Jenny Erpenbeck, Geschichte vom alten Kind (von Johanna Schorm)

Aus Literarische Altersbilder


Biographie

Jenny Erpenbeck, geboren am 12. März 1967 in Berlin, entstammt einer Schriftstellerfamilie, deren literarische Tradition bis in die 20er Jahre zurückreicht. Ihre Großmutter, Hedda Zinner, (1904-1994) publiziert ab 1930 gesellschaftskritische Gedichte u. a. in der Roten Fahne, der Zeitschrift der kommunistischen Partei.[1]

Mit ihrem Mann, dem Dramaturg und Literaturkritiker Fritz Erpenbeck, (1897-1975) muss sie nach der Machtübernahme Hitlers Deutschland verlassen. Über Prag kommt das Paar 1935 nach Moskau, wo 1942 ihr Sohn John geboren wird.

1945 nach Deutschland zurückgekehrt, übernimmt das Ehepaar führende kulturelle Aufgaben in der sich konstituierenden DDR. Fritz Erpenbeck wird neben seiner Arbeit als Chefredakteur der Zeitschriften Theater der Zeit und Theaterdienst, und Chefdramaturg der Berliner Volksbühne vor allem durch seine Kriminalromane bekannt.[2]

Hedda Zinner arbeitet ab 1946 als Spielleiterin im Hause des Rundfunks. Sie schreibt zahlreiche Gedichte, Schauspiele und Romane und erhält ebenso wie ihr Mann mehrere Literaturpreise. John Erpenbeck, Jenny Erpenbecks Vater, ist ein renommierter Physiker, Philosoph und Romanautor. Ihre Mutter ist die Arabisch-Übersetzerin Doris Kilias.[3]

In ihrem beruflichen Werdegang folgt Jenny Erpenbeck zunächst der Tradition ihrer Großeltern. Nach dem Abitur 1985 und einer Buchbinderlehre arbeitet sie ein Jahr lang als Requisiteurin und Ankleiderin an der Staatsoper Berlin. 1988 beginnt sie das Studium der Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität und wechselt 1990 zum Studium der Musiktheater-Regie (u. a. bei Ruth Berghaus, Heiner Müller und Peter Konwitschny) zur Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieses Studiums nimmt sie die Stelle einer Regieassistentin in Graz an. Inzwischen hat sie in Österreich und Deutschland mehrere Opern und Musicals inszeniert von "Hänsel und Gretel" bis zu "Kiss me Kate".

Mit ihrem viel beachteten Romandebüt "Geschichte vom alten Kind" setzt Jenny Erpenbeck die schriftstellerische Tradition ihrer Familie fort. Es folgen die Veröffentlichung mehrerer Erzählungen, Theaterstücke und ein zweiter Roman. Für ihre Erzählung "Sibirien" erhält sie 2001 den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Mit ihrem Theaterstück "Katzen haben sieben Leben" feiert sie im Jahr 2000 große Erfolge in Graz.

In ihrem zweiten Roman "Wörterbuch" von 2005 beschreibt Jenny Erpenbeck die irritierende Geschichte einer harmonischen Familie, deren liebevoller Vater sich zum Schluss als Täter und Folterer einer Diktatur entpuppt. Während einer Lesung zu diesem Buch im März 2005 [4] sagt die Autorin, diese Geschichte sei aus den ihr erzählten Erfahrungen von Folteropfern einer lateinamerikanischen Diktatur entstanden. Für sie sei es dabei wichtig gewesen, die Beziehungen der Menschen untereinander in der kleinsten Zelle der menschlichen Gemeinschaft, der Familie, darzustellen. Das Politische fließe dabei eher unbewusst in die Geschichte mit ein.

Der Zusammenhang von privater und politischer Geschichte spielt auch in der Erzählung "Sibirien" aus dem Erzählband "Tand" von 2001 eine Rolle. Durch die komplexe Erzählkonstruktion gerät dabei das Verhältnis zwischen den Generationen in den Blick. An den durch die Geschichte bestimmten privaten Erfahrungen wird der Kreislauf von Vergänglichkeit und Kontinuität in der erzählten Erinnerung lebendig. Dies gilt auch für die Titelgeschichte aus dem Erzählband Tand. Die Enkelin berichtet in dieser Geschichte von dem körperlichen Verfall ihrer Großmutter und erzählt gleichzeitig, wie sie deren Lebenswerk fortsetzt.

Der "Geschichte vom alten Kind" liegt eine tatsächliche Begebenheit zugrunde, die Jenny Erpenbeck nach eigenen Aussagen von ihrer Großmutter erfährt. Diese berichtet ihr von ihrem Briefkontakt mit einem 14-jährigen Mädchen und ihrem Besuch am Krankenbett dieses Mädchens, von dem die Ärzte ihr erzählten, dass es sich bei dieser Patientin in Wahrheit um eine 31 Jahre alte Frau handele. Diesem Erlebnis ihrer Großmutter fügt die Autorin eigene Recherchen hinzu. Sie gibt sich im Alter von 27 Jahren als 17-Jährige aus und lässt sich in die 11. Klasse eines Berliner Gymnasiums aufnehmen. Einen Monat lang nimmt sie unerkannt am Unterricht der 11. Klasse teil. Dieser Selbstversuch bildet den authentischen Hintergrund für die in der Erzählung dargestellten Erfahrungen.[5]

Jenny Erpenbeck lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Prag. Sie erhält 2004 den GEDOK-Literaturförderpreis; 2006 ist sie Trägerin des Stipendiums Inselschreiber auf Sylt.


Werkauswahl

Prosa:

Geschichte vom alten Kind, Frankfurt am Main 1999

Tand, Erzählungen, Frankfurt am Main 2001

Wörterbuch, Frankfurt am Main 2004

Theaterstücke:

Katzen haben sieben Leben. Uraufführung: 30.1.2000, Vereinigte Bühnen Graz; Frankfurt/M.: Verlag der Autoren.

Leibesübungen für eine Sünderin. Uraufführung: 27.3.2003, Deutsches Theater Berlin; Frankfurt/M.: Verlag der Autoren.


Inhalt

Ein Mädchen, das außer dem Alter von 14 Jahren keine Angaben zu seiner Person machen kann, wird eines Nachts auf einer Geschäftsstraße von der Polizei aufgegriffen. Da alle Nachforschungen über seine Herkunft zu keinem Ergebnis führen und sich das Mädchen an nichts erinnern kann, auch nicht an seinen Namen, wird es zu dem auf einem abgeschlossenen Gelände liegenden Kinderheim der Stadt gebracht. Dem angegebenen Alter entsprechend wird es hier in die dem Heim angeschlossene Internatsschule in die 8. Klasse eingewiesen. Irgendetwas stimmt jedoch mit dem Mädchen nicht. Zum einen fällt es durch seine Größe und die Unförmigkeit seines klobigen Körpers auf, was nicht zu seinem betont kindlichen Verhalten passt. Zum anderen ist seine Unwissenheit und Unfähigkeit auf allen Wissensgebieten so grundlegend, dass die Lehrer nicht wissen, wie sie mit ihm umgehen sollen.

