J. M. Coetzee, Schande (von Ursula Collas)

Aus Literarische Altersbilder


Biografie

John Maxwell Coetzee wurde am 9. Februar 1940 in Kapstadt in Südafrika geboren. Er ist burischer und englischer Abstammung. Sein Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter Lehrerin. Er besuchte eine evangelische Schule, seine Muttersprache ist Englisch. In Kapstadt studierte er Literatur und Mathematik.

Zu Beginn der 60er Jahre siedelte er nach England über, wo er zunächst als Computerprogrammierer arbeitete. Drei Jahre später ging er in die USA. Er studierte Literaturwissenschaft und promovierte über Samuel Beckett. Bis 1983 lehrte er an der State University von New York in Buffalo Literatur und Englisch.

1984 kehrte er nach Südafrika zurück, um an der Universität Kapstadt Literaturwissenschaft zu lehren. Im Gegensatz zu Nadine Gordimer war er in der Zeit des Apartheidregimes nicht politisch aktiv, sondern versuchte, mit seinen Büchern politische Überzeugungsarbeit für eine Beteiligung der Schwarzen an der Macht zu leisten.

1999 erschien sein berühmtester Roman „Schande", in dem die Tochter eines weißen Literaturprofessors von drei Schwarzen vergewaltigt wird. Dies brachte ihm bei den Schwarzen Kritik und den Vorwurf des Rassismus ein, weil Schwarze in dem Roman als Täter dargestellt werden. Wenig später verließ Coetzee Südafrika. Er lebt seit 2002 in Adelaide in Australien und lehrt dort sowie an der Universität von Chicago Literaturwissenschaft.

Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet: als einziger Schriftsteller bekam er zweimal den wichtigsten britischen Literaturpreis, den Booker-Preis. 2003 wurde ihm für den Roman „Schande" der Literaturnobelpreis verliehen.


Wichtigste Werke

Im Herzen des Landes (1977)

Warten auf die Barbaren (1980)

Leben und Zeit des Michael K. (1983)

Der Meister von Petersburg (1994)

Der Junge. Eine afrikanische Kindheit (1997)

Schande (1999)

Die jungen Jahre (2002)

Elisabeth Costello (2003)


Inhaltsangabe

David Lurie, 52, ist Universitätsprofessor für Literatur und Kommunikationswissenschaften in Kapstadt und lebt nach zwei gescheiterten Ehen allein. Er besucht regelmäßig eine Prostituierte. Als er versucht, mehr von ihr zu erfahren und in ihr Privatleben einzudringen, beendet sie den Kontakt.

Eine kurze, nur auf seiner Seite leidenschaftliche Affäre mit Melanie Isaacs, einer seiner Studentinnen, die die junge Frau in eine Krise stürzt, führt zu seiner unehrenhaften Entlassung von der Universität. Ganz besonders wird ihm zur Last gelegt, dass er zwar sein Vergehen unumwunden zugibt, sich aber – selbstgefällig und überzogen selbstsicher – weigert, Reue zu zeigen. Er sieht sich als Diener des Gottes Eros.

Er fährt zu seiner erwachsenen Tochter aus erster Ehe. Lucy betreibt weit entfernt von Kapstadt in der Provinz eine kleine Farm. Seit der Trennung von einer Freundin, mit der sie eine gleichgeschlechtliche Beziehung hatte, lebt sie allein. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit dem Verkauf von Blumen und Gemüse und mit einer Hundepension für Wachhunde. Sie hat einen Farmhelfer, Petrus, der sich selbst als „Gärtner und Hundemann" bezeichnet. Ihre engsten Freunde sind das Ehepaar Bev und Bill Shaw, die eine private Tierklinik betreiben und wie Lucy leidenschaftliche Tierschützer sind.

Während seines Aufenthaltes verschaffen sich eines Tages unter einem Vorwand drei junge Schwarze Zutritt zur Farm und vergewaltigen Lucy. David, den sie eingesperrt haben, ist nicht in der Lage, sich zu befreien und ihr zu helfen. Die Täter verletzen auch David, sie töten die Hunde und verlassen die Farm mit Davids Auto. Petrus ist zum Zeitpunkt des Überfalls verreist.

