auf. Seine nicht unerhebliche Spannung bezieht der Roman allerdings nicht aus diesem Handlungsstrang.

Figuren

Für die eingangs formulierte Problemstellung unserer Analyse, nämlich die Frage nach den Chancen und Risiken der EU, spielen die Lebensentwürfe, Wertvorstellungen und Erfahrungen vor allem der agierenden Figuren eine wesentliche Rolle. Diese Figuren hat die Projektgruppe daher näher untersucht.

David de Vriend

Die Figur des David de Vriend steht hier am Anfang, weil seine Rolle im Roman auch vom Autor dadurch hervorgehoben wird, dass er als erster und letzter auftritt, somit einen Rahmen bildet, obwohl oder gerade weil er zur EU-Bürokratie keinen Bezug hat und keinen der übrigen Protagonisten kennt. De Vriend beschäftigt sich nicht mit der EU, er kämpft gegen das Vergessen, sowohl das gesellschaftliche hinsichtlich der Geschichte als auch sein eigenes in Form der Demenz.

De Vriends Leben ist kein Leben im üblichen Sinn. Es wird vielmehr vom Erzähler als Überleben definiert. (vgl. S. 222[3]) Er hat sein Schicksal als Auschwitz-Überlebender vergessen wollen, hat aber als alter Mann „das Gefühl, selbst vergessen worden zu sein, völlig vergessen von allen Menschen und sogar vom Tod.“ (S. 154) Zwar wurde er Lehrer, weil er nicht nur Zeitzeuge sein wollte. „Er wollte nicht Zeuge, er wollte Erzieher sein.“ (S. 355) Aber Zweifel, ob ihm das gelungen ist, bleiben (vgl. S. 155). Wenn er auf einen Friedhof geht, und er geht gern auf Friedhöfe, und auf die Gräber schaut mit ihren Grabsteinen und den Namen darauf, denkt er an seine Familie, denn: „Seine Eltern, sein Bruder, seine Großeltern hatten Gräber in der Luft[4].“ (S. 85).

Was von de Vriends Leben bzw. Überleben am Ende bleibt, ist trotz ständigen Putzens nur Dreck, das denkt er (vgl. S. 73f.), als er zum letzten Mal in seiner leeren Wohnung steht, in der er am Place du Vieux Marché aux Grains sechzig Jahre lang gewohnt hat (vgl. S. 9). Diese Wohnung hat eine Feuertreppe, also eine Möglichkeit zur Flucht. Auch deshalb hatte er sie seinerzeit genommen. Denn seiner Flucht aus einem Deportationszug nach Auschwitz im April 43 (vgl. S. 354) verdankt er, dass er überhaupt überleben konnte. Geblieben ist ihm seitdem das Schuldgefühl, die Rufe seiner Eltern „Bleib da!“ (S. 447), als er aus dem Zug springt, hat er immer noch im Ohr. Es hilft ihm nicht, dass er weiß: „Er hätte sie nicht retten können, wenn er nicht aus dem Zug gesprungen, wenn er bei ihnen geblieben wäre.“ (S. 449)

Einen Schutz beim Überleben bieten seine maßgeschneiderten Anzüge aus feinstem Stoff. Sie sind eine Art Panzerung, soweit wie möglich von der fadenscheinigen Kleidung des Lageralltags entfernt. Zu diesem Schutz gehört auch das Fehlen einer Kopfbedeckung: „Wer im Lager gewesen war, wusste, was es hieß: keine Mütze. Das war der Tod. Darum hieß es danach: Leben. Freiheit. Bester Stoff und ein freier Kopf.“ (S. 324) Jetzt ist er im Altenheim, lebt zusammen mit Menschen, „die aus seiner Generation waren, aber nie seine Zeitgenossen gewesen sind, weil sie seine Erfahrungen nicht teilen mussten, ihr Unglück war das Alter, sein Unglück war das Leben.“ (S. 155)

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass eine EU-Beamtin David de Vriend als in Brüssel lebenden Auschwitz-Überlebenden entdeckt und ihn in bester Absicht wieder auf die Opfer-Funktion reduziert, die sein ganzes Überleben bestimmt hat. Er ist die Verkörperung des Ursprungsgedankens für die europäische Union als Friedensprojekt: nie wieder Auschwitz[5]. Daran soll im 'Jubilee-Project' erinnert werden. Die Beamten der Generaldirektion für Kommunikation halten ihn für den idealen Mittelpunkt der zu planenden Jubelfeier zum 50. Geburtstag der EU-Kommission: „Da haben wir alles: ein Opfer des Rassismus, einen Widerstandskämpfer[6], ein Opfer von Kollaboration und Verrat[7], einen Zeugen des Vernichtungslagers, einen Visionär des nachnationalen Europas auf der Basis der Menschenrechte, die Geschichte und die Lehre aus der Geschichte in einer Person, in der Person dieses Lehrers.“ (S.355)

Aber etwas bleibt doch: Als Joséphine, seine Betreuerin im Altenheim, nach seinem Tod sein Zimmer ausräumt, findet sie einen Zettel, auf dem er Überlebende notiert hat. Der letzte Name auf dem Zettel ist sein eigener, im Unterschied zu allen anderen nicht durchgestrichen. Sie steckt den Zettel in die Tasche ihres Arbeitsmantels und denkt: „Solange sein Name nicht durchgestrichen ist, so lange - “ (S. 453). Der Zettel mit dem nicht durchgestrichenen Namen eines Überlebenden entfaltet seine eigene Dynamik: das, wofür de Vriend steht, soll weiter leben, auch wenn er individuell schon tot ist.

Trotz der isolierten Stellung der Figur des David de Vriend schafft der Autor durch Orte Verbindungen zu anderen Figuren. Dies wird einerseits über die Lage seiner Wohnung erreicht, die in unmittelbarer Nähe der Wohnung von Martin Susman und des Hotel Atlas liegt, in dem Erhart während seiner Brüssel-Besuche wohnt. Andererseits hat der Schauplatz des Friedhofs eine verbindende Funktion im Roman. Neben seiner allgemeinen Bedeutung als auf den Tod verweisende Dimension ist er ein ästhetischer und ruhiger Ort des Rückzugs und Gedenkens im Anblick von Soldatengräbern, normalen Gräbern und dem Erinnerungsmal der ewigen Liebe, das Prof. Erhart besucht. Für Kommissar Brunfaut und seinen Freund und Kollegen Philippe ist der Friedhof ein versteckter konspirativer Ort.

Prof. Alois Erhart

Alois Erhart dürfte in ähnlichem Alter sein wie David de Vriend, diese beiden Figuren gehören als einzige im Roman der Generation der Alten an. Erhart ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre aus Wien. Er nimmt in Brüssel an dem Think-Tank 'New Pact for Europe' teil und hält dort das Eingangsreferat. Die Schilderungen der Sitzungen dieser Gruppe konzentrieren sich auf die Abläufe, an denen Erhart beteiligt ist. Dieser Handlungsstrang hat dadurch Verbindung zum Haupterzählstrang, dass im Referat von Erhart die Bedeutung von Auschwitz betont wird, so dass der Professor Menasses Ursprungsgeschichte der EU vertritt und die Gleichsetzung von Nationalgefühl und Nationalismus[8].

Prof. Erhart wird als älterer Herr mit traurigem, besorgtem Gesicht (vgl. S. 13) eingeführt. Als er vor dem Hotel Atlas Blaulicht sieht, denkt er sofort an einen Selbstmord: „Die Seele als schwarzes Loch, das alle Erfahrungen, die er ein Leben lang gemacht hatte, aufsaugte und verschwinden ließ, bis sich nur noch das Nichts ausdehnte, absolute Leere“ (S. 26). Im Gegensatz zu diesem momentanen Gefühl, hat er die Einladung zur Teilnahme am <New Pact for Europe> angenommen, weil er hofft, dort dazu beizutragen, die Gründungsideen der EU in Erinnerung zu rufen.