Einblicke in die Gedanken und Gefühle des Mädchens nähren den Verdacht, dass hinter dem Nichtwissen und dem Bestreben, den untersten Platz in der Heimhierarchie einzunehmen, ein bewusster Willensakt steht. Im Gegensatz zu den Erwachsenen „riechen" (S. 32)[6] die Gleichaltrigen, dass hinter dieser seltsamen Erscheinung ein Betrug stehen könnte. Die jüngeren Heimkinder fühlen sich von der ausufernden Körperlichkeit des Mädchens zu Rempeleien auf dem Schulhof provoziert, die größeren Jungen zu sexuell motivierten Handgreiflichkeiten. Das Mädchen erträgt alles, ohne sich zu wehren. Seine Versuche, durch übertriebene Anpassung die Anerkennung der Mitschülerinnen und Mitschüler zu gewinnen, scheitern. Vielmehr ruft sein vorauseilender Gehorsam in Bezug auf die Heimordnung eine Abwehrhaltung bei seinen Zimmergenossinnen hervor. Auch sein Versuch, sich durch das Wiederholen aufgeschnappter Bemerkungen an den Gesprächen der Gleichaltrigen zu beteiligen, wird mit Ablehnung erwidert. Die einzige Anerkennung, die es bekommt, ist die „schwarze Variante" (S. 63) des Außenseiters, der erniedrigt und lächerlich gemacht wird, ein Opfer der grausamen Spottlust aller, die an ihm ihre Überlegenheit beweisen können. Dies zeigt sich besonders bei den gemeinsamen Mahlzeiten, wobei das Mädchen durch seinen übermäßigen Hunger eine willkommene Zielscheibe für unappetitliche Spielchen bietet. (vgl. S.63ff)

Eine Änderung im Verhältnis zu seinen Mitschülern tritt ein, als das Mädchen sich von fünf Jungen seiner Klasse als Geldversteck missbrauchen lässt. Es rückt das Geld, das die Jungen gestohlen hatten und auf der Flucht vor dem Lehrer in seine Tasche steckten, am Abend schweigend und vollständig wieder heraus. Die Klassenkameraden entdecken, dass das Mädchen „verwendbar" (S. 72) ist, wie ein Möbelstück oder eine loyale Dienstmagd, die widerspruchslos alles ausführt, was man ihr aufträgt. Wenn es auch weiterhin zur Deckung von verbotenen Aktivitäten herangezogen wird, so erfüllt diese Wendung seines Status im Heim das Mädchen doch mit Glück. Es hat nun seinen Platz gefunden und kann sich sogar einzelne Namen merken. Für seine Zimmergenossinnen wird es zum schweigenden Zuhörer ihrer pubertären Geheimnisse.

Der einzige Widerstand, der ungewollt aus dem Mädchen herausbricht, geht von seinem Körper aus. Es muss sich übergeben, sobald es irgendwo einen Jungen und ein Mädchen in enger Umarmung entdeckt oder die Jungen bei ihren sexuellen Spielereien ungewollt beobachtet. Auch die wiederholt auftretenden Krankheiten weisen darauf hin, dass eine seelische Anspannung sich hier in körperlichen Symptomen entlädt. Dabei ruft der Aufenthalt in der Krankenstation ambivalente Gefühle in dem Mädchen wach. Zum einen genießt es die Situation, selbst für die einfachsten Verrichtungen seines Körpers nicht mehr verantwortlich zu sein, zum anderen befürchtet es durch die Sonderbehandlung den untersten Platz in der Hierarchie des Heims zu verlieren. Seine zunehmende Müdigkeit und Schwäche führen jedoch schließlich zu völliger Bewegungsunfähigkeit, vor der die Ärzte des Kinderheimes ratlos stehen. Das Mädchen wird in das öffentliche Krankenhaus der Stadt verlegt, wo sich durch eine strenge Diät sein Aussehen gravierend verändert. Sein kindliches, wenn auch großes Gesicht verwandelt sich in das Gesicht einer Frau von 30 Jahren. Nachforschungen ergeben, dass es sich bei der Patientin um eine 31-jährige Frau handelt, die vor einem halben Jahr verschwunden war. Man hatte beim Auftauchen des Mädchens nur in der Rubrik für vermisste Kinder gesucht anstatt in der für vermisste Erwachsene.

Die Beurteilung des Geschehens durch die Ärzte, die die Verwandlung des Mädchens zu einer erwachsenen Frau verfolgen, fällt vernichtend aus. Sie stellen fest, dass es sich bei den Veränderungen im Gesicht und am Körper der Patientin keinesfalls um eine Krankheit handelt, wie sie z. B. als Vergreisung oder Progerie bekannt ist, sondern dass die kindliche Existenz nur eine Maskerade war, eine gezielte Täuschung der Umwelt. Dass sie nun häufig weint, quittieren die Ärzte mit Befriedigung als Eingeständnis einer Schuld. Diese Pointe am Schluss der Erzählung wird vervollständigt durch das Erscheinen der Mutter der Patientin am Krankenbett. Jedoch bleibt offen, welche Motive die junge Frau veranlassten, sich in die Existenz eines Kindes zu flüchten.


Einordnung in das Thema der Alterstopoi

Schon der Titel der Erzählung Geschichte vom alten Kind weckt in der Verbindung der sich scheinbar widersprechenden Begriffe im Oxymoron ‚altes Kind’ Assoziationen, wie sie uns aus den literarischen Altersbildern und der Darstellung der Alterstopoi bekannt sind. Wie die Analyse zeigt, kann die Erzählung aber auch als Beispiel dafür herangezogen werden, dass nicht nur das Alter, sondern auch Kinderzeit und Jugend von stereotypen Deutungsweisen geprägt sind. Es wird einerseits deutlich, dass es keine allgemein gültigen Definitionen darüber gibt, was unter Alter und was unter Jugend zu verstehen ist, andererseits zeigt sich, dass sich junge und alte Menschen ebenso wie die Kinder innerhalb kultureller Normen bewegen, die entscheidend dazu beitragen, welchem Alter die Gesellschaft sie zuordnet.

Dass gesellschaftliche Normen im Lauf der Sozialisation unbewusst verinnerlicht und intuitiv befolgt werden, ist eine Erkenntnis, auf der die amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Judith Butler ihre theoretischen Überlegungen aufbaut. In ihrer Untersuchung "Das Unbehagen der Geschlechter" stellt sie die Geschlechtsidentität des Menschen als eine auf biologischen Voraussetzungen beruhende Kategorie in Frage. Sie geht davon aus, dass auch das als natürlich erscheinende Geschlecht sich erst durch Imitation und ständige Wiederholung normierter Verhaltensweisen konstituiert. [7] In diesem Zusammenhang spricht sie von performativen Handlungen und definiert den Begriff der Performativität als eine Praxis, „durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt." [8]

Eine Übertragung der Theorien zur Geschlechterforschung auf die Kategorie des Alter(n)s macht deutlich, wie sehr auch natürlich erscheinende - weil mit dem biologischen und kalendarischen Alter verbundene - Verhaltensmuster letztlich auf kulturell festgelegte Normierungen zurückgehen. Die Geschichte vom alten Kind kann als "ein Spiel mit der Performanz von Altersidentität" [9] gelesen werden. Dabei gelingt es der Autorin, durch wechselnde Perspektiven, die Frage danach, welche Handlungen des Mädchens als bewusste Inszenierung und welche als eher unbewusste performative Handlungen einzustufen sind, für den Leser offen zu halten. Durch diese Ambivalenz in der Bewertung erhält das Spiel mit dem kalendarischen Alter eine moralische Dimension, die über die Fiktion hinaus geht und auf die Wirklichkeit verweist. Die Leerstellen, die sich aus der knappen aber präzisen Sprache ergeben, können als Appell an die Leser aufgefasst werden, sich mit Fragen nach dem Zustand der Gesellschaft auseinander zu setzen. Inwieweit die Erzählung als Parabel für gesellschaftspolitische Verhältnisse gelesen werden kann oder welche Einflüsse von Seiten der Gesellschaft und des familiären Umfeldes mitbestimmend sind für die Entwicklung der Protagonistin, soll in dieser Interpretation nicht erörtert werden.


Lebensalter als Inszenierung

Die Erzählung entwickelt sich innerhalb des Zeitrahmens von einem halben Jahr vom späten Herbst bis zum Mai des nächsten Frühjahres („An diesem noch warmen Herbsttag …" S. 20; „Duft von Flieder …" S. 124). Dabei sind die einzelnen Erzähleinheiten vor allem im ersten Teil nicht streng chronologisch angeordnet. Neben Mutmaßungen über den Verlauf unmittelbar bevorstehender Ereignisse in der Zukunftsform gibt es kurze Rückblicke in die Vergangenheit des Mädchens, z.B. über die frühere Bedeutung des Spiegels. Die erzählte Zeit wird im ersten Teil strukturiert durch das einmalige Erzählen sich wiederholender Episoden aus der Alltagsroutine des Heims und der Schule. Im zweiten Teil, d.h. ab dem Moment, da das Mädchen beginnt, sich die Eigennamen der Klassenkameraden zu merken, erhalten die einzelnen Episoden als einmalige Ereignisse ein größeres Gewicht.