Lucy erholt sich psychisch und physisch nur langsam von dem Überfall, weigert sich aber, die Farm aufzugeben. Als sich herausstellt, dass sie schwanger ist, versucht David erneut, sie zum Verlassen des Landes und zu einem neuen Leben in den Niederlanden oder anderswo zu bewegen. Aber Lucy nimmt ihr Schicksal in Demut an: sie sieht in der Aufgabe ihrer Unabhängigkeit den Preis dafür, auf dem Stück Land bleiben zu dürfen, das sie liebt. Ihr Status verändert sich radikal: Sie begibt sich und ihr ungeborenes Kind unter den Schutz ihres ehemaligen Helfers Petrus, den sie heiratet und dem sie die Farm übereignet. All dies, obwohl einer ihrer Peiniger ein entfernter Verwandter von Petrus ist.

David kehrt nach Kapstadt zurück und findet seine Wohnung geplündert und verwüstet. Er sucht Melanies Familie auf und wird dort gastfreundlich empfangen. Bei diesem Besuch bittet er um Verzeihung für das, was er Melanie und ihrer Familie angetan hat.

Er versucht noch, die Arbeit an einer Oper über Byron in Italien zu beenden, scheitert aber damit.

Zurück auf der Farm, übernimmt er untergeordnete Arbeiten: er wird Petrus’ „Hundemann" und Assistent von Bev Shaw. Bis zur Geburt des Kindes will er bei seiner Tochter bleiben. Am Ende des Romans gibt er die letzte Macht auf, die er besitzt: das Leben seines todgeweihten Lieblingshundes zu verlängern.

Einführung in die verschiedenen Ebenen

Macht und Ohnmacht sind das zentrale Thema des Romans. David Lurie übt zunächst in vielfältiger Beziehung Macht aus und erfährt nach und nach auf allen Ebenen Ohnmacht: in seinen sexuellen Beziehungen, im Beruf und in seiner sozialen Stellung, in der Beziehung zu seiner Tochter, auf der politischen Ebene im Zusammenleben mit den Schwarzen, sogar im Umgang mit den Hunden und zuletzt in seinem Projekt der Byron-Oper.

Zu Beginn des Romans ist er ein selbstgefälliger Mann, der rücksichtslos seine Machtposition als Professor ausnutzt und eine Affäre mit einer seiner Studentinnen beginnt. Am Ende gibt er freiwillig alle Macht ab, nimmt eine untergeordnete Arbeit als ‚Hundemann’ beim ehemaligen Farmhelfer seiner Tochter an - und kommt erst damit dem Bild des „besseren Menschen" (S. ???) näher, das seine Tochter für sich und auch für ihren Vater für erstrebenswert hält.

Sicher nicht zufällig hat Coetzee seine Hauptfigur „David" genannt: David Lurie gewinnt seinen Kampf gegen den „Goliath" Luzifer in sich. Luzifer ist der in Ungnade gefallene Engel: im Original heißt das Buch „Disgrace", das bedeutet im Englischen nicht nur Schande, sondern auch Ungnade.

Schon zu Beginn des Romans gibt es Hinweise darauf, wie groß der Einfluss des ‚Luziferischen’ in Davids Leben ist: „Wenn er sich ein Totem wählen müsste, würde es die Schlange sein." (S. 7) Er entscheidet sich also für das Symbol der Versuchung und des Teufels. Das erste Buch, das er veröffentlicht hat, handelt von der Entstehung des Mefistofele in der Faust-Sage (S. 9). Nachdem er Melanie quasi vergewaltigt hat, untersucht er mit den Studenten die Rolle des Luzifer in Byrons Gedicht „Lara": „Gut oder böse, er tut es einfach. Er handelt nicht nach einem Prinzip, sondern impulsiv..." (S. 45): Luzifer als rücksichtsloser Verführer, genau wie er selbst. Nach Luries Interpretation will die Opernfigur Byron für Luzifer Mitleid und Verständnis wecken, was diesem aber nicht gewährt wird. Lurie identifiziert sich mit Luzifer. Daher lässt er ihn durch Byron in ein positiveres Licht setzen.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist die Vergewaltigung von Davids Tochter Lucy, die eigentliche „Schande". Sie ist wie ein Strudel, der alles durcheinander wirbelt und die Figuren in den Abgrund zieht, aus dem sie sich – nur äußerlich geschwächt - befreien, um als „bessere Menschen" ( ....) weiterzuleben. Während des Überfalls ist nicht nur Lucy hilflos, auch David erlebt elementare Machtlosigkeit, als er gefangen gesetzt wird und nicht in der Lage ist, sich zu befreien und seiner Tochter zu helfen. Er verbindet diese Ohnmacht mit seinem Alter: „Zum ersten Mal hat er einen Vorgeschmack davon, wie es sein wird, wenn er ein alter Mann ist, erschöpft bis in die Knochen, ohne Hoffnungen, ohne Wünsche, gleichgültig der Zukunft gegenüber." (S. 139)