Erhart ist als unsportlicher Sohn des Inhabers eines Sportartikelgeschäfts in Wien aufgewachsen. Zwei prägende Ereignisse seiner Jugend sind für seine Auftritte in Brüssel von besonderer Bedeutung. Sein Vater hat ihm erfolgreich Verlässlichkeit als extrem wichtige Tugend eingebläut. So hält er aus dem Gefühl, Zusagen einhalten zu müssen, an seinem Referat fest, obwohl er schon bei der ersten Sitzung erkannt hat, dass er mit seiner Position auf verlorenem Posten steht. Sein Studium und sein späterer Werdegang haben sich an Prof. Armand Moens orientiert, einer von Menasse erfundenen Figur, der bereits in den sechziger Jahren aus volkswirtschaftlichen Gründen auf „die Notwendigkeit [...] eine Vereinte Europäische Republik zu gründen“ (S. 89) hingewiesen habe. Erhart referiert in seinem Vortrag Positionen von Moens und bekräftigt seine Argumentation sowohl durch empirische Belege als auch durch die Schilderung persönlicher Begegnungen mit Moens. Erhart hat dessen Aufforderung, seine Meinung mit existentiellem Einsatz zu vertreten, verinnerlicht. Sein Vortrag orientiert sich an dem Leitsatz von Moens, so zu schreiben, als wäre es der letzte Beitrag im Leben.

Bereits bei der einleitenden Diskussion im Think-Tank muss Erhart feststellen, dass sich die anderen Teilnehmer überwiegend an nationalen Interessen orientieren und die bestehende Krise der EU durch eine konsequentere Fortsetzung bisheriger Ansätze lösen wollen. Erhart geht angesichts dieser vorherrschenden Meinung auf Konfrontationskurs: „Das war ja das Gespenstische, dass in dieser Runde von Anfang an der Konsens geherrscht hatte, dass die Krise Europas nur mit eben den Methoden gelöst werden könne, die zu dieser Krise geführt hatte. More of the same“. (S. 258) Erhart äußert seine Kritik in heftigen Zwischenrufen. Nachträglich stellt er selbstkritisch fest: „Er hatte sich aufgeführt wie einer dieser antiautoritären Studenten, mit denen er vor vielen Jahren zu tun bekommen hatte.“ (S. 257)

Nach der Erkenntnis beim ersten Treffen der 'Reflection Group' - „Nie und nimmer würde er einen aus diesem Kreis überzeugen können“ (S. 301) - hat Erhart das Konzept seines Vortrags bewusst so geändert, dass der Vortrag als Provokation aufgefasst werden muss. Er sieht seinen Vortrag als Vermächtnis, da er danach seine Mitgliedschaft in der Gruppe aufkündigen will. Menasse lässt den Erzähler in auffallender Weise diesen Vortrag von Erhart bewerten als den „Vortrag, der im Grunde eine Rede über die Freiheit war. Über Befreiung. Zumindest eine Rede der Selbstbefreiung.“ (S. 342)

Erhart beginnt sein Referat damit, die Vorstellungen seines Lehrers Armand Moens zur EU zu erläutern, „dass wir etwas völlig Neues brauchen, eine nachnationale Demokratie, um eine Welt gestalten zu können, in der es keine Nationalökonomie mehr gibt.“ (S. 389) Erhart sieht sich als jemand, der die Wahrheit sucht und glaubt, sie gefunden zu haben. Aus dieser Position greift er die vorherrschende Meinung, die sich aus seiner Sicht an nationalen Interessen orientiert, frontal an: „Sie suchen nicht nach der Wahrheit, weil sie den Mainstream für den letzten Stand der Wahrheit halten.“ (S. 387).

Er plädiert für „die Herstellung von Rahmenbedingungen, die aus dem Europa konkurrierender Kollektive ein Europa souveräner, gleichberechtigter Bürger machen würde.“(S. 392) Gleichzeitig benennt er die gegen dieses Ziel stehenden Widerstände: „Aber das alles ist nicht durchsetzbar, solange das Nationalbewusstsein gegen alle historischen Erfahrungen weiter geschürt wird und solange der Nationalismus weitgehend konkurrenzlos ist als Identifikationsangebot an die Bürger.“ (S. 392) Als Identifikationsangebot und als „starkes Symbol für den Zusammenhalt“ (S. 392) fordert Erhart:“ Die Europäische Union muss eine Hauptstadt bauen, muss sich eine neue, eine geplante, eine ideale Hauptstadt schenken. […] Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt“ (S. 393f.). Erst mit seinen letzen Sätzen lässt Erhart die Katze aus dem Sack: „In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. 'Nie wieder Auschwitz' ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde.“ (S. 394)[9]

Die von der Figur des Prof. Erhart im Roman vertretene Vorstellung des zukünftigen Europa stimmt weitgehend überein mit der Position, für die der Autor Robert Menasse in Essays und Vorträgen wirbt. Es stellt sich die Frage, warum er ausgerechnet Prof. Erhart zu seinem Sprachrohr macht, der selbst weiß, dass seine Rede nichts bewirkt, der alt und ohne Einfluss ist, was satirisch geschildert wird[10] und - wie Martin Susman, der ebenfalls Menasses Position vertritt - am Ende bei dem Attentat umkommt. Beide sind tragische Figuren, die einerseits den Leser mit ihren Visionen einnehmen, andererseits aber an der politischen Realität scheitern.

Fenia Xenopoulou

Die überaus ehrgeizige und karrierebewusste Fenia gehört mit Ende 30 zur Gruppe der jüngeren EU-Beamten. Ihre Herkunft aus armen Verhältnissen gibt ihr die „glühende Energie, die oft jenen Menschen eigen ist, denen die Misere ihrer Herkunft ewig in der Seele brennt“ (S. 48). Als zypriotische Griechin gelingt es ihr aufgrund guter Schulleistungen und durch die Unterstützung ihrer Eltern, vor allem der Mutter, die Insel zu verlassen und in Athen zu studieren. Im Gegenzug erwartet die Familie finanzielle Zuwendungen durch den erhofften beruflichen Erfolg. Diese Erfahrungen führen schon früh bei ihr zu der Erkenntnis: „Liebe ist eine Fiktion“. (S. 143) Merkantiles Denken bestimmt auch ihre Ehe mit einem Athener Anwalt, der ihr ein sorgenfreies Studium ermöglicht (vgl. S. 148), während sie aufgrund ihres attraktiven Äußeren und ihres gewinnenden Charmes sein Prestige steigert, so dass für beide ein Nutzen entsteht. Als ihr Mann ihr lästig wird, lässt sie sich scheiden und widmet sich ganz der Karriere. Auch dabei setzt sie ihre weiblichen Reize gezielt ein, so denkt ihr Mitarbeiter Martin Susman während einer dienstlichen Besprechung: "[...]sie hatte einen schwarzen Rock an, mit einem diagonal verlaufenden Reißverschluss [...] als wäre ihr Schoß durchgestrichen! Und doch mit einem Mechanismus versehen, um ihn blitzschnell öffnen zu können!" (S. 183)

Nach dem Abschluss ihres Ökonomie-Studiums in London und Stanford (vgl. S.33) fällt sie „als hervorragender Teil eines perfekt funktionierendes Büros“ (S. 32) der Generaldirektion für Wettbewerb auf. Sie steigt auf ins Kabinett des Kommissars für Handel und wird von dort zur Leiterin einer Abteilung in der Generaldirektion für Kultur befördert, was sie selbst wegen der Bedeutungslosigkeit dieser Organisationseinheit als Karriereknick empfindet. Sie setzt alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein für einen Wechsel zum wichtigen Handels-Department. Zunächst hofft sie auf Hilfe durch Frigge, der die Generaldirektion für Handel leitet und damit sehr einflussreich ist und mit dem sie eine Affäre hat. Auch in dieser Beziehung zeigt sich ihr Nützlichkeits-Maßstab: “Er täuschte Begehren vor, sie täuschte einen Orgasmus vor. Die Chemie stimmte.“ (S. 35)