Der Begriff „Geschichte" im Titel weist auf den fiktionalen Charakter der Erzählung hin und enthält gleichzeitig in dem Oxymoron „altes Kind" das leitende Konzept. In der Verbindung der sich gegenseitig ausschließenden Lebensalter werden hier die zwei tragenden, eng miteinander verflochtenen Ebenen der Erzählung angesprochen, zum einen die Handlungsebene, auf der das äußere Verhalten des Mädchens und die Reaktionen der Umwelt geschildert werden, zum anderen die von der auktorialen Erzählinstanz bruchstückhaft mitgeteilte Bewusstseinsebene. Dass die Pointe erst auf der letzten Seite enthüllt wird, kann als ein tragendes ästhetisches Element der Erzählung eingestuft werden. Während das epische Präsens als durchgehende Erzählzeit eine Vergegenwärtigung der Handlung bewirkt, wirft die Namenlosigkeit der Protagonistin die Frage nach einer Verallgemeinerung der dargestellten Problematik auf. Durch das Pronomen „es" im ersten Satz, das sich auf das im Titel erwähnte Kind bezieht, erhält das elternlose Mädchen von Beginn an den Status eines Neutrums ohne eigene Subjektivität. Der Stil des objektiven Berichts in der ungewöhnlichen bis zum Ende dominierenden Es-Erzählhaltung, bewirkt eine Distanz zu dem Erzählten, die dem Rezipienten eine Identifikation mit der Hauptfigur fast unmöglich macht. [10]

Bis auf vier kurze Passagen in der Ich-Form, wird auch bei der Innensicht die Es-Form des Erzählens beibehalten. Aus dem Wechsel von Außensicht und Innensicht ergibt sich eine Bedeutungsebene, die Hinweise darauf liefert, dass sich hinter der äußeren Fassade des Mädchens ein anderes Leben verbirgt. Seine Kindlichkeit wirkt wie eine bewusst herbeigeführte Inszenierung und wirft damit Fragen nach dem wahren Alter des Mädchens auf. Der Erzähler ist offensichtlich Mitspieler in dieser Inszenierung. Er weiß mehr über die Person und das frühere Leben des Mädchens, als er dem Leser mitteilt. Seine Berichterstattung und seine bewertenden Kommentare dienen dazu, das Interesse des Lesers an der Lösung des Rätsels, das das Mädchen umgibt, aufrechtzuerhalten.

Die Rezeptionslenkung durch die das Geschehen organisierende und kommentierende Erzählinstanz tritt besonders in den ersten Erzähleinheiten deutlich hervor. Dabei erscheint das Auffinden des Mädchens durch die Polizei durch seine karge aber plastische Beschreibung wie der Vorspann zu einem Film. Der Leser erfährt hier ebenso wenig über die Herkunft des Findelkindes wie die Polizei. Dass seinem plötzlichen Auftauchen jedoch etwas „Unglaubliches" (S. 8) anhaftet, unterstreicht der Erzähler durch die kritische Beurteilung seiner äußeren Erscheinung. Dabei stehen die Metaphern, mit denen das Mädchen beschrieben wird, in deutlichem Gegensatz zu den mit dem Äußeren einer Vierzehnjährigen üblicherweise verbundenen allgemeinen Vorstellungen. „Das Mädchen hat ein großes, fleckiges Gesicht, das aussieht wie ein Mond, …. breite Schultern, wie eine Schwimmerin, und von den Schultern abwärts ist es wie aus einem Stück gehauen" (S. 8). Im Weiteren führt der Erzähler aus, dass sein Haar fast grau erscheint, „wie ein Fahnentuch, das zu lange in der Sonne gehangen hat" (S. 9). Bei jeder schnelleren Bewegung erscheinen durch die Anstrengung verursachte Schweißperlen auf seiner Stirn.

In Zusammenhang mit einem vierzehnjährigen Mädchen wirken die hier genannten Merkmale der Farblosigkeit, Unbeweglichkeit und Starre, die üblicherweise dem fortgeschrittenen biologischen Alter zugeordnet werden, grotesk. Hinzu kommt, dass der Erzähler von inneren Kämpfen, die in der verbogenen Körperhaltung sichtbar werden, spricht. Durch diese auktorialen Einblicke in das Innere des Mädchens wird der Eindruck einer von dem Mädchen bewusst herbeigeführten Kindlichkeit herauf beschworen. Die groteske Metaphorik intensiviert dabei die Distanz des Lesers zu dem Dargestellten. Er fühlt sich in die Rolle des Beobachters eines Experiments gedrängt.

Das Missverhältnis zwischen der Erscheinung des Mädchens und seiner Umgebung wird besonders deutlich in der Situation auf dem Sportplatz des Kinderheims. Die drei verschiedenen Variationen dieser Sequenz unterstreichen zum einen die Bedeutung der Elternbesuche für die Erzählung, sie zeigen aber auch, wie die Autorin durch den geschickten Wechsel der Erzählperspektive zwischen Distanz und Nähe zur Hauptperson die Bewertung des Geschehens durch den Leser einfordert. Als immer wiederkehrendes Ereignis wird der Besuch der Eltern und solcher, „die Eltern werden wollen" (S. 10), mit einem kritisch-ironischen Unterton geschildert. Da das Mädchen nicht der Norm entspricht, werden die Eltern es nicht wahrnehmen, auch wenn seine Unsichtbarkeit eher von „prinzipiellerer Natur" (S. 10) ist, wie der Erzähler feststellt. Diese in der Zukunftsform geäußerte Vermutung des Erzählers wird im Folgenden in den Kopf der Protagonistin verlegt. „Niemand von den verwahrlosten und weinenden Eltern, noch einer von den Fremden, die Eltern werden wollen, wird sehen, wie es über den Platz geht. So hat es sich das gedacht" (S. 11). Als wieder distanzierter Kommentar zu dieser Situation muss die anschließende Feststellung gewertet werden, dass das Mädchen in das Kinderheim „eingebrochen" ist, und kaum die Wahrscheinlichkeit besteht, dass einer es „zurückreißen" (S. 11) will in die Welt.

In der dritten Variation dieser Erzähleinheit wird der Sportplatz für den Leser zu einer Bühne, auf der die Handlungen des Mädchens als bewusste Inszenierungen erscheinen. Das Nägelkauen und Schluchzen als kindliche Verhaltensweisen wirken dabei grotesk übersteigert. Ohne jede Information darüber, welche Motivation hinter dieser Anpassungsleistung stehen könnte, fühlt sich der Leser von der übertriebenen Hilflosigkeit dieses großen Kindes abgestoßen. Das Zitieren kindlicher Hilflosigkeit von einer Person, deren Äußeres nicht zu diesem Verhalten passt, kann im Sinne Judith Butlers als Akt der Hyperaffirmation bezeichnet werden, durch den herkömmliche Altersnormen ins Wanken geraten. [11] Gleichzeitig jedoch entlarvt die Hyperaffirmation des kindlichen Verhaltens die Atmosphäre auf dem Schulhof in ihrer Rücksichtslosigkeit und Aggressivität.

In den folgenden Erzähleinheiten setzt sich die Verunsicherung des Lesers in Bezug auf das wirkliche Alter des Mädchens und die Ambivalenz in der Beurteilung seines Verhaltens fort. Die Normen unserer Leistungsgesellschaft erscheinen auf den Kopf gestellt durch das ausdrücklich erstrebte Ziel des Mädchens, den untersten Platz in der Hierarchie des Heims zu erobern und zu behalten. Die Ambivalenz der Begriffe Freiheit, Zwang und Anpassung werden dem Leser bewusst, wenn er erfährt, dass für das Mädchen die einzige Freiheit darin besteht „nicht selber schubsen zu müssen" (S. 25), eine Freiheit, von der es glaubt, dass das Heim sie garantiert.