Das Alter(n) des Protagonisten ist ein weiteres zentrales Thema des Romans. Alle drei Arten der Alterstopologie finden sich: Altersklage, Altersspott, Alterslob. In den einzelnen Kapiteln und am Ende des Textes wird darauf verwiesen.



1. Sexuelle Ebene

David Luries Sexualität erscheint zunächst problemlos, die Wortwahl im ersten Satz des Romans deutet allerdings das Gegenteil schon an: „Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff" (S. 1). Er hat zwei gescheiterte Ehen hinter sich und verliert auch die Prostituierte Soraya, als er die Beziehung zu ihr vertiefen will. Die Schönheit seiner Studentin Melanie zieht ihn an, er genießt ihren Körper: „Es ist keine Vergewaltigung, nicht ganz, aber doch unerwünscht, gänzlich unerwünscht."(S. 35). Anschließend sieht er sich zum ersten Mal mit schwerwiegenden Folgen konfrontiert, als Melanie ihr Studium aufgibt, ihr Vater ihn anklagt und die Universität ihn entlässt. „Schande" bezieht sich auch auf diesen Vorgang. Er empfindet sich im höheren Sinne als unschuldig. Er habe dem Gott Eros gedient: „Meine Argumentation stützt sich auf das Recht zu begehren, ... auf den Gott, der selbst die kleinen Vögel erzittern lässt." (S. 116) Seine zweite Frau Rosalind spricht eine deutliche Sprache: „Darf ich dir sagen, was für eine klägliche Figur du dabei abgibst? ... Kläglich und auch hässlich. Glaubst du, irgendein junges Mädchen hat Spaß daran, mit einem Mann dieses Alters ins Bett zu gehen?" (S. 59)

Die wenig später stattfindende Vergewaltigung seiner Tochter bedeutet einen Perspektivwechsel; diesmal ist er nicht Täter, sondern Mit-Opfer. Damals hat er Reue abgelehnt, erst nach der Vergewaltigung seiner eigenen Tochter bittet er Melanies Vater aufrichtig um Verzeihung. Das Begehren verlässt ihn aber nicht einmal in dieser Situation: Melanies Schwester Desiree ist noch schöner als diese. Aber er ist schon selbstkritischer geworden und stellt sich jetzt deren Gedanken vor: „Das ist also der Mann, mit dem sie es getan hat! Dieser alte Mann!" (S. 221)

Den Sex mit Bev Shaw, der Hundeschützerin und Freundin seiner Tochter Lucy, empfindet er dann als Abstieg: „Diesen Tag darf ich nicht vergessen, sagt er sich, neben ihr liegend, als alles vorbei ist. Nach dem süßen Fleisch von Melanie Isaacs bin ich jetzt so weit gekommen. Daran muss ich mich gewöhnen, daran und an noch Geringeres als das." (S. 195) Dabei war die Anziehungskraft, die er auf Frauen ausübte, früher „das Rückgrat seines Lebens" (S.13). Als er sich zum ersten Mal über sein Alter beschwert, beklagt er sich über das Nachlassen seiner Wirkung auf Frauen: „Und dann war eines Tages alles vorbei. Ohne Vorwarnung wich seine Anziehungskraft von ihm... . Über Nacht wurde er zum Gespenst. Wenn er eine Frau haben wollte, musste er sie verfolgen lernen; oft musste er sie auf die eine oder andere Art kaufen."(S. 13).

Am Ende hat er resigniert: „Ein Großvater. Ein Joseph. Wer hätte das gedacht! Welches hübsche Mädchen wird wohl mit einem Großvater ins Bett gehen?" (S. 281). Aber er findet auch zu einer gewissen Altersweisheit: „Ihm fehlen die Tugenden der Alten: Gleichmut, Freundlichkeit, Geduld. Aber vielleicht kommen ja diese Tugenden, während andere sich verabschieden: die Tugend der Leidenschaft zum Beispiel." (S. 282)

Auf dieser Ebene finden wir alle drei Topoi: Altersklage, Altersspott und Alterslob.