Im 'Jubilee Project' zum 50. Geburtstag der EU, das sie „rasch an sich zog“, sieht sie die „Chance, auf die sie gewartet hatte, um visibilité zu zeigen“. (S. 62) Allerdings schiebt sie die konkrete Arbeit an dem Projekt, das sie inhaltlich nicht wirklich interessiert, ihrem „Sherpa“ (S.62) Martin Susmann zu. Als das Projekt grandios scheitert, zeigt ihr Frigge einen Ausweg aus ihrer Misere; durch den Austausch ihres griechischen Passes gegen einen zypriotischen kann sie den Aufstieg in eine wichtigere Position erreichen, weil Zypern nicht genügend qualifizierte Leute hat, um die ihnen in der EU-Kommission zustehenden Posten zu besetzen. Dieser Vorschlag stürzt Fenia zunächst in Verwirrung; sie, die sich selbst als Pragmatikerin sieht und keine nationale Bindung an Griechenland oder Zypern hat, entwickelt Skrupel (vgl. S.427). Um ihrer Karriere willen entscheidet sie sich dann aber doch für den Wechsel, obwohl sie die Nationalität als Beschränkung ihrer Freiheit empfindet, gewissermaßen als den Appell: „Bleib, wo du bist!“ (S. 427) Ihre vorübergehenden Skrupel verdanken sich also nicht einem spät erkannten Nationalgefühl, sondern sind Ausdruck ihrer Aufsteigermentalität.

Fenia erscheint die Arbeit in der EU durchaus wichtig: „Sie glaubte wirklich, dass die Karriere, die sie vor sich sah, ihr Lohn dafür sein werde, dass sie an einer Verbesserung der Welt Anteil hatte.“ (S. 32f.) Dabei denkt sie an die Beseitigung von Handelsschranken und den fairen Welthandel. Mit ihren Vorstellungen ist Fenia weit entfernt von den Ideen der Gründerväter der EU, sie ist keine Idealistin oder Europa-Ideologin, sondern Pragmatikerin mit Aufsteigermentalität, die Herkunft und Generationenbindung hinter sich gelassen hat. Ihre Ablehnung des Nationalen verdankt sich ihrer Vorstellung von Europa als Reich der Freiheit, das durch Leistung entsteht.

Martin Susman

Der 38-jährige (vgl. S. 121) Österreicher entstammt einer katholischen Bauernfamilie. Er ist der jüngere Bruder von Florian, der nach dem Tod des Vaters den Hof übernommen und zu einem florierenden Betrieb für Schweineproduktion ausgebaut hat. Martins katholische Sozialisation zeigt sich darin, dass er als 20-Jähriger wegen eines dummen Witzes, den er über die Umstände beim Unfalltod seines Vaters gemacht hat, zur Beichte geht, weil ihn diese Schuld belastet. Im Gegensatz dazu sieht er als Erwachsener in der Existenz von Motten, die ins Licht fliegen, einen „Beweis, dass es keinen Gott gab, keinen Sinn in der Schöpfung, also keine Schöpfung“. (S. 245) Martin wurde als Kind in der Familie als ungeschickt, lebensuntüchtig und versponnen abgewertet, ihn beschäftigten die Bücher. „Schau nicht schon wieder ins Narrenkastl!, hatte seine Mutter gezischt, wenn er vor einem Buch gesessen und mit verlorenem Blick vor sich hin gestarrt hatte“ (S. 19), anstatt bei der Arbeit auf dem Hof zu helfen. Nach dem Tod des Vaters kann er mit seinem Erbteil Studium, Promotion und Berufsfindung bequem finanzieren, von seinem Studium der Archäologie, bleibt ihm ein tieferer Blick auf Spuren und Schichten des Vergangenen (vgl. S. 137 f.).

Martin macht Karriere und findet wie seine spätere Chefin Fenia Xenopoulou ohne nationale Quote eine Stellung bei der EU-Kommission im Ressort „Bildung und Kultur“; sie macht ihn für das 'Jubilee Project' „zu ihrem Sherpa, der die Last des Projektes schleppen sollte“ (S. 62).

In seinem Wesen und seiner Lebensführung erscheint Martin leicht depressiv, entscheidungsschwach und in praktischen Dingen ohne Initiative. So gestaltet er z.B. die Wohnung, in der er in Brüssel lebt, nicht zu einem wirklichen Zuhause, sondern sinniert über die merkwürdigerweise im ungenutzten Kamin vom Vorgänger zurückgelassenen Bücher. Er verachtet sich für seine Lebensuntüchtigkeit und Antriebslosigkeit, sei es in Bezug auf Veränderungen in der Wohnung, z.B. das Austauschen des Duschvorhangs gegen eine Trennwand (vgl. S. 65), sei es in Bezug auf seine Lebensführung (ungesunde Ernährung, Gewichtszunahme) oder seine Kleidung. „Er war jetzt 38 Jahre alt und noch immer nicht imstande, sich alleine, in einer Situation und ihren Anforderungen entsprechend , anzuziehen.“ (S. 121) Er legt wenig Wert auf Äußerlichkeiten und trägt Tag für Tag einen unauffälligen grauen Anzug, den seine Chefin Xeno in Gedanken „Maus-Kostüm“ (S. 181) nennt. Da ihn die Fahrt mit der Metro zur Arbeit deprimiert und er Angst vor Krankheitskeimen hat, schließt er sich der EU-Cycling-Group an und trifft seinen Kollegen und Freund Bohumil und die Büroleiterin Kassandra meist auf der gemeinsamen Fahrt ins Büro (vgl. S. 50).

Sein Bruder Florian, mit dem sich Martin notgedrungen bei dessen regelmäßigen Besuchen in Brüssel trifft, versucht ihn für seine Lobby-Arbeit zugunsten der europäischen Schweineproduzenten einzuspannen und verweist dazu auf seine Familienpflichten. Er fühlt sich dem jüngeren Bruder immer noch überlegen, was dieser klaglos hinnimmt.

Seine Dienstreise nach Auschwitz zur jährlichen Gedenkfeier für die Befreiung des Lagers tritt Martin widerwillig an und mit „Angst vor dem Schock, zu sehen, was unbeschreiblich war“. (S.135) Vor Ort aber macht er die Erfahrung: „[...] die Musealisierung tötet den Tod, und das Wiedererkennen verhindert den Schock des Erkennens.“ (S. 135f.) Viel mehr verstört ihn die makabre Normalität an diesem Ort: Getränkeautomaten der Firma „Enjoy“ und Müsliriegel, Besuchergruppen, sein Badge mit der Aufschrift „Guest of Honour in Auschwitz“ usw. Trotz der warmen „deutschen Unterwäsche“ (S. 108) gegen die Kälte friert er entsetzlich und kehrt krank nach Brüssel zurück. Innerhalb seiner fünf Genesungstage entwickelt er ein erstes Konzept für das Jubiläum.

Auschwitz hat ihn verändert. Gleich am ersten Arbeitstag verstößt er gegenüber den nach seinem Befinden fragenden Kollegen gegen die Konvention und gibt zu, dass es ihm nicht gut geht. Seine Projektidee „Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission“ (S. 182) vertritt er gegenüber Xeno kämpferisch, indem er auf die Gründungsdokumente verweist. Er argumentiert, das Jubiläum solle der Öffentlichkeit zeigen, dass die Kommission „vor allem auch die Hüterin des größeren und umfassenderen Schwurs [sei], dass sich ein europäischer Zivilisationsbruch wie Auschwitz nie wieder ereignen würde.“ (S. 265) Zeugen dieser Ursprungsidee der EU sollen die Überlebenden von Auschwitz sein, sie will er ins Zentrum der Feier stellen.