In besonderem Maße erscheint die während des Schulalltags zur Schau gestellte Dummheit des Mädchens als ein inszeniertes Verhalten, das die Umwelt in die Irre führen soll. Die Leere im Kopf des Mädchens, „es (lässt) jedes Wort und jeden Gedanken … los, bis es … ganz leer ist" (S.20) und sein vollkommenes Versagen im Unterricht werden in seiner Übertreibung und der Verweigerung von Leistung als Strategie erkennbar. Darüber hinaus versucht das Mädchen, durch Imitation des Verhaltens seiner Mitschülerinnen sich als Mitglied der Klassengemeinschaft zu etablieren, was allerdings von den Gleichaltrigen zurückgewiesen wird.

In den vier unvermittelt auftretenden Passagen in der Ich-Form (S. 28, S. 32, S. 36, S. 49) wird für kurze Zeit ein leidendes Subjekt sichtbar, das im Folgenden aber wieder hinter der distanziert kritischen Berichterstattung verschwindet. Dieses plötzliche Auftreten eines ‚Ich’ führt zu einer Verunsicherung in Bezug auf die Stimme des Erzählers. Der distanzierte Berichtstil könnte demnach als Selbstreflexion und Selbstbeobachtung der Protagonistin, die sich selbst zum Objekt wird, eingestuft werden. Diese Passagen wecken die Sympathie des Lesers und verstärken damit die Ambivalenz in Bezug auf eine Bewertung des Geschehens.

Im zweiten Teil der Erzählung, der dadurch gekennzeichnet ist, dass das Mädchen beginnt, sich die Namen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler zu merken, nehmen die Schilderungen des Lebens im Heim aus der personalen Erzählperspektive zu, ohne dass der auktoriale Erzähler ganz verschwindet. Dies kann als formales Zeichen dafür gewertet werden, dass das Mädchen beginnt, das Erkennen individueller Unterschiede zuzulassen. „Sein Kopf hört auf, leer zu sein" (S. 74). Dabei bleibt es allerdings bemüht, durch keinerlei eigenständiges Handeln aufzufallen, um seinen untersten Platz nicht zu gefährden.

Es zeigt sich jedoch, dass für das Mädchen der Rückzug auf eine kindliche Bewusstseinsstufe, in der Verhalten und Handlungen intuitiv, d. h. ohne darüber nachzudenken, erfolgen, nicht möglich ist. Die Protagonistin muss erkennen: „Kaum hat man etwas getan, steht schon der Wille ganz nackt dahinter, und das ist dem Mädchen etwas so außerordentlich Peinliches, das Mädchen will ja gerade nichts, es will das was alle wollen, aber das gibt es nicht. Und in dem Moment, da ihm das klar wird, wird ihm auch klar, dass seine Kräfte es verlassen" (S. 108).

Die Inszenierung kindlicher Verhaltensweisen und das Bemühen, ein Neutrum und eine Nicht-Person zu sein, gehen über die Kräfte des Mädchens und sind damit ein Beweis für die hinter der Fassade stehende Existenz des individuellen sich selbst bewussten Subjekts. Dieses Subjekt wird in den Briefen „AN MICH" (S. 109) sichtbar, die das Mädchen mit „DEINE MAMA" (S. 110) unterschreibt. Doch auch dieser Versuch sich von verinnerlichten Befehlen und Warnungen zu befreien, die offensichtlich von der Mutter ausgingen, kann die Zuspitzung seines Krankheitszustandes nicht verhindern. Es bleibt schließlich offen, inwieweit die letzte Krankheit des Mädchens, seine völlige Bewegungsunfähigkeit, Inszenierung ist oder durch die Angst vor der Erkenntnis, dass das Leben als fortschreitender Prozess keine Flucht in die Kindheit zulässt, verursacht wurde.

Die Metamorphose, die am Ende der Erzählung das wahre Alter des Mädchens enthüllt, wird einmal als neutraler Bericht von außen und zum anderen aus der Sicht der beobachtenden Ärzte geschildert. Der Versuch, „in der Zeit herumzuspazieren, wie in einem Garten" (S. 124), d.h. mit den Begrenzungen des kalendarischen Alters zu spielen, wird auf der Textoberfläche von der Umwelt verurteilt. Über die Motivation, die hinter der Weigerung liegt, sein kalendarisches und biologisches Alter anzunehmen, kann der Leser nur Vermutungen anstellen. Es bleibt ihm überlassen, wie er die Tränen der Protagonistin beurteilt. Sie erscheinen als Ausdruck eines echten Gefühls, jedoch weniger als Eingeständnis einer moralischen Schuld denn als Trauer und Resignation angesichts der Erkenntnis, dass das Fortschreiten der Zeit nicht aufzuhalten ist, und man nicht wieder hinter einen einmal erreichten Erkenntnisstand zurückfallen kann.

Die Darstellung der Hyperaffirmation eines kindlichen Verhaltens in der „Geschichte vom alten Kind zeigt, ähnlich der Travestie, durch die die natürliche Basis der Geschlechtsidentität in Frage gestellt wird, dass die verschiedenen Lebensalter einschließlich der Kindheit und Jugend durch performative Handlungen und Normierungen bestimmt sind. Die natürlich erscheinende Unschuld des Kindes wird in diesem Zusammenhang als idealer Entwurf sichtbar, der keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Die bewusste Performanz kindlichen Verhaltens macht deutlich, dass auch die eine Altersidentität bestimmenden Merkmale vor allem aus kulturellen Prägungen erklärt werden können.


Der Kampf des Mädchens mit seinem Körper

Wird die fehlende Übereinstimmung von angegebenem und tatsächlichem Alter durch den Wechsel der Erzählperspektive zwischen Außensicht und Innensicht deutlich, so unterstreichen die ausufernden körperlichen Dimensionen des Mädchens die Diskrepanz zwischen angegebenem kalendarischem und biologischem Alter. Was dem Mädchen in geistiger Hinsicht anscheinend mühelos gelingt, nämlich seinen Kopf „ganz leer" (S. 20) zu machen, wird durch den riesigen Körper, der nicht zu der kindlichen Altersstufe des Nichts-Wissens passt, konterkariert und für die gleichaltrigen Klassenkameraden als Betrug erahnbar. Die verbogene Haltung (vgl. S. 9) und das Einziehen des Kopfes (beim Betreten des Klassenzimmers, S. 18) sollen zwar den Eindruck der unangemessenen Größe verwischen, können aber die biologischen Voraussetzungen nicht rückgängig machen.

Das Mädchen wird bei seinem ersten Erscheinen in der Klasse von den Mädchen und Jungen seines Alters anhand seiner Körperlichkeit taxiert. Sie versuchen es einzuordnen gemäß ihrer eigenen Position im Klassenverband. Die Mädchen stellen fest, dass aufgrund fehlender attraktiver Weiblichkeit die Neue keine Konkurrenz für sie darstellt. Die Jungen fühlen sich jedoch durch den weiblichen Körper, auch wenn er einem Holzkloben ähnelt, herausgefordert. Obwohl das Mädchen durch seine inszenierte Kindlichkeit, seine Passivität und Demutshaltung jede geschlechtsspezifische Performanz vermeidet, wird es durch sein Äußeres als geschlechtliches Wesen wahrgenommen. Auf der Interpretationsebene heißt das, die patriarchalische Kultur, deren Herrschaftsformen hier von den Jungen praktiziert werden (sie halten das Mädchen fest, greifen ihm unter den Rock, verstecken seinen Schlüpfer), lässt keine geschlechtslosen Wesen zu. Auch ein Kind ist nicht ohne eine Geschlechtsidentität denkbar und unterliegt den sich daraus ergebenden Machtverhältnissen.