2. Berufliche Entwicklung

Zu Beginn des Romans ist David Lurie Universitätsprofessor. Unzufrieden mit der Studienreform im neuen Südafrika nach der Apartheid muss er sich mit einem neuen Gebiet - Kommunikationswissenschaften – beschäftigen. Er ist frustriert und fühlt sich von den neuen Medien überholt. Machtverlust auch auf dieser Ebene, ebenso wie Altersklage.

Sein eigentliches Spezialgebiet ist die Dichtung der Romantik. Er arbeitet über den Naturdichter William Wordsworth, über Mefistofele – und plötzlich wird aus der Theorie Realität: er sündigt und stürzt ab – wie Luzifer.

Bei seiner Tochter auf dem Land, in der Natur erlebt er den Wendepunkt seines Lebens: Lucys Schicksal macht ihn später zum Handlanger des ehemaligen Farmhelfers Petrus und zum Assistenten von Bev Shaw, der er beim Töten und Verbrennen der überflüssigen und kranken Hunde hilft, zum „Hundemann", als den sich früher Petrus bezeichnete. Erst wundert er sich: „ Seltsam, dass ein Mann, der so egoistisch ist wie er, sich dem Dienst an toten Hunden widmet. ... Er rettet die Ehre von Tierleichen, weil kein anderer blöd genug ist, es zu tun. Das wird er nach und nach: blöd, bekloppt, verschroben." (S. 191) (Altersspott). Hier übt er keinerlei Macht mehr aus, sondern praktiziert zu guter letzt die höchste Tugend: "Inzwischen hat er gelernt, von ihr, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Tier, das sie töten, zu konzentrieren und ihm das zu geben, was er nun ohne Mühe bei seinem richtigen Namen nennt: Liebe." (S. 283) So befreit er sich nach und nach von Zivilisationsballast, um am Ende auf die Natur reduziert zu sein. (Altersweisheit)


3. Vater-Tochter-Beziehung

Auch in der Beziehung zu seiner Tochter Lucy wird der fortschreitende Machtverlust Davids überdeutlich. Lange vor Beginn der Romanhandlung hatte Lucy bereits ein Leben gewählt, das von dem ihres Vaters grundverschieden war, indem sie Farmerin wurde und in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebte. Er macht sich Vorwürfe: „Attraktiv, denkt er, aber für die Männerwelt verloren. ... Vom Tage ihrer Geburt an hat er für seine Tochter nichts als die spontanste, vorbehaltloseste Liebe empfunden. Unmöglich, dass sie das nicht bemerkt hat. Ist sie zu groß gewesen, diese Liebe? ... Hat es sie niedergedrückt?" (S. ???) Seine Selbstsicherheit bekommt Risse.

Im Gegensatz zu ihm hat Lucy es nicht nötig, fragwürdige Befriedigung in moralisch zweifelhaften Beziehungen zu suchen. Ebenso im Gegensatz zu ihm findet sie Befriedigung in ihrer Arbeit – nicht in der Zivilisation, sondern in der Natur und bei den Kreaturen. Was Lurie zunächst enttäuschend findet und mit beißendem Spott kommentiert: „Es ist bewundernswert, was du tust, ..., aber für mich sind Tierschützer ein wenig wie gewisse Christen. Alle sind so voll guten Mutes und bester Absicht, dass es einen nach einer Weile juckt, loszuziehen, um ein bisschen zu vergewaltigen und zu plündern. Oder einer Katze einen Tritt zu verpassen." (S. 97) Er nimmt hier unbewusst die schrecklichen Ereignisse vorweg und identifiziert sich in gewisser Weise mit den Tätern, ein Zynismus, den nicht die Hauptfigur, wohl aber der Leser erkennt.

Lurie begreift allerdings, wie wichtig seine Tochter für ihn ist: „Aber er ist Vater, das ist sein Schicksal, und mit zunehmendem Alter wendet sich der Vater immer stärker der Tochter zu, das ist nun mal so." (S. 113). Die Liebe zur Tochter dient ihm als Kompensation für die verlorene sexuelle Beziehung zum weiblichen Geschlecht - ein Beispiel für Topoi der Altersklage.