Die Suche nach diesen Überlebenden gestaltet sich als überaus schwierig, es gibt keine entsprechenden Dokumente und auch die Anfrage bei der Europäischen Statistik-Behörde ist nicht zielführend. Daher lässt Martin zunächst offen, ob die Feier mit einer größeren oder kleineren Gruppe von Shoa-Überlebenden stattfinden kann oder auch nur mit einem „exemplarischen Repräsentanten“ (S. 265). Auch als sein Bruder schwer verunglückt und Martin ihn mehrere Wochen tatkräftig pflegt und unterstützt (die Rollen haben sich vertauscht), arbeitet er weiter an dem Projekt, ohne zu ahnen, dass das Projekt inzwischen abgeblasen ist. Bei seiner Rückkehr nach Brüssel kommt er bei dem Bombenattentat um, gleichzeitig mit Xeno, Prof. Erhart und De Vriend, dem letzten Holocaust-Überlebenden.

Interessant ist, dass Menasse gerade Martin, den zunächst unauffälligen, pflichtbewußten, aber wenig ambitionierten EU-Beamten durch die Erfahrungen beim Besuch von Auschwitz eine Metamorphose erfahren lässt und ihn zu seinem Sprachrohr macht. Er lässt ihn für die Grundidee der EU kämpfen (S. 185ff.), die Menasse selbst in seinen Essays vertreten hat[11]. Der Verweis auf Jean Monnet und dessen angebliches Zitat:„'Alle unsere Anstrengungen sind die Lehre unserer historischen Erfahrung: Nationalismus führt zu Rassismus und Krieg, in radikaler Konsequenz zu Auschwitz.'“ (S. 266) entspricht jedoch ebenso wenig den Tatsachen wie der Bezug auf die angeblichen "Gründungsdokumente[n]" (S. 183) und die Behauptung, "der erste Kommissionspräsident [...] Hallstein [habe] seine Antrittsrede in Auschwitz gehalten." (S.266)

Kai-Uwe Frigge

Kai Uwe Frigge gehört zu den ranghohen Beamten der Europäischen Kommission. Er ist Kabinettschef in der Generaldirektion für Handel und „damit der einflussreiche Büroleiter von einem der mächtigsten Kommissare der Union“. (S.29) Schon im Prolog erfährt der Leser wichtige Charakterzüge seines Wesens. Er kommt z. B. nicht gern zu spät zu einem Termin, weil er sein Äußeres noch vorher auf der Toilette überprüfen und in Ordnung bringen will.

Frigge ist ein schlaksiger, wendiger Mann Mitte 40. Er stammt aus einer Lehrerfamilie aus Hamburg (vgl. S. 131). "Hanseatischer Internationalismus" hat ihn geprägt, ebenso wie die Werte, die in seinem Elternhaus wichtig waren. Dazu gehörte „Einsicht in die historische deutsche Schuld und ein großer abstrakter Anspruch auf Friede und Gerechtigkeit in der Welt, persönlicher Fleiß und Anstand, Misstrauen gegen Moden und Mainstream – das waren die Pflöcke, die seine Eltern eingeschlagen hatten“ (S. 131), heißt es im Roman und ist damit eine Betonung seiner Wertvorstellungen. Frigge ist schon seit 10 Jahren in Brüssel und lebt dort ohne eigene Familie mit einer Haushälterin.

Bei der Neuordnung der Europäischen Kommission hat er einen gewaltigen Karrieresprung gemacht, wobei der Erzähler offen lässt, ob das dem Zufall oder der geschickten Strategie von Seiten Frigges zu verdanken war. Wahrscheinlich war es beides, wie man aus der anschließenden fragmentarischen Darstellung seines beruflichen Werdegangs schließen kann, der mit einer Fahrt auf Schienen verglichen wird (vgl. S. 35). Er braucht nicht über sein Leben nachzudenken, es hat immer alles funktioniert, d.h. er hat immer funktioniert. Er hat den Ruf eines knallharten Pragmatikers, findet aber originelle Lösungen, damit der Aufwand, den er betreiben muss, um aus jeder Situation das Optimale herauszuholen, möglichst effizient und effektiv ist - „um beim Mitlaufen etwas weniger zu schwitzen oder beim Mitschwimmen etwas weniger nass zu werden.“ (S. 110) Auch die Tatsache, dass er montags seinen Dresscode für jeden Anlass der Woche durch seine Sekretärin festlegen lässt, aber selbst genau kontrolliert, was sie vorschlägt, und die Liste dann an seine Haushälterin weiter gibt, zeigt, wie wichtig es ihm ist, in jeder Situation passend aufzutreten. (vgl. die Anekdote einer Kommilitonin S.110). Er inszeniert sich erfolgrreich.

Spätestens hier wird die satirische Überzeichnung der Figur durch den Autor deutlich. Es drängt sich das Klischee des überkorrekten, pflichtbewussten Deutschen auf, was gleichzeitig zu einer gewissen Distanz des Lesers zu der Figur führt, obschon sie offensichtlich dem Anspruch des glänzend arbeitenden europäischen Beamten entspricht, wie Menasse ihn im „Europäischen Landboten“[12] beschrieben hat.

Beispielhaft wird an dem Verhalten Frigges die Arbeit der einzelnen Ressorts der Kommission dargestellt. Frigge versucht mit seinem Kollegen von der DG Agri (Directorate General forAgriculture und Rural Developement) George Morland, einem Briten, den Konflikt um den Schweinehandel zu lösen. Die DG Agri will die Subventionen für die Schweinemast kürzen, um den Preisverfall im Binnenmarkt zu stoppen (vgl. S. 128). Sie will den Binnenmarkt regulieren, bilaterale Verträge mit Drittstaaten, also den Außenhandel, aber in der Souveränität der einzelnen Staaten belassen. Die DG Trade, also Frigge, will die Schweineproduktion fördern und ein Mandat der EU erreichen, um für alle Mitglieder der EU den Export der Schweinefleischproduktion mit Drittländern, z. B. mit China, verhandeln zu können (vgl. S. 130).

In diesem Konflikt zeigt sich Frigge als überzeugter Europäer. Er bleibt dabei Pragmatiker und versucht mit Morland zu einem Kompromiss zu kommen. Er geht auf ihn ein und versucht ihn zu überzeugen. Dabei ist Frigge kein Idealist oder Visionär, hat aber feste Überzeugungen, und seine Logik folgt den Grundsätzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in denen der gemeinsame Außenhandel zu den Grundprinzipien gehört. Er ist der Auffassung, dass es durch Einzelhandelsverträge der Nationen, z.B. mit China, nicht nur zu einem größeren Preisverfall kommen würde, sondern auch die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten wachsen und Europa auseinander dividiert würde. „Es ist doch absurd, wenn die europäischen Staaten einen gemeinsamen Markt bilden, aber im Außenhandel keine Gemeinsamkeit herstellen.“ (S. 133) Zum Schluss des Gesprächs deutet Frigge gegenüber dem britischen Kollegen jedoch an, dass Deutschland in der nächsten Zeit einen bilateralen Vertrag mit China abschließen wird, wodurch England ins Hintertreffen geraten könnte. Frigge setzt sich für den gemeinsamen Außenhandel der EU ein, kann aber in dem genannten Beispiel offensichtlich nicht viel erreichen. Hier zeigt sich, wie das gemeinsame Handeln der EU-Staaten an eigenen und nationalen Interessen einzelner Beamter scheitert.