Indem die Erzählung die Zurückbildung einer Geschlechtsidentität in den scheinbar neutralen Zustand des Kindseins beschreibt, werden einerseits die die Geschlechtsidentität konstituierenden Normen, andererseits aber auch die natürlichen biologischen Zuordnungen hinterfragt. Nicht nur das kalendarische Alter erscheint als manipulierbar, sondern auch das biologische Geschlecht. Indem das Mädchen in seinem Verhalten offensichtlich für sich die Position eines geschlechtslosen Wesens in Anspruch nimmt, werden die mit der kulturellen Geschlechtsidentität verbundenen Machtverhältnisse sichtbar. Gleichzeitig wird deutlich, dass dieser Versuch, in eine kindliche Identität zu flüchten, "ohne Einordnung in die binäre Geschlechterordnung" [12] zum Scheitern verurteilt ist.

Zunächst sieht es so aus, als könnte das Mädchen durch die Imitation und Wiederholung kindlicher Verhaltensweisen seinen Status als subjekt- und geschlechtsloses Wesen verfestigen. Im Turnunterricht wirkt es auf seine Umwelt wie „ein bleiches Stück Teig mit Kopf" (S. 40). Die Turnlehrerin „muss wider Willen … das Tier bestaunen" (ebd.). Der Vergleich der Turnübung auf dem Schwebebalken mit dem „urzeitlichen Übergang vom Wasser aufs Land" (ebd.) legt Assoziationen an ein natürliches paradiesisches Leben vor der Entstehung eines Ich-Bewußtseins nahe, mit dem die Entfremdung zwischen Körper und Geist begann. Dass der „gute Wille" (S. 41), den das Mädchen aufbieten muss, um „seiner Mannschaft keine Schande zu machen" (ebd.), an seinen körperlichen Kräften und Fähigkeiten zehrt, ist ein Beweis für seine Entfremdung von Körper und Geist. Der Körper entwickelt ein Eigenleben; er scheint den Geist zu bekämpfen. Seinen undurchschaubaren Reaktionen ist die Protagonistin offenbar hilflos ausgeliefert.

Da es die Regelwidrigkeit, die sein Körper innerhalb des Klassenverbandes darstellt, nicht überspielen kann, versucht das Mädchen, durch eine Übererfüllung der Gebote, die von der Schule und von seinen Klassenkameraden ausgehen, etwas von dieser „Schuld" (vgl. S. 49) abzutragen. Es bleibt z. B. beim Versteckspiel auf dem Schulhof mit geschlossenen Augen unbewegt stehen, bis es sich verkühlt, auch wenn klar ist, dass die anderen sich einen Scherz mit ihm erlauben oder das Spiel längst vergessen haben. Der Erzieher, der es aus dieser Situation erlöst, indem er es anschreit, ob es blödsinnig sei und später einmal keine Kinder bekommen wolle, hört nicht ihr ruhiges „Nein" (S. 50). Als Vertreter einer patriarchalischen Gesellschaft fühlt er sich dazu verpflichtet, das Mädchen an seine Reproduktionspflichten zu gemahnen. Dieses wiederum zeigt durch sein Nein, dass es sich dem durch sein biologisches Geschlecht bedingten gesellschaftlichen Zwang entziehen will. Die irrational erscheinenden Reaktionen und die angestrebte Neutralisierung des Geschlechts können als eine Verweigerung der Geschlechtsidentität gelesen werden. In Zusammenhang mit der sich dem Grotesken annähernden Schreibweise verweisen die Unstimmigkeit zwischen der äußeren Erscheinung des Mädchens und seinem Verhalten auch hier auf den Inszenierungscharakter der Handlungen.

Der Kampf des Mädchens mit seinem Körper wird vor allem an der Unruhe deutlich, die alle biologischen Funktionen in ihm auslösen. Der Körper ist für es die Ursache von Unordnung, Willkür und „Undurchschaubarkeit" (S. 51), „ein Haufen Fleisch" (ebd.) der auf geradezu feindliche Weise sein Eigenleben führt. Unordnung führt für das Mädchen zu Fäulnis, Tod und Verwirrung (vgl. S. 46) Dinge, an die es nicht denken will, und denen es mit der Ordnung, die das Heim verbürgt und der es sich widerspruchslos unterwirft, entgegentritt.

Die Verantwortung für diesen unberechenbaren Körper wird dem Mädchen auf der Krankenstation abgenommen (vgl. S. 52/53). Es genießt diesen Rückzug, der, da er vom Körper erzwungen wird, keinerlei besondere Willensanstrengungen von ihm erfordert. Auf der Krankenstation erreicht die Verdinglichung und Entindividualisierung ihren Höhepunkt. Der Mensch als Subjekt scheint vollkommen ausgelöscht. Der Körper wird vor allem unter den Gesichtspunkten des Funktionierens, d. h. wie eine Maschine betrachtet. Das Mädchen kann sich fallen lassen und sich vollkommen verkriechen. Andere übernehmen die Verantwortung für seinen Körper. Im Bett fühlt es sich von einer vorgeburtlichen Wärme umschlossen, die Geborgenheit verspricht. Doch die Furcht, durch diese Sonderbehandlung seinen untersten Platz in der Heimhierarchie zu verlieren, schmälert das Glück des Mädchens.

Der Körper fordert seinen Tribut nicht nur durch häufiges Kranksein, sondern auch durch eine Essgier, die den Unwillen und Ekel der anderen Heimbewohner erregt. Dieser unstillbare Hunger zwingt das Mädchen zum Handeln. Es wird damit zur Zielscheibe für mit den gemeinsamen Mahlzeiten verbundene Gemeinheiten und Grausamkeiten, die es passiv und schweigend erträgt. Die Innensicht in die Gedanken des Mädchens macht jedoch deutlich, dass diese Passivität durch eine große Willensanstrengung erkauft ist. Um die Größe seines Körpers vergessen zu machen, muss es so tun, als sehe und höre es nicht, was um es herum vorgeht. Nur wenn es die Gemeinheiten, die ihm angetan werden, wieder vergisst, kann es in den Strom der Gleichaltrigen eintauchen, um einen Platz in der Gemeinschaft zu erlangen, der zwar nicht ehrenhaft ist, es aber trotzdem mit Glück erfüllt.

Die vollkommene „geistige Neutralität" des Mädchens führt schließlich zu seiner physischen Neutralität (vgl. S. 82). Die Angriffe auf das „schwankende, strauchelnde und zugleich verschlossene Stück Fleisch" (S. 82) erlahmen, da ihnen keinerlei innerer Widerstand entgegengesetzt wird. Das Mädchen erhält den Status eines Möbelstücks: es gehört wie selbstverständlich zum Inventar und wird vergessen, wenn es nicht gebraucht wird.

Schließlich geht die physische Neutralität des Mädchens so weit, dass sogar seine Monatsblutungen aufhören, das körperliche Merkmal seines biologischen Alters. Die geistige Kraftanstrengung, alles zu vergessen, was außerhalb der Anstalt existiert, wirkt auf den Körper zurück und lässt ihn erstarren. „Wie ein fleischerner Block steht es auf dem Spielfeld" (S. 97). Ein kleiner Hügel auf dem Heimgelände wird zu einem unbezwingbaren Berg (vgl. S. 96). Der Abstand zu den Gleichaltrigen, die sich weiterentwickeln, vergrößert sich. Wenn das Mädchen Zeuge der erwachenden Sexualität seiner Klassenkameraden wird, muss es sich übergeben. Schließlich kann es nur noch in der Erinnerung seinen Platz in dem Heimalltag behaupten, während es bewegungslos auf der Krankenstation liegt. Die Reaktionen der Klassenkameraden und Zimmergenossinnen zeigen jedoch, dass es nie ein wirkliches Mitglied der Heimgemeinschaft war. Das Schweigen, das sein Verschwinden begleitet, zeugt von einer außerordentlichen untilgbaren Beleidigung, wie der Erzähler bemerkt, und von der Hoffnung, es möge nicht zurückkehren (vgl. S. 119).