Nach ihrer Vergewaltigung zieht Lucy eine klare Trennungslinie zwischen ihrem Vater und sich. Sie verschweigt bei der Polizei die Vergewaltigung – „Lucys Geheimnis, seine Schande" (S.141) - weil für sie die Konsequenzen aus dem Erlebten schon klar sind: im Gegensatz zu ihrem Vater hält sie es für richtig, zu bleiben: „Wenn das ... wenn das nun der Preis ist, den man dafür zahlen muss, bleiben zu dürfen? Vielleicht sehen sie das so; vielleicht sollte ich das auch so sehen." (S. 206). Lucy distanziert sich ausdrücklich von ihm und nimmt seine Hilfsangebote nicht an: „Ich kann nicht ewig Kind bleiben. Du kannst nicht ewig Vater bleiben. Ich weiß, dass du mir helfen willst, aber Du bist nicht der Führer, den ich brauche, nicht jetzt." Auf dieser Ebene bezieht sich der Topos der Altersklage (über den Verlust der Macht) auf den Generationenkonflikt.

Die junge Frau zeigt sich dem älteren Mann überlegen: Lucy findet eher als ihr Vater zu Demut und Verzicht: „ ‚Ja, du hast recht, es ist demütigend. Aber vielleicht ist das eine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang. Vielleicht muss ich das akzeptieren lernen. Von ganz unten anzufangen. Mit nichts. Nicht mit nichts als. Mit nichts. Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde.’ – ‚Wie ein Hund.’ – ‚Ja wie ein Hund.’" (S. 266). Lucy versucht sogar, auch David auf den richtigen Weg zu führen: „Ich bin entschlossen, eine gute Mutter zu sein, David, eine gute Mutter und ein guter Mensch. Du solltest auch versuchen, ein guter Mensch zu sein." (S. 280)

Zuletzt ist die Beziehung geklärt: „Sie macht das Angebot, als sei er ein Besucher. Gut. Ein Besucher, ein Gast, der kommt und wieder geht – ein neues Verhältnis, ein neuer Anfang." (S. 283) Und es geht ihr besser als ihm: „... nun ist sie hier, eine solide Existenz, solider, als er je gewesen ist." (S. 281) Lucys Kind wird es beiden ermöglichen weiterzuleben.


4. Politische Situation

Der Sieg des African National Congress bei den Parlamentswahlen von 1994 beendete die Vorherrschaft der Weißen in Südafrika. Die Politik der Apartheid, d.h. der strikten Rassentrennung und Unterdrückung der schwarzen Mehrheit durch die weiße Minderheit, die seit 1910 praktiziert worden war, ging damit zu Ende. Das Zusammenleben von Schwarzen und Weißen wandelte sich grundlegend. Dies wird auch im Roman deutlich.

David Lurie leidet schon als Professor unter der neuen Situation nach dem Ende der Apartheid. Die Situation in der Universität und seine Stellung sowie sein Aufgabengebiet haben sich seitdem geändert: „In seiner umgewandelten und seiner Meinung nach kastrierten Lehranstalt fühlt er sich mehr denn je fehl am Platz." (S. 9)

Nach seiner Entlassung von der Universität sucht er bei seiner Tochter auf dem Land eine Beschäftigung. Lucy bittet ihn, Petrus zu helfen. David reagiert ironisch: „Petrus helfen. Das gefällt mir. Mir gefällt die historische Pikanterie daran. Wird er mir für meine Arbeit Lohn zahlen, was glaubst du?" (S. 101)

Lucy interpretiert die Situation anders. Nach der Vergewaltigung macht sie sich Gedanken über ihre Situation als weiße allein stehende Frau in Südafrika: „Aus meiner Sicht ist das, was mir zugestoßen ist, eine rein private Angelegenheit. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine." (S.145) Und: „Sie glauben, dass ich ihnen etwas schulde. Sie sehen sich als Schuldeneintreiber, Steuereintreiber. Warum soll ich hier leben dürfen, ohne zu zahlen?" (S. 206)

Der Akt der Vergewaltigung Lucys ist - verglichen mit der Apartheid - diesmal umgekehrte Rassendiskriminierung. Sie ist verbunden mit der Erniedrigung der weißen Frau, die alleine lebt.