Romolo Strozzi

An dem Scheitern des 'Jubilee Projects' ist der Italiener Romolo (Augusto Massimo) Strozzi maßgeblich beteiligt. Er kann als Gegenbild zu dem korrekten, angepassten Deutschen Kai Uwe Frigge angesehen werden. Als Kabinettschef des Kommissionspräsidenten gehört auch er zu den ranghohen Beamten und sitzt an herausragender Stelle im Machtgefüge der Kommission.

Er ist der letzte kinderlose Spross einer alten italienischen Adelsfamilie. In seiner unangepassten Art gilt er in der Kommission als "'bunter Hund'"(S. 278), was, wie Fenia feststellt, schon in seiner Kleidung sichtbar wird. Seine Rede unterstreicht er wie ein Operettendirigent mit großer Gestik. Trotzdem wirkt er ehrfurcht- und respektgebietend. Er spricht mehrere Sprachen, so empfängt er Fenia z. B. in Altgriechisch (vgl. S. 279), überrumpelt sie mit seiner Bildung und verunsichert sie gezielt so sehr, dass er sie manipulieren kann.

Auch bei Strozzi kann man von einer satirischen Überzeichnung bestimmter Merkmale seiner Persönlichkeit sprechen. Er entspricht dem Klischee eines etwas sprunghaften, undurchsichtigen und theatralischen Südländers und erinnert Fenia an einen „barocken italienischen Grafen“ (S. 278). Mit ihm findet der komödiantische Ton, der den Roman z.B. auch mit der Schweinemetapher durchzieht, seine Fortsetzung. Strozzi ist mit dem Adel von Halbeuropa verwandt, und unter seinen Vorfahren befinden sich Vertreter aller politischen Richtungen. Während sein Großvater als faschistischer Kriegsverbrecher 1941/42 an Massenerschießungen beteiligt war, gehörte sein Vater dem Verhandlungsteam der italienischen Regierung an, die den Fusionsvertrag der Europäischen Gemeinschaft vorbereitete. Strozzi wird das Zitat „L’Europe, c’est moi!“ (S. 280) zugeschrieben. Er fühlt sich als Nachfahre einer schillernden Familientradition und berechtigt, die Macht, die er in seiner Position hat, in seinem Sinne einzusetzen. Ein europäischer Visionär oder Idealist ist er sicher nicht, aber ein Pragmatiker, der sich, wie das Zitat zeigt, als Europäer fühlt, und das, was ihm daran gefällt, zu nutzen weiß.

Erfahrung und Menschenkenntnis befähigen Strozzi dazu, sofort zu erkennen, dass es Fenia bei dem 'Jubilee Project' vor allem um ihre eigene Karriere geht, und es ist für ihn von Anfang an klar, dass er dieses Projekt zu Fall bringen wird. Strozzi kennt sich in Brüssel bestens aus und ist gut vernetzt. Um gegen das Projekt zu intervenieren, trifft er sich mit seinem Freund, dem Protokollchef des Präsidenten des Europäischen Rates, dem Ungarn Attila Hidegkuti. Bewusst umgehen die beiden die Zuständigkeit von Lars Ekelöf, dem Kabinettschef des Ratspräsidenten , „ein Hardcore-Lutheraner aus Schweden, dem der barocke italienische Graf naturgemäß unheimlich war. [...] und der jeden Kompromiss als Verrat an seiner Moral empfindet“ (S. 328).

Strozzi und Hidegkuti „hatten schon viele Probleme zwischen Kommission und Rat in feiner Abstimmung miteinander gelöst“. (S. 328) Sie sind beide der Ansicht, dass das 'Jubilee'-Konzept zu Konflikten vor allem mit dem Europäischen Rat führen würde, und setzen, um es zu stoppen, das Gerücht in die Welt, dass die Kommission unter dem Vorwand von Jubiläumsfeierlichkeiten einen Prozess einleiten wolle, der die Abschaffung der europäischen Nationen zum Ziele habe (vgl. S. 331). Dass auf dieser Basis kein Land dem 'Jubilee Project' zustimmt, ist verständlich und die Idee damit gestorben.

Ryszard bzw. Mateusz Oswiecki

Der Pole Oswiecki - im Roman meist Matek genannt - begegnet dem Leser erstmals im Prolog beim schnellen, aber zugleich bewusst unauffälligen Verlassen des Hotels Atlas, in dem kurz zuvor ein Mord geschehen ist. Obwohl sich keine explizite Textstelle finden lässt, muss der Leser Matek für den Mörder halten, der offenbar im Auftrag gehandelt hat.

Oswiecki hat weder seinen Großvater noch seinen Vater kennen gelernt. Sein Großvater starb vor der Geburt seines Vaters, so dass auch sein Vater seinen Vater nie kennen lernte. Die Väter waren jeweils Widerstandskämpfer, die Opfer ihrer Mission bzw. verraten wurden. Der Großvater kämpfte 1940 im polnischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer, der Vater erlebte 1956 den von sowjetischen Truppen niedergeschlagenen Aufstand, ging in den antikommunistischen Widerstand und wurde nach einer Sabotageaktion 1964 verraten, gefoltert und schließlich hingerichtet. Matek und sein Vater haben also ihre Väter nur indirekt durch Erzählungen oder eher noch durch Haltungen der Mütter den jeweiligen Kindsvätern gegenüber kennengelernt. „Die Polen, das war Mateks Lehre, hatten immer für die Freiheit Europas gekämpft, jeder, der in den Kampf eintrat, war im Schweigen aufgewachsen und kämpfte, bis er ins Schweigen einging.“ (S.23)

Mateks Mutter "vertraute auf den Schutz, den die Kirche gewähren konnte. [...]" und brachte ihren Sohn schließlich "bei den Schulbrüdern in Poznań unter“. (S. 23) Dort wurde er mit teilweise drakonischen Erziehungsmethoden (vgl. S. 23-25) sozialisiert. Seine religiösen Vorstellungen sind daher geprägt von Leiden mit masochistischen Zügen (vgl. S. 207), Opfer und Lebensabgewandtheit bzw. Todesnähe. Das geht bis zur völligen Verkehrung: „Im Grunde beneidete Mateusz Oswiecki seine Opfer. Sie hatten es hinter sich.“ (S. 25) Seine Religiosität ist auch geprägt von sexuellen bzw. erotischen Assoziationen (vgl. S. 116f.).

Seine Sehnsucht nach einer geborgenen Kindheit erfüllt sich ganz kurz, als er im Flugzeug nach Krakau in die Augen einer Frau sieht, die die Abschiebung eines Asylbewerbers verhindern will. Er empfindet "das Gefühl einer Geborgenheit, das er gekannt, aber vergessen hatte" (S. 125).

Mateks Weg von den Schulbrüdern zu den konspirativen Geheimdienstkreisen, denen er offenbar zur Zeit der Romanhandlung angehört, bleibt wie Vieles im Dunkel von Andeutungen und Verschwörungstheorien. Nach einer abenteuerlichen Katz-und-Maus-Episode zwischen Brüssel, Krakau, Warschau und Istanbul stirbt er bei einem Zugunglück auf dem Weg in die Zentrale des kirchlichen Geheimdienstes nach Poznán. Sein Sterben wird von ihm als etwas Schönes erlebt und mit einer "Frauenstimme" und dem „Gefühl von Geborgenheit“ (S. 398) verbunden. Vor seinem inneren Auge sieht er sich mit einem Drachen, den er steigen lässt und gegen Angreifer verteidigt und festhält, bis er seine applaudierende Mutter sieht und loslässt, „der Drachen stieg hinein in die Sonne, dorthin wo sie nicht mehr blendete, sondern tiefrot und schließlich schwarz wurde.“ (S. 399) Dieses Bild kann man deuten als Sterbeprozess, als Loslassen des Lebens.