Seine letzte Krankheit und die Reaktionen der Umwelt darauf machen klar, dass das Mädchen als Störung des normalen Ablaufs der in der Gemeinschaft herrschenden und ihre Hierarchie bestimmenden Regeln angesehen wird. Die Provokation, die von seiner schweigenden, alles aufsaugenden Existenz ausgeht, besteht darin, dass es sich durch seine Passivität nicht in die Gemeinschaft einfügt, nicht mitkämpft, nicht mit intrigiert und nicht handelnd eingreift. Durch die Weigerung, die gesellschaftlichen Spielregeln in Handeln umzusetzen, werden diese in Frage gestellt. Die Gesellschaft weist jedoch alle Kritik zurück. Vielmehr wird der Versuch des Mädchens, sich in eine andere Identität zu flüchten, als schuldhaftes Verhalten gesehen. Diese Schuld materialisiert sich in dem ungehobelten Körper, in dem formlosen Stück Fleisch, das sich der Formung widersetzt. Durch die Weigerung, die Spielregeln der Gesellschaft zu befolgen, werden diese in ihrer Härte, ihrer Lieblosigkeit und in ihren Machtstrukturen sichtbar. Dies aufgedeckt zu haben, ist eine Schuld, die die Umwelt dem Mädchen nicht verzeiht.

Auf der Textoberfläche erscheint das Experiment des Mädchens als gescheitert. Auf einer symbolischen Ebene kehrt hier jedoch die Metapher des Spiegels wieder. Diente das Spiegelverbot in dem Kinderheim dazu, dem einzelnen eine Selbstbespiegelung und Auseinandersetzung mit seiner individuellen Identität zu verweigern, so ergibt sich auf einer übergeordneten Interpretationsebene in der parodistischen Hyperaffirmation gesellschaftlicher Normierungen und der gleichzeitigen Verweigerung von Entwicklung eine Spiegelung real existierender Herrschaftsstrukturen, die kritisch hinterfragt werden. Durch die Imitation kindlicher Verhaltensweisen werden dabei auch als unveränderbar erscheinende biologische Voraussetzungen in ihrer Manipulierbarkeit sichtbar.


Die leitenden Konzepte der Erzählung

Auf der Textoberfläche kommt die Geschichte vom alten Kind auf der letzten Seite durch das plötzliche Auftauchen der Mutter des Findelkindes, das sich in eine Frau verwandelt hat, zu einem Abschluss. Die Ich-Perspektive des letzten Satzes, („ich kann mich gar nicht an dich erinnern" S. 125) lenkt jedoch den Fokus noch einmal auf die Protagonistin und damit auf die ungelösten Fragen nach ihrer Entwicklung und nach der Motivation für ihr Verhalten. Auf einer übergeordneten Ebene kann deshalb von einem offenen Schluss gesprochen werden. Der Rezipient sieht sich auf die Geschichte selbst zurückverwiesen, um dem Rätsel des Mädchens näher zu kommen. Erst in einer zweiten Lektüre werden die in der knappen aber präzisen Sprache mitschwingenden leitenden Konzepte klarer erkennbar, wobei jedoch die Ambivalenz der Aussage nicht eingeschränkt wird.

Die abstrakten Konzepte von Verantwortung und Schuld strukturieren die Erzählung. Sie werden am Ende in der Scham sichtbar, die der Mutter „ins Gesicht geschrieben" (S. 125) steht, als man sie an das Bett der Tochter „schiebt" (ebd.). Die Mutter fühlt sich schuldig und übernimmt damit Verantwortung für die Entwicklung ihrer Tochter. Die Tochter dagegen wird von der Gesellschaft schuldig gesprochen, weil sie keine Verantwortung für sich übernehmen will. Das Scheitern des Versuchs, sich durch die Flucht in die Kindheit jeder Verantwortung zu entziehen, zeigt, dass jedes Lebensalter durch Normen geprägt ist, die einen gesellschaftlichen Konsens in Bezug auf einen Wertekanon voraussetzen. Die Nichterfüllung der Normen der Gesellschaft ist mit Sanktionen belegt. In der Verknüpfung der Konzepte von Verantwortung und Schuld wird deutlich, dass die Gesellschaft die Verletzung ihrer Normen nicht toleriert.

Zu Beginn der Erzählung steht mit den Elternbesuchen in dem Heim die Familie auf dem Prüfstand. In dem Bemühen des Mädchens, für potentielle Eltern unsichtbar zu bleiben, erscheint in der Opposition von Familie und Heim letzteres für das Mädchen attraktiver. Inwieweit die neue Umgebung aber wirklichen Schutz vor den Anforderungen gewährt, die ein familiäres Umfeld von dem Einzelnen erwartet, bleibt dahin gestellt. Trotzdem werden schon durch diese Konstellation Familienstrukturen hinterfragt. Ob der Schutz, den die Anonymität im Heim bietet, wirklich erstrebenswert ist, wird andererseits durch die Sehnsucht der anderen Kinder und Heranwachsenden nach der Welt draußen eher verneint.

Die Entwicklung des Individuums und seine Versöhnung mit den Anforderungen der Gesellschaft ist eines der zentralen Themen in der Literatur – nicht erst seit dem Bildungsroman des 18. und 19. Jahrhunderts. Hier sieht sich der Leser jedoch mit der Regression in ein früheres Entwicklungsstadium konfrontiert. An der Suche des Mädchens nach einem Spiegel wird allerdings deutlich, dass sich das Bewusstsein nicht ganz einfach ausschalten lässt. Nachdem alle äußeren Zeichen seines früheren Lebens durch die Übernahme der Anstaltskleidung von ihm abgefallen sind, will das Mädchen sehen, „ob sich sein Gesicht verändert hat" (S. 16). Dieses bewusste ‚Sich-kontrollieren-wollen’ verstärkt den Eindruck, dass die „ordnungsgemäße Wandlung" (S. 14) nur äußerlich stattgefunden hat, als eine Art Maskerade, hinter der sich ein reflektierendes individuelles Ich verbirgt. Der Spiegel als Symbol für den Blick der anderen ist gleichzeitig aber auch Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, der Versuch anhand seines Äußeren seine Position in der Gesellschaft zu überprüfen.

Das Mädchen „will sich selber in seinem neuen Leben betrachten, will sehen, ob sich sein Gesicht verändert hat infolge des Beginns dieses neuen Lebens, muss aber feststellen, dass es in seinem Zimmer keinen Spiegel gibt. Es wird umhergehen und bemerken, dass weder auf der Toilette noch auf irgendeinem Flur, noch irgend sonst in dem Heim ein Spiegel angebracht ist. Es wird schließlich, schon im Vorgefühl einer Schuld und deshalb so beiläufig als möglich, nach einem Spiegel fragen und darauf erfahren, dass Eitelkeit eine der sieben Todsünden ist, Madam." (S. 16)

Der Erzähler wechselt hier unvermittelt die Blickrichtung von der Perspektive des Mädchens, das in seinen Schuldgefühlen schon das Verdikt vorweg nimmt, zu der der Erzieherin, die mit der Anrede „Madam" der Zurechtweisung besonderen Nachdruck verleiht. Die Normverletzung besteht darin, dass die Suche nach einem Spiegel als Ausdruck einer sich selbst bewussten Ich-Identität gewertet wird, deren Entwicklung in dem Heim offenbar nicht erwünscht ist. Indem der auktoriale Erzähler anschließend über die Blindheit der Erzieherin für die wahren Gründe des Mädchens nach der Spiegelsuche reflektiert, enthüllt er seine eigene Mitwisserschaft an dem Versteckspiel. Auf der narrativen Ebene versetzt die offensichtlich gelungene Täuschung über seine wahre Identität das Mädchen in einen Glückszustand. Auf der abstrakten Ebene der Konzepte werden durch die Erinnerungen des Mädchens an die „Zeit der Spiegel" (S. 16) Fragen nach einer Schuld aufgeworfen, die sich weniger aus der Eitelkeit als viel mehr aus der bewussten Täuschung ihrer sozialen Umwelt ergeben. Mit der als Rückschau gestalteten Erinnerung des Mädchens wird deutlich, dass der Rückzug aus der Gesellschaft für das Mädchen schon lange vor seiner bewusst betriebenen Einlieferung in das Heim begonnen haben muss. Durch das von der Protagonistin angestrebte Prinzip der Auslöschung von Identität wird neben der Altersidentität auch das für die Moderne maßgebende Konzept der Individualität in Frage gestellt. Es wird deutlich, dass die Entwicklung von Identität an die Übernahme von Rollenzuweisungen gebunden ist, die angenommen oder abgelehnt werden können.