Einer der drei Täter, der sich später als Verwandter von Petrus entpuppt, heißt Pollux. Pollux ist einer der beiden Dioskuren Castor und Pollux, in der griechischen Mythologie unzertrennliche Zwillingsbrüder. Sie sind Götter der Freundschaft, Schirmherren der Jünglinge und der Kampfspiele. Pollux bekämpft die Amazonen. Im Namen stecken also schon Gegnerschaft und Überlegenheit.

Die schwangere Lucy begibt sich freiwillig in die Abhängigkeit von Petrus, ihrem ehemalige Farmhelfer, da dies die größtmögliche Sicherheit für sie und ihr ungeborenes Kind bedeutet. Wenn sie wegginge, sähe sie sich als gescheiterte Existenz: „Der Weg, den ich gehe, ist vielleicht der falsche. Aber wenn ich jetzt die Farm verlasse, gehe ich als Gescheiterte und werde dieses Scheitern für den Rest meines Lebens schmecken." (S. 209)

An der Figur des Petrus werden die veränderten Machtverhältnisse in Südafrika am deutlichsten. Etwa im selben Alter wie Lurie, entwickelt er sich vom lohnabhängigen Farmhelfer Lucys zum Besitzer ihres Grundstücks, ja sogar zu ihrem Ehemann und Beschützer. Zuletzt ist Petrus auch noch Luries Chef: David ist nun sein ‚Hundemann’, so wie Petrus früher Lucys ‚Hundemann’ war. Sprechend ist auch hier der Name: Petrus der Fels, Petrus der Pförtner am Eingang zum Paradies. Das Paradies könnte für das friedliche Nebeneinander von Schwarz und Weiß stehen.


5. Das Motiv der Hunde

Die Hunde sind im Roman das krasseste Beispiel für Machtlosigkeit. Sie sind vollkommen abhängig von den Menschen, bei denen sie leben. Im Umgang mit ihnen zeigen Lucy und Bev sowie später auch David paradoxerweise ihre Menschlichkeit. Bev z. B. nimmt das Töten der Tiere mithilfe einer Injektion selbst vor, weil sie sie dabei noch einmal streicheln und ihnen einen letzten Rest an Würde lassen kann. Lurie übernimmt den Transport zur Verbrennungsanlage. Als er sieht, wie die Arbeiter die steifen Tierleichen behandeln, macht er auch die Arbeit dort selbst: "Warum hat er diese Aufgabe übernommen? ... Den Hunden zuliebe? Aber die Hunde sind tot; und was bedeuten Ehre und Schande überhaupt für Hunde? Dann also für sich selbst. Für sein Konzept von der Welt, einer Welt, in der Männer nicht Schaufeln benutzen, um mit ihnen auf Tierleichen einzudreschen, damit sie bequemer weiterzuverarbeiten sind." (S. 190)

Die jungen Schwarzen, die Lucy vergewaltigt haben, töten deren Hunde - aus Lust an der Grausamkeit, aber auch aus Rache, weil in Südafrika Hunde „so gezüchtet werden, dass sie beim bloßen Geruch eines Schwarzen knurren. Die befriedigende Arbeit eines Nachmittags, berauschend wie jede Rache." (S. 144) Die Hunde werden von Weißen als Machtmittel eingesetzt, sie sind Ausführende des menschlichen Willens, in dieser Funktion fallen sie der Rache der Schwarzen zum Opfer.

6. Das Byron-Projekt

Luries Arbeit an einer Oper über Byron lässt sich als Metaebene des Romans lesen. Im Byron-Projekt geht Lurie auf Distanz zu seinem eigenen Leben, das mehrere Parallelen zu Byron enthält: Skandalgeschichten, Bedeutung des Eros, Abkühlen der Leidenschaft, Weltschmerz und Zerrissenheit, Todessehnsucht. Auch das Alter spielt in seinem Konzept zunächst eine Rolle: Byron – obwohl er schon mit 36 Jahren starb - soll als älterer Mann mit Teresa, einer jungen Geliebten, dargestellt werden: „Byron seinerseits ist voller Zweifel, doch zu klug, um sie laut werden zu lassen. Ihre früheren Ekstasen werde n sich nie wiederholen, mutmaßt er. Sein Leben ist ruhiger geworden; insgeheim beginnt er sich nach einem stillen Ruhestand zu sehnen; und wenn das nicht möglich ist, nach der Apotheose, nach dem Tod." ( S.235)

Anfangs ist das Projekt, eine Oper über Byron in Italien zu schreiben, ein Hobby für David. Die Oper war geplant „als ein Kammerspiel von Liebe und Tod" (S. ???). Dann ändert er seine Einstellung. Zuletzt ist er von der Arbeit daran besessen und stellt die Handlung radikal um: Byron ist schon gestorben und Teresa ist eine alternde Witwe, die sich immer noch nach Byron verzehrt.