Zur Frage nach der Funktion dieser Figur und des allein durch sie bestehenden Erzählstrangs mit Krimielementen und kruder Verschwörungstheorie ist darauf hinzuweisen, dass Matek für die Tradition des polnischen Widerstands steht, ein polnisches Narrativ verkörpert, aber auch für die generationale Tradition steht, ähnlich wie die Figuren de Vriend und Brunfaut. Durch Matek wird die extreme Fremdheit des polnischen Nationalismus und Katholizismus und die irritierende Verbindung von Religion und Politik bzw. von Kirche und Gewalt verdeutlicht. Die sowohl hier als auch im Erzählstrang des Brunfaut angesprochene Vernetzung des Vatikans über die ganze Welt wird vom Leser als unheimlich empfunden, kann aber auch als Karikatur der katholischen Kirche als weltweites Bespitzelungsnetzwerk verstanden werden.

Vielleicht soll durch die Figur des Matek und den dazu gehörigen Erzählstrang auf die fundamentalistischen Züge der Religiosität in Polen und den Nationalismus auch anderer osteuropäischer Mitgliedsländer verwiesen werden, für die die Grundideen der EU eher wenig Bedeutung haben.

Emile Brunfaut

Kommissar Emile Brunfaut leitet die Ermittlungen zum Mordfall im Hotel Atlas. Er wird als „Zwei-Meter-Mann“ (S. 98) beschrieben, muss deutlich über 50 Jahre alt sein und fühlt selbst, dass er alt zu werden beginnt (vgl. S. 80).

Brunfaut stammt aus Brüssel und liebt die Stadt, weshalb er auch deren negative Veränderungen, z.B. durch den Massentourismus, beklagt. Er ist der Sohn von Jean-Richard Brunfaut, der während des Zweiten Weltkriegs die Widerstandsgruppe 'Europe libre' gegen die Deutschen leitete (vgl. S. 355). Stärker als sein Vater bestimmen jedoch die Erinnerungen an seinen Großvater, Widerstandskämpfer im Ersten Weltkrieg, die Erinnerungen und das Denken von Emile Brunfaut. Er hat den Großvater als Kind gefürchtet und erst nach dem Tod der Eltern begonnen, „Respekt und Bewunderung für den Mann zu empfinden“ (S. 93); als Erwachsener besucht er jährlich am Todestag das Grab des Großvaters und weint sogar um ihn, dessen entschiedene Urteile ihm oft einfallen.

Dass Brunfaut für seinen Beruf geeignet ist, lässt sich bereits im 1. Kapitel erkennen, wo er als sehr aufmerksamer Beobachter gekennzeichnet wird, dem als einzigem der alte Mann am Fenster des Abbruchhauses gegenüber dem Hotel Atlas auffällt und der dann klare Anweisungen an seine Mannschaft gibt. Schon hier wird damit eine Verbindung zu David de Vriend hergestellt, den Brunfaut nicht kennen lernt, obwohl die beiden Figuren mehrfach am selben Ort, in dieser Szene sogar zur selben Zeit sind. Die Ermittlungen zum Mordfall werden bereits nach zwei Tagen auf „Weisung von höchster Stelle“ (S. 98) eingestellt, und der Kommissar stellt fest, dass ausnahmslos alle Unterlagen und Daten verschwunden sind, so dass der Mord, von dem auch keinerlei öffentliche Notiz genommen wurde, scheinbar niemals stattgefunden hat. Brunfaut wird in Urlaub geschickt und soll seine Überstunden abbauen.

Dieser Vorgang weckt Brunfauts Kampfgeist, denn er widerspricht seinem Berufsverständnis. „Er hatte einen seltsamen Gedanken: War das jetzt der Moment, wo er endlich zum Enkel [des berühmten Widerstandskämpfers] werden musste?“ (S. 100) Spätestens hier wird deutlich, dass der Autor durch das Motiv des politischen Widerstands die Figuren de Vriend, Matek und Brunfaut in einen Kontext bringt, den nur der Leser erkennen kann. Zur Bekräftigung der politischen Dimension hinterlässt der Kommissar auf der Flipchart in seinem Büro die Aufschrift: „La Loi, la Liberté!“ (S. 100)

Sein Widerstand wird befeuert durch die zur Panik gesteigerte Sorge um seinen Gesundheitszustand, der sich allerdings als weniger schlimm erweist als befürchtet und ihm nach drei Wochen die Rückkehr in den Dienst zu belanglosen Schreibtischtätigkeiten erlaubt. Insgeheim arbeitet er jedoch zusammen mit seinem besten Freund Philippe Gaultier, dem Leiter des EDV-Zentrums der Brüsseler Polizei, der für den offenbar allein stehenden Brunfaut zugleich Familie bedeutet, an der Ermittlung des Mordfalls bzw. dessen systematischer Vertuschung. Als Philippe ihn bei einem geplanten Treffen auf dem Friedhof versetzt, entsteht bei Brunfaut ein ihn sehr belastender Vertrauensverlust, in dem er selbst die von ihm stets gefürchtete „Déformation professionnelle“ (S. 337) erkennt. Wieder erinnert er sich an einen erst später von ihm verstandenen Satz seines Großvaters: „Wer die Freiheit liebt und wer die Wahrheit liebt, der verlernt zu lieben. (S. 336) Zwar klärt ihn Philippe bei einem späteren Treffen ausführlich über die Ergebnisse seiner Hacker-Ermittlungen auf, der Leser erlebt Brunfaut jedoch bei seinem letzten Auftreten im Roman als desillusionierten, schwer angeschlagenen, alten Mann. Als Drahtzieher des Mordes präsentiert ihm sein Freund die Nato, die „eine Art von Todesschwadron“ der katholischen Kirche beauftragt, „mutmaßliche Terroristen oder so genannte Hassprediger“ (S. 370) zu liquidieren - eine Verschwörungstheorie, von der nicht nur Kommissar Brunfaut „kein Wort“ (S. 372) glaubt, durch die aber die Handlungsstränge von Brunfaut und Matek eng miteinander verbunden werden. Beide Figuren sind in starke Machtstrukturen eingebunden, diesen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Der Liquidierung Mateks entspricht im Fall des Kommissars die von oben angeordnete Vertuschung des Mordes.

Europa?

Durch die satirisch klischeehafte Darstellung der einzelnen europäischen Beamten werden einerseits die Schwächen des Systems der EU-Kommission beleuchtet, die nicht zuletzt durch persönliche Prägungen und Eigeninteressen entstehen, gleichzeitig wird aber auch die Vielschichtigkeit, Komplexität und Internationalität der Behörde sichtbar und es zeigt sich, dass trotz aller Unterschiede in Kultur und Selbstverständnis die Idee eines gemeinsamen Europas als Basis der Arbeit und als Zusammenhalt noch existiert. Dass aber alle Anstrengungen, diese Idee zu fördern und wieder zu beleben, scheitern, unterstreicht die Krise, in der das Projekt Europa steht.

Nach der Analyse der einzelnen Hauptfiguren des Romans lässt sich feststellen, dass nur zwei der insgesamt sieben Protagonisten, nämlich Erhart und Susman, als glühende Verfechter der europäischen Idee anzusehen sind. Sie sind Vertreter unterschiedlicher Generationen und ihr kämpferischer Einsatz für ihre Vorstellung von Europa speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Während Erhart seine Position ökonomisch begründet und ganz auf der Basis wissenschaftlicher Theorie argumentiert, motiviert gerade den eine Generation jüngeren Susman die Erfahrung der Geschichte. Sein Besuch in Auschwitz gibt den entscheidenden Anstoß für seine Arbeit am 'Jubilee-Project'. Möglicher Weise befördert sein Archäologie-Studium das Denken in historischen Dimensionen.