Die zunehmende Unbeweglichkeit und Starre, die das Scheitern der Bemühungen des Mädchens ankündigen, ganz in die Gemeinschaft einzutauchen, stehen in Zusammenhang mit der sich leitmotivisch durch die Erzählung ziehenden Todesthematik. Dazu gehören neben der Starre die Krankheiten und die Schlafsucht des Mädchens als Metaphern für todesähnliche Zustände sowie die zahlreichen Hinweise auf den Tod durch Gewalt. Direkt angesprochen wird der gewaltsame Tod durch die als witzige Bemerkung gemeinte Aufforderung des Hausmeisters an das Mädchen, es solle seinen Kopf aus der Küchenluke zurückziehen, „sonst fällt das Schiebefenster herunter und schneidet dir den Hals durch" (S. 42). Dieses Motiv wiederholt sich in den Briefen „AN MICH" (S. 109), die in drei Fällen eine Todesdrohung aussprechen, um schließlich in dem letzten Brief festzustellen: „Du bist für mich gestorben" (S. 111). Mit der Todesthematik bekommt die Erzählung eine zusätzliche Dimension, durch die existentielle Grundfragen menschlichen Lebens angesprochen werden.

Der Tod, als unumkehrbares Ereignis, steht in Verbindung mit dem Konzept der Zeit, die in ihrem natürlichen Verlauf ebenso unumkehrbar ist wie der Tod. Der Versuch des Mädchens, „die Zeit anzuhalten" (S. 124), indem es sich in ein früheres Lebensstadium zurück versetzt, ist zum Scheitern verurteilt. Die erwachsene Frau beweint das Scheitern ihres Experiments und damit das endgültige Ende ihrer Kindheit.

In dem mit dem Tod verbundenen Konzept der Vergänglichkeit wird, auf einer übergeordneten Ebene, die Möglichkeit eines Neuanfangs sichtbar, der sich in dem Bild des duftenden Flieders ankündigt. Auch die Müdigkeit und Starre der Protagonistin schließen als Metaphern der Vergänglichkeit das Wiedererwachen neuen Lebens nicht aus. In dieses Konzept lässt sich die Erwähnung der Bombardierung Dresdens im Text einordnen (vgl. 100). Die mit diesem historischen Ereignis verbundenen Bilder des Schreckens und der Gewalt bleiben im kulturellen Gedächtnis aufbewahrt, indem sie in einer „Geburtstagsfeier" (S. 101) erinnert werden. „Jetzt, da das Bombardement lange her ist, gibt es die Stadt wieder", heißt es im Text (S. 100). Neben der Verortung in einen geographischen Raum wird hier die Geschichte vom alten Kind in einen realen historischen Kontext gestellt, in dem Zerstörung und Wiederaufbau als Koordinaten für eine mit dem Fortschreiten der Zeit verbundene Dynamik stehen.

Vom überraschenden Ende her, in dem die Metamorphose des unförmigen Kindes zu einer Frau von 31 Jahren erfolgt, erhält die Erzählung ihren poetischen Reiz. Sie kann als ein in sich geschlossenes Kunstwerk betrachtet werden, das neben der Handlungsebene und der abstrakten Ebene der Konzepte auf einer dritten Ebene Aussagen über die Entstehung und Funktion von Kunst allgemein erkennen lässt. Dieser Diskurs ergibt sich aus den Metaphern, mit denen die Veränderungen des Mädchens geschildert werden: „Innerhalb von zwei Wochen treten aus dem zwar rauen und ungeschlachten, aber ehemals doch entschieden kindlichen Gesicht die Züge einer Frau hervor, so als wäre die Krankheit ein Künstler, dem es endlich gelungen ist, eine in Stein eingeschlossene Gestalt freizulegen" (S. 122).

Hier wird eine Verbindung hergestellt zu den Metaphern am Beginn der Erzählung, die an die Arbeiten eines Bildhauers denken lassen: „Von den Schultern abwärts, ist es wie aus einem Stück gehauen" (S. 8), – „das Mädchen sieht einem Holzkloben nicht unähnlich" (S. 14), – „wie ein fleischerner Block" (S. 97). Aus dem unförmigen Körper hat sich eine Gestalt herausgeschält, wie in einem Geburtsvorgang.

Diese Entstehung von etwas Neuem oder etwas anderem aus einer vorhandenen Materie ist dem kreativen Akt des Künstlers vergleichbar. Aus einer tatsächlichen Begebenheit und eigenen Erlebnissen hat Jenny Erpenbeck die Erzählung Geschichte vom alten Kind als ein ästhetisches Kunstwerk geschaffen, indem sie die in der Literatur häufig thematisierte Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit aufgreift. Können wir das Verstreichen der Zeit aufhalten? Was geschieht, wenn wir versuchen, „in der Zeit herumzuspazieren, wie in einem Garten" (S. 124)? In der Realität muss dieser Versuch scheitern. Der literarische Text jedoch kann in einem kreativen Akt die Zeit zum Stillstand bringen. Vergangenheit und Zukunft werden im fiktionalen Präsens in der Geschichte vom alten Kind vergegenwärtigt. Trotz der Erwähnung der Bombardierung Dresdens erfüllt die Erzählung die Kriterien der Zeit- und Ortlosigkeit, insofern als das Kinderheim in jeder Stadt stehen könnte. Eine Verbindung zu Kunst und Literatur wird im Text hergestellt, wenn es von dem Mädchen heißt: „Es ist ein unbeschriebenes Blatt" (S. 20), und das Erscheinen der Buchstaben auf dem Papier als „Auftritt der verlorenen Zeit" (S. 21) bezeichnet wird.

Die Konzepte der Unumkehrbarkeit der Zeit, der Verfallenheit des Lebens an den Tod, die Entstehung neuen Lebens aus dem Verfall sind immer wiederkehrende Topoi der Literatur. Zu diesem poetischen Diskurs gehören auch die Märchenbilder, in denen Verantwortung und Schuld, Vergänglichkeit, Gewalt und Tod, aber auch Erlösung und Metamorphose angesprochen werden (vgl. 110 f.). In den Märchenmotiven erhält die Erzählung darüber hinaus eine zeitlose, mythische Dimension. Auch den Ärzten erscheint der Versuch des Mädchens, die Zeit anzuhalten, als „etwas Anstößiges, etwas Hochmütiges, den Lauf der Dinge Verachtendes, ja Gott Versuchendes" (S.124). Diese Reaktionen der Umwelt wecken Assoziationen an die Schöpfungsgeschichte der Genesis und an den Sündenfall des ersten Menschenpaares. Der Versuch, in die Unschuld eines kindlichen Paradieses zurück zu kehren, musste scheitern. Es bleibt jedoch die Sehnsucht nach einer besseren Welt, die in der Weigerung der Protagonistin, ihre Mutter zu kennen, aufscheint. Die auf der Textoberfläche deutlich werdende Ambivalenz der Aussage zeigt sich damit auch auf der Metaebene des Kunstdiskurses in einem die Zeit überdauernden ästhetischen Anspruch bei gleichzeitiger Gebundenheit an die sich verändernde Realität.