Hier findet ein Bruch ins Komische, ja Groteske des Altersspotts statt: Teresas Instrument wird Lucys altes Kinder-Banjo (S. 239) mit seinem charakteristischen „Plink-Plank". Hatte er zunächst geglaubt, es gebe Parallelen zwischen ihm und Byron sowie zwischen ihm und Teresa, so erkennt er jetzt: „Nicht das Erotische ruft nach ihm, auch nicht das Elegische, sondern das Komische. ... Er ist in der Musik selbst enthalten, in dem flachen, blechernen Klang der Banjoseiten, in der Stimme, die sich bemüht, dem lächerlichen Instrument zu entfliehen, aber stets wieder zurückgerissen wird, wie ein Fisch an der Angel. Das ist also Kunst, denkt er, und so funktioniert sie! Wie seltsam! Wie faszinierend!" (S. 240)

Grotesk ist auch, wie Teresa in ihrem Verlangen nach Byron den Mond anheult wie ein Hund – sie ist Karikatur einer liebenden Frau. Inspiriert durch seine Arbeit mit den Hunden überlegt Lurie sogar, ob er einen echten Hund auftreten lassen kann. Aber da hat er schon eingesehen, dass das Projekt gescheitert ist. Seine Pläne waren zu ehrgeizig, er weiß nicht genug über Musik. Er hat sich überschätzt.

Lurie macht auch seine eigene Liebessehnsucht lächerlich. Am Ende findet sich noch einmal der Altersspott, als er bei seiner Arbeit an der Oper von Kindern beobachtet wird: „Was für eine Geschichte sie zuhause zu erzählen haben: ein verrückter Alter, der mitten unter den Hunden sitzt und sich etwas vorsingt! In der Tat verrückt." (S. ???)


Bedeutung des Titels „Schande"

Der Titel des Romans „Schande" (Originaltitel „Disgrace" = Schande, Schmach) bezieht sich vordergründig auf die Vergewaltigung von David Luries Tochter. Er bezeichnet aber auch Davids Position, und zwar auf mehreren Ebenen: Davids Beziehung zu Melanie, die darauf folgende Entlassung aus der Universität, schließlich seine Hilflosigkeit bei Lucys Vergewaltigung enden in ‚Schande’ und Ohnmacht. Im letzten Gespräch mit Melanies Vater findet sich das Wort Schande auf Luries Existenz bezogen in sechs Zeilen gleich dreimal: „Ich stecke tief in Schande, und es wird nicht leicht sein, mich davon zu befreien. Die Strafe habe ich auf mich genommen. Ich murre nicht. Im Gegenteil, ich lebe tagtäglich damit und versuche, das Leben mit der Schande als meine Daseinsform zu akzeptieren. Reicht das für Gott, was meinen Sie, dass ich bis ans Ende meiner Tage in Schande lebe?" (S. 225, Hervorhebungen von der Verf’in). Das Motiv der Schande spielt auf die Situation des Menschen in der christlichen Daseins-Auffassung an und erinnert an die von der Erbsünde belastete menschliche Existenz. Die Frage nach Sühne und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Vergebung bleibt im Roman offen.

Auch die Hunde werden in einer Situation der Schande dargestellt; Lucy, Bev und David geben ihnen jedoch mit ihrer liebevollen Behandlung ein wenig Würde zurück

Der Titel benennt außerdem die Schande der Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung im früheren Apartheidstaat Südafrika, eindrucksvoll dargestellt im Titelbild des Schutzumschlages der deutschen Ausgabe im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main von 2000.


Alterstopoi

Es gibt überwiegend Beispiele für die Topoi der Altersklage, aber dennoch ist eine Entwicklung festzustellen von der Altersklage über den Altersspott hin zum Alterslob, das sich überwiegend in Altersweisheit ausdrückt.