Bei den übrigen Figuren aus dem Kreis der EU-Beamten sind ebenfalls Zusammenhänge zwischen ihrer Biographie und ihrer Einstellung zu Europa erkennbar. Die Motivation für ihre Arbeit bei der EU entspringt ihrem Ehrgeiz, ihrem Streben nach Erfolg und Karriere. Dies gilt besonders für Fenia Xenopoulou, für die Europa die Freiheit zu gesellschaftlichem Aufstieg und Selbstverwirklichung durch Leistung bedeutet. Kai-Uwe Frigge verkörpert Perfektionismus und Pragmatismus in seiner erfolgreichen Arbeit für die EU. Strozzi ist gewissermaßen durch seine Herkunft dazu prädestiniert, eine Position mit Macht und Einfluss auszufüllen, und tut dies anscheinend mit Gelassenheit und Vergnügen. Auch er erscheint aber nicht als idealistischer Kämpfer für die europäische Idee, sondern als routinierter Pragmatiker und Fädenzieher. Allen Figuren aus dem Spektrum der EU-Beamten gemeinsam ist ihre ausschließlich auf die Arbeitswelt konzentrierte Lebensweise in Brüssel. Sie leben allein in unpersönlichen Umgebungen, isoliert von Familie, Freunden und Heimat. Je nach Dauer ihrer Zugehörigkeit mag sich in ihnen das „Gefühl, hier irgendwie zwischen vielen Welten zu Hause zu sein“ (S. 66) entwickeln.

Einen skeptischen Ausblick in die weitere Entwicklung der EU-Arbeit gibt Fenias Mitarbeiter Bohumil, wenn er über junge Kollegen spricht: „Das ist die neue Generation bei uns, […] keine Europäer, sondern einfach Karrieristen in den europäischen Institutionen, sie sind wie Salamander, man kann sie ins Feuer werfen, aber sie verbrennen nicht, ihr Hauptmerkmal ist ihre Unzerstörbarkeit.“ (S. 150) Verglichen mit den 'Salamandern' erscheinen die im Zentrum des Romans stehenden Figuren wohltuend menschlich und durchaus individuell gestaltet.

Erzähltechnik und Leserlenkung

Das Personal-Tableau des Romans wirkt auf den Leser insgesamt recht vielfältig und lässt vor allem keine eindeutige oder gar einseitige Parteinahme für eine bestimmte Richtung erkennen, in die Europas Zukunft sich entwickelt. Stattdessen wird der Leser herausgefordert, selbst einen Standpunkt in der Krise Europas zu finden. Dabei kann er sich wohl kaum an einer der Romanfiguren orientieren in dem Sinne, dass er eine Identifikationsfigur bzw. einen Sympathieträger findet. Dazu weisen sie alle zu starke Anteile an negativen bzw. abschreckenden Eigenschaften auf.

Eine letzte Steigerung erfahren die Orientierungsprobleme des Lesers durch den Romanschluss: vier der Hauptfiguren, darunter drei aus dem unmittelbaren Umfeld der EU-Thematik (Fenia, Martin und Erhart), sterben bei einem Bomben-Anschlag auf die Brüsseler Metro-Station Maelbeek. Menasse greift die am 22. März 2016 in Brüssel verübten Terroranschläge auf und gibt seinem Europa-Roman damit aktuellen Zündstoff und dem Leser ein Problem mehr mit auf den Weg. Einen weiteren aktuellen Bezug zu den Konflikten Europas stellt der Autor dadurch her, dass der Flüchtlingszug auf der ungarischen Autobahn im Roman vorkommt (vgl. S. 221 f.), allerdings nur als Auslöser für den schweren Autounfall des Bruders von Martin Susman.

Dass die Probleme des islamistischen Terrors und die Flüchtlingskrise im Roman nur ganz am Rande vorkommen, ist von der Literaturkritik[13] negativ beurteilt worden. Man mag hierin das Bemühen um eine nur vordergründige Aktualität oder sogar eine absatzfördernde Strategie sehen. Andererseits hätte die Behandlung dieser Themen das Konzept des Romans gesprengt, insofern er zur Auseinandersetzung über das Fundament und die grundsätzliche Richtung Europas anregen will. Diese Absicht würde auch erklären, dass Menasse anders als in seinen Sachtexten zum Thema den Leser nicht einseitig zu überzeugen versucht, sondern mit dem Mittel der Literatur überhaupt erst die Beschäftigung mit Europa initiieren will.

Erzählperspektive

Das Interesse der Leser an Europa zu wecken gelingt Menasse u.a. durch die Gestaltung der Erzählperspektive. Das Geschehen wird ganz überwiegend aus der personalen Perspektive bzw. in interner Fokalisierung[14] erzählt, d.h. wir sehen mit den Augen der Figuren und können deren Empfinden und Denken nachvollziehen. Der Erzähler ist selbst nicht Teil der erzählten Welt, sondern spricht in der dritten Person über die Figuren, was dazu führt, dass eine Distanz zwischen Leser und Figur erhalten bleibt. Der als Figur im Text kaum wahrnehmbare Erzähler verfügt nicht über uneingeschränkte Informationen, wie es bei einem auktorialen bzw. allwissenden Erzähler der Fall ist; so weiß der Erzähler z.B. nicht, wer der Mörder aus dem Hotel Atlas ist oder was es mit dem mysteriösen Schwein auf den Straßen Brüssels auf sich hat. Diese Eingeschränktheit bei gleichzeitiger Kenntnis des Innenlebens der Figuren erlaubt dem Leser eine seiner eigenen Lebenserfahrung sehr ähnliche Haltung. Durch den häufigen Wechsel zwischen den Perspektiven der verschiedenen Figuren, aus deren Blickwinkel jeweils erzählt wird, wird der Leser immer wieder aus der Einfühlung in eine Figur herausgerissen und muss sich stattdessen auf ganz verschiedene Sichtweisen einlassen.

Jenseits dieser den Leser in den Strudel der verschiedenen Blickwinkel ziehenden Erzählweise finden sich an wenigen Stellen jedoch auch deutliche Zeichen eines Erzählers, der mehr weiß als alle seine Figuren und den Leser führen kann, wenn er denn nur wollte. So heißt es beispielsweise in einer aus Brunfauts Sicht erzählten Passage: „Émile Brunfaut war ein poetischer Mensch. Er wusste es nur nicht, weil er wenig las. […] Aber da unterschätzte er sich.“ (S. 363)

Eine ähnliche Stelle findet sich zu Prof. Erhart, dessen Gedanken kurz vor Beginn der Sitzung erzählt und dann mit folgendem Satz abgeschlossen werden: „Seltsam, dass Alois Erhart, dieser im Grunde seines Herzens so glücklich konservative Mensch, in dieser Runde zum traurigen Revolutionär werden sollte.“ (S. 194) Hier wird der Erzähler nicht nur als wertender Kommentator der Figur sichtbar, sondern er weckt auch Spannung. Diese antizipierende Erzählweise, die Erwartungen des Lesers steuert, findet sich auch an anderen Stellen, z. B. bei einem Abschnitt über Kommissar Brunfaut: „Es sollte tatsächlich der Tag werden, an dem er Abschied nehmen musste.“ (S. 80) Bei der Schilderung dieses Abschiedes begibt sich der Erzähler sogar auf eine Metaebene, indem er das Erzählen selbst thematisiert: „Der Algorithmus, der alles Mögliche filtert und auch das bisher Erzählte geordnet hat, ist natürlich verrückt – vor allem aber ist er beruhigend: Die Welt ist Konfetti, aber durch ihn erleben wir sie als Mosaik.“ (S. 100) Man könnte meinen, dass uns hier der Autor Sinn und Zweck der den Roman kennzeichnenden perspektivischen Gestaltung verrät.