Parallelen zur Literatur der Altersbilder

Die Analyse der Konzeptstruktur der Erzählung zeigt, dass in der Geschichte vom alten Kind neben allgemeinen literarischen Topoi auch Themen, die im Diskurs der literarischen Altersbilder eine Rolle spielen, auftreten. Die Opposition alt – jung, die im Titel erscheint, kehrt in der Narration in den sprachlichen Bildern wieder. Der körperliche Verfall des Mädchens (seine zunehmende Starrheit und Unbeweglichkeit) hat seinen Ursprung nicht in biologischen Voraussetzungen, sondern entspringt psychischem Stress, der sich aus der Anstrengung ergibt, etwas anderes scheinen zu wollen als es der anatomischen und bewusstseinsmäßigen Verfassung der Protagonistin entspricht. Indem die Autorin nur Einblicke in das Bewusstsein des Mädchens zulässt, die sein Bemühen um einen Platz in der Heimordnung, der keine Entscheidungen von ihm verlangt, belegen, und nichts über die Motivation, die dahinter steht erzählt, bleiben viele Fragen offen.

Durch die wechselnde Perspektive wird die Aufmerksamkeit des Lesers jedoch auf den hohen Bewusstseinsstand und die Reflexionsfähigkeit der Protagonistin gelenkt, und so das Spiel mit der Altersidentität als ein bewusster Rollenwechsel durchschaubar. Dies zeigt sich u. a. daran, dass das Mädchen beginnt, den Mitschülern bei der Lösung von Prüfungsaufgaben zu helfen, ohne die richtigen Lösungen für sich selbst zu verwenden. Dies grenzt „an Idiotie" (S. 78), heißt es im Text. Hier wird das Auseinanderklaffen von inszenierter Kindlichkeit und einem entwickelten Bewusstsein besonders deutlich. Darüber hinaus fühlt sich der Leser durch den distanzierten Berichtstil und die stellenweise groteske Metaphorik herausgefordert, die dargestellten Sachverhalte kritisch zu beurteilen. Obwohl indirekt deutlich wird, dass der Flucht in die Kindheit ein subjektiver Leidensdruck voraus ging, entwickelt sich in der Rezeption kein wirkliches Mitgefühl für die Protagonistin.

In den grotesken Schreibweisen nähert sich die Erzählung den Topoi des Altersspotts an. Die biologischen Voraussetzungen als Begrenzung einer Altersidentität werden in diesen Texten ebenso wie in der Geschichte vom alten Kind hinterfragt und eröffnen damit individuelle Freiräume für eine neue Gestaltung des Alters. Jedoch wird, ebenso wie in der Geschichte vom alten Kind der Konventionsbruch, d.h. das Spiel mit der Altersidentität in fast allen literarischen Texten von der Umwelt bestraft. Es stellt sich daraus folgernd die Frage, inwieweit ist es dem einzelnen Menschen überhaupt möglich, seinen biologischen Voraussetzungen und den daran geknüpften Erwartungen der Gesellschaft zu entfliehen?

Ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, den mit dem biologischen Alter verknüpften Konventionen zu entfliehen, enthält der Roman Die Dame in Blau von Noelle Châtelet [13]. Sie schildert darin eine Variante des Alterslobs, die mit dem Rückzug aus der Gesellschaft einhergeht. Ähnlich wie in der Geschichte vom alten Kind dient auch hier die Performanz eines dem biologischen Alter nicht entsprechenden Verhaltens dazu, gesellschaftliche Strukturen zu kritisieren und ihre Willkürlichkeit und Veränderbarkeit freizulegen. Die 52 Jahre alte Protagonistin weigert sich, im Geschlechterkampf und in dem Kampf um die Karriere weiterhin eine aktive Rolle zu spielen. Sie verändert ihre äußere Erscheinung durch einen Haarknoten und dunkle Kleidung und stilisiert sich als alte Frau, um so in Ruhe die Ausgeglichenheit und kleinen Freuden eines beschaulichen Lebens genießen zu können. Statt den gesellschaftlichen Zwängen, die das Arbeitsleben ihr aufbürdete, unterwirft sie sich freiwillig der Ordnung eines Seniorenheims, in dem sie zeitweise ein Zimmer bewohnt. Auch hier reagiert die Umwelt mit Vorwürfen und Unverständnis auf eine dem biologischen Alter scheinbar nicht angemessene Altersperformanz. Die Reaktionen der Leiterin des Seniorenheims und ein junger Mann im Bus, der seinen Platz einer sehr viel älteren Dame anbietet, zeigen jedoch, dass die Performanz der Altersidentität nicht ganz von den biologischen Voraussetzungen abgekoppelt werden kann.

Judith Butler hat gezeigt, dass die mit der Geschlechtsidentität verbundenen Normierungen nicht mit natürlichen Voraussetzungen begründet werden können, dass sie sich vielmehr aus den Machtverhältnissen der patriarchalischen Gesellschaft ableiten lassen. In Parallele zur Emanzipation der Frauen weisen neue Altersbilder in der Literatur darauf hin, dass auch der alternde Mensch, um sich als Individuum behaupten zu können, den Kampf mit den gesellschaftlichen Festschreibungen aufnehmen muss. Jenny Erpenbeck macht deutlich, dass dieser Kampf schon im Kindesalter beginnt. Indem sie durch die ästhetische Darstellung die Grenzen des biologischen, kalendarischen und kulturellen Alters aufhebt, macht sie Mut zum "Spiel mit der Performanz von Altersidentität" [14]. Der Rückzug aus Verantwortung und aktiver Lebensgestaltung, wie er für das Alter in ähnlicher Weise in der Disengagementtheorie beschrieben wird, erscheint dabei als Verlust von Lebensqualität und als eine auch den körperlichen Verfall beschleunigende Variante.


Anmerkungen

  1. Vgl. Wikipedia. Die freie Enzyklopädie: Hedda Zinner, http://de.wikipedia.org/wiki/Hedda_Zinner
  2. Vgl. ebd.: Fritz Erpenbeck, http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Erpenbeck
  3. Vgl. ebd.: Jenny Erpenbeck, http://de.wikipedia.org/wiki/Jenny_Erpenbeck
  4. Lit.Cologne, 17.03.2005. Jenny Erpenbeck: „Die Erinnerung abstechen mit der Erinnerung“.
  5. Vgl. www.literaturkritik.de, Nr. 2, Februar 2000. Tobias Dennehy: „Weise Einfältigkeit vom unteren Ende der Hierarchieleiter“. Jenny Erpenbecks nüchterne und anstrengende Geschichte vom alten Kind, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=835
  6. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Ausgabe: Jenny Erpenbeck, Geschichte vom alten Kind, Frankfurt a. M. 2001 (Verlag btb)
  7. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt 1991. S. 206 u. 208
  8. Zitiert nach: Hildegard Backhaus: „Judith Butlers Konzept der Performativität von Identität“. In: Weimarer Beiträge. 1, 2002 . S. 51
  9. Miriam Haller: ‚Ageing trouble.’ Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung. In: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.) Altern ist anders. LIT VERLAG Münster 2004. S. 186
  10. Jenny Erpenbeck sagt von ihrer Protagonistin: „Wie ich sie beschrieben habe, ist sie ein fleischerner Block, sehr hermetisch verschlossen. Es hat mich gereizt, das in Sprache zu nehmen. Ein Buch wie ein Block, wo man als Leser immer draußen bleibt.“ Zitiert nach: br-online.de/kultur/literatur/lesezeichen: Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind.
  11. Vgl. Miriam Haller: ‚Unwürdige Greisinnen’. ‚Ageing Trouble’ im literarischen Text. In: Heike Hartung (Hg.) Alter und Geschlecht. Transcript Verlag Bielefeld 2005. S. 60-61
  12. Vgl. Backhaus, a.a.O., S. 43
  13. Noelle Châtelet: Die Dame in Blau. KiWi Köln, 2002
  14. Siehe Anmerkung 12