Alter wird gleichgesetzt mit zunehmendem Machtverlust. Zu Beginn beklagt David Lurie seine nachlassende Anziehungskraft auf Frauen, seinen schwindenden Einfluss auf seine Tochter, seine zunehmende körperliche Schwäche. „Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origines, fragt er sich, als er sich kastrierte? Das ist nicht die eleganteste Lösung, aber das Altern ist keine elegante Angelegenheit. Ein Klarschiffmachen wenigstens, damit man sich der wahren Aufgabe der Alten zuwenden kann: der Vorbereitung auf das Sterben." (S. 16)

Alter an sich ist negativ besetzt: seine Ex-Frau Rosalind kritisiert die Affäre mit Melanie schonungslos, auch wegen des Altersunterschieds. Und Melanies jüngere Schwester Desiree wundert sich in Davids Vorstellung darüber, dass ihre Schwester sich mit einem so alten Mann einließ.

Nach Lucys Vergewaltigung lebt er wie ein „Einsiedler": „ Das Umherstreifen hat eine Ende. Lebt auch die Liebe noch immer, glänzt auch des Mondes Licht. Wer hätte geglaubt, dass es so bald und so plötzlich ein Ende haben würde: das Umherstreifen, die Liebe!" (S. 157)

Resignierend erkennt Lurie später auf dem Land, dass er sich nun mit unattraktiven Frauen wie Bev Shaw begnügen muss.

Im Generationenkonflikt zwischen David und Lucy findet sich indirekte Altersklage auch in der Tatsache, dass Lucy die veränderten politischen Machtverhältnisse akzeptiert, ihr Vater dazu aber nicht im gleichen Maße in der Lage ist.

Eine moderne Form der Altersklage zeigt sich auch in Luries beruflicher Frustration und der Erkenntnis, bei der ihm aufgezwungenen Beschäftigung mit Kommunikationswissenschaften von neuen Medien überholt worden zu sein.

Später nimmt der Altersspott einen breiteren Raum ein, z. B. in der Sexualität: „Ab einem gewissen Alter sind alle Affären ernst. Wie Herzanfälle." (S. 57) Im Opern-Projekt macht David mit der Einführung des Banjos und in Teresas übertriebenen Klagen seine eigene Liebessehnsucht lächerlich. Zuletzt sieht er sich als „Joseph", als Großvater, will von Victor Hugo lernen, „dem Dichter des Großvatertums" (S. 282).

Er verspottet zeitweise seine Arbeit mit den Hunden und sieht darin einen Zusammenhang mit seinem Altern (S. 191) Als Petrus’ Hundemann, der seinen Hunden etwas vorsingt, stellt er sich vor, wie „verrückt" er wirken muss (S. 274).

Er findet zu Selbstironie und adaptiert am Ende die Kritik seiner Ex-Frau.

Gegen Ende des Romans findet David zu einer Altersweisheit, die mit einem gewissen Alterslob gleichgesetzt werden könnte. Aber das Alterslob ist ambivalent: David hat mehr Distanz zu sich selbst, findet aber gleichzeitig zu neuen Einsichten über sich. Er beschreibt die Tugenden des Alters, die er jetzt nicht mehr als für sich unerreichbar betrachtet. Charakteristisch für ihn ist, dass er das Nachlassen der Leidenschaft als Voraussetzung dafür sieht, ein besserer Mensch zu werden (vgl. S. 282). Aber seine Resignation hat schließlich keine Bitterkeit mehr.

Eine positive Entwicklung nimmt auch die Beziehung zu seiner Tochter: David akzeptiert am Ende Lucys zunehmende Unabhängigkeit und ihre für ihn unverständlichen Entscheidungen. Er gibt die Vaterrolle auf und ist bereit, ihr Gast zu sein (vgl. S. 283). Er orientiert seine weitere Lebensgestaltung am Schicksal seiner Tochter, zumindest bis zur Geburt ihres Kindes.

Altersweisheit zeigt sich auch darin, dass er sich zuletzt bewusst auf eine untergeordnete Arbeit konzentriert. Selbst im Umgang mit den todgeweihten Hunden nimmt er seinen eigenen Wunsch zurück und verzichtet am Ende darauf, das Leben seines Lieblingshundes noch ein wenig zu verlängern.

So akzeptiert er schließlich seinen Machtverlust, seine Ohnmacht als allgemeinmenschliches Schicksal auf allen Ebenen, ohne dabei ein Gescheiterter zu sein. Er hat im Gegenteil an Stärke gewonnen und scheint seinem Ziel, ein besserer Mensch zu werden, ein gutes Stück näher gekommen.