Ironie, Satire, Witz

Trotz des ernsthaften politischen Themas kennzeichnet Menasses Roman eine zum Teil humorvolle und damit heitere Erzählweise, die an vielen Stellen satirische Züge hat. Dies soll beispielhaft am Schweine-Motiv verdeutlicht werden.

Das im Prolog in der Brüsseler Innenstadt frei umher laufende Schwein erscheint zunächst als ausgefallener Trick zur Exposition mehrerer der Hauptfiguren, lässt den Leser aber ahnen, dass es auch im Verlauf der Romanhandlung eine Rolle spielen wird.

Dies bestätigt sich erstmals im zweiten Kapitel: Martin Susman trifft zum Abendessen seinen älteren Bruder Florian, der den väterlichen Hof zum Großbetrieb für Schweinezucht entwickelt hat, als „Präsident […] von 'The European Pig Producers'“ (S. 70) den jüngeren Bruder unter Hinweis auf Familienpflichten zur Unterstützung seiner Lobbyarbeit benutzen will und selbstverständlich „Schwein in Kirschenbier“ (S. 73) isst, allerdings ohne davon etwas zu schmecken. Letzteres zählt zu den leicht zu übersehenden Witzen, z.B. auch bei Fenia, die wenige Minuten vor ihrem Tod überlegt, im Café „ Het Lachende Varken“ (S. 428) noch etwas zu trinken, wobei dem Leser hier das Lachen schnell im Halse stecken bleibt. Heiterer ist da schon der Hinweis auf die Verwechslung des Kürzels EPP, das sowohl die europäischen Schweineproduzenten als auch die „European People’s Party“ (S. 75) [1] verwenden, wodurch Menasse eine Pointe setzt.

Im fünften Kapitel bietet das Schwein den Anlass für eine Mediensatire, die Menasse offenbar so wichtig ist, dass er den Epilog ganz dem Abschluss dieses Themas widmet. Das „in kürzester Zeit zum Medienstar“ (S. 172) avancierte Schwein wird nämlich „in den Köpfen einer verantwortungslos verunsicherten Bevölkerung […] eine hysterische kollektive Projektion“ (S. 174). Dafür haben sowohl Facebook als auch die Zeitung 'Metro' gesorgt, in der Professor Kurt van der Koot eine „fixe Kolumne“ (S. 319) schreibt und „Namensvorschläge an die Redaktion“ (S. 320) erbittet.

Wie im Prolog so dient das Schwein auch im Hauptteil u.a. als Bindeglied zwischen den zentralen Figuren. So lässt Kommissar Brunfaut in Ermangelung anderer Anhaltspunkte „die Identität des Schweins herausfinden“ (S. 82) und beauftragt seinen Freund Philippe das sichergestellte Gen-Material des Schweins „mit der von allen Schweinen, die in der Europol-Datenbank registriert sind“ (S. 201) abzugleichen. Das Schwein rächt sich später, indem es den Kommissar, der ausgerechnet auf dem Friedhof gespannt auf ein konspiratives Treffen mit einem Informanten wartet, zu Fall bringt, so dass er mit „einem stechenden Schmerz vom Steißbein hinaus in den Rücken“ (S. 313) für Tage gestraft ist.

David de Vriend lernt im Altersheim Romain Boulanger kennen, der im Ruhestand als freier Autor „die Geschichte mit dem Phantomschwein“ (S. 227) für die Zeitung schreibt. Während eines Mittagessens im Lokal erklärt der alte Mann einem kleinen Mädchen die Bedeutung der vier chinesischen Zeichen ihres Klebetattoos folgendermaßen: „Alle […] Menschen […] sind […] Schweine“ (S. 384).

Romolo Strozzi sieht vor einem Straßencafé einen Menschen „in einem grotesken Schweinekostüm“ (S. 322), der Werbung für eine Metzgerei macht. Als Kabinettschef des EU-Präsidenten steht er über den Konflikten der verschiedenen Abteilungen der Kommission. Deren "Kompetenzstreit beruhte darauf, dass das Schwein eine Querschnittsmaterie war" (S. 129).

Die Rolle des Schweine-Motivs auf der großen europapolitischen bzw. marktwirtschaftlichen Bühne wird deutlich in den Verhandlungen zwischen Frigge und seinem britischen Verhandlungspartner George Morland. Letzterer, der zu seinem Pech auch noch Ähnlichkeit mit einem Schwein hat[15], torpediert aus Ärger über seine Niederlage im Kampf gegen einen „Gemeinschaftsvertrag der Union mit China“ (S. 378) das 'Jubilee-Project' der EU-Kommission und trifft damit besonders die Mitarbeiter der Abteilung für Kommunikation, also Fenia Xenopolou und ihre Mitarbeiter sowie die Leiterin Mrs. Atkinson, deren Position er gerne selbst gehabt hätte (vgl. S.379). Die Arbeit der beiden wichtigen Abteilungen Handel und Landwirtschaft endet schließlich ironischer Weise damit, dass die „EU […] Stilllegungsprämien für Schweinezüchter“ (S. 437) zahlt, während Deutschland und die Niederlande jeweils zu ihrem Vorteil bilaterale Handelsverträge mit China abschließen können.

Im Rahmen der Mediensatire wird die Zeit bis zum Einsendeschluss der Namensvorschläge für das Schwein mit „der Serie 'Das Schwein als universelle Metapher'“ (S. 320) gefüllt. In der recht breit wiedergegebenen Zusammenfassung der Serie (vgl. S. 320f.) wird der Leser nicht nur unterhalten, sondern erhält mutmaßlich auch Einblick in die Überlegungen des Autors Menasse, die zur Wahl des Schweins als Leitmotiv für den Roman geführt haben.

Rezensionen (Auswahl)


Anmerkungen

  1. Inzwischen hat der Autor zugegeben, dass er Hallsteins angebliche Rede in Auschwitz entsprechend den eigenen Wunschvorstellungen von Europa erfunden hat.
  2. vgl. die Angaben zu Rezensionen
  3. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Robert Menasse, Die Hauptstadt, Berlin 2017
  4. Vgl. Paul Celan, Die Todesfuge – „wir schaufeln ein Grab in den Lüften … läßt schaufeln ein Grab in den Lüften“
  5. Nachdem Zweifel an Menasses Darstellung aufgekommen waren, räumte der Autor gegenüber der Welt schließlich ein, nicht nur die angebliche Auschwitz-Rede Hallsteins, sondern auch dessen Äußerungen über die Abschaffung der Nationalstaaten erfunden zu haben.https://www.welt.de/print/welt_kompakt/debatte/article186192052/Menasses-Co-Autorin-sagt-sie-wusste-nichts-von-falschen-Zitaten.html
  6. „Er schloss sich im Juni 44 als Jüngster der Widerstandsgruppe <Europe libre> an, das war die Gruppe um Jean-Richard Brunfaut“. (S. 355) Hierdurch wird ein Zusammenhang zu Kommissar Emile Brunfaut, dem Sohn dieses Widerstandskämpfers, hergestellt.
  7. „David de Vriend wurde im August 44 verraten, verhaftet und nach Auschwitz deportiert.“ (S. 355)
  8. vgl. das am 06.01.2019 in der WELT veröffentlichte Interview mit Aleida Assmann
  9. vgl. Fußnote 5
  10. vgl. die Art, wie Erhart sich an seine altmodische Tasche klammert
  11. vgl. Ulrike Guérot/Robert Menasse, Es lebe die europäische Republik! in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. März 2013
  12. a.a.O. S. 21 ff.
  13. z.B. Andreas Isenschmid in der ZEIT (vgl. die Übersicht der Rezensionen)
  14. Eine hilfreiche Darstellung der verschiedenen Theorien bzw. Begriffe zu diesem Thema findet sich z.B. bei: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, Trier 2004
  15. „Sein rundes, rosafarbenes Gesicht, seine platte Nase“ (S. 377)