Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther

Aus Literarische Altersbilder

Inhalt und Struktur

Das 2014 im Suhrkamp Verlag erschienene Werk[1] wurde bereits ein Jahr vorher bekannt, weil Petrowskaja für die Geschichte mit dem Titel „Vielleicht Esther“, den anschließend der gesamte Text erhielt, mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 ausgezeichnet wurde. Das im Untertitel als „Geschichten“ bezeichnete Werk besteht aus sechs Kapiteln mit insgesamt 66 einzelnen Geschichten. Vor Kapitel 1 steht die als Prolog fungierende Geschichte mit dem Titel „Google sei Dank“, den Schluss bildet eine Art Epilog mit dem Titel „Kreuzung“.

In der ersten Geschichte lernt der Leser die am Berliner Hauptbahnhof auf den Zug nach Warschau wartende Ich-Erzählerin kennen, die einem alten Juden, der aus Teheran stammt, und seiner jüdisch stämmigen Ehefrau aus Weißrussland begegnet, beide amerikanische Staatsbürger, die nach den Wurzeln ihrer Familie suchen wollen. Von ihnen wird sie nach der Bedeutung des am Dach des Bahnhofs befestigten Schriftzugs „Bombardier Willkommen in Berlin“ gefragt. Die Ich-Erzählerin kennt die Bedeutung des Wortes „Bombardier“ nicht, lässt sich das aber nicht anmerken und erzählt, dass es sich um ein Musical handele. Ihre Antwort erscheint sowohl dem Fragesteller als auch vermutlich vielen Lesern glaubhaft, wobei mit der für die Lüge gegebenen Begründung „wer nicht lügt, kann nicht fliegen“ (S. 9) zugleich der selbstreflexive Charakter des Textes angesprochen wird.

Das erste Kapitel trägt den Titel „Eine exemplarische Geschichte“ und hat auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der Eröffnungsgeschichte am Berliner Bahnhof. Das dort angelegte literarische Motiv der Reise wird zunächst nicht aufgenommen, sondern das Ich erinnert sich an seine Familie, deren Stammbaum aus der Perspektive des Kindes als Tannenbaum vorgestellt wird (S. 17), womit aus dem Zeichen des Genealogisch-Organischen ein Fest- und Kulturzeichen wird. In der ersten Geschichte des Kapitels werden zwei Motive im Sinne der Motivation deutlich: die Aufarbeitung der Geschichte des letzten Jahrhunderts („man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, […] und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche“ (S. 17)) und die Darstellung der Geschichte der eigenen Familie, die als exemplarisch gesehen wird, wenn es heißt: „In meiner Familie gab es alles, […] vor allem aber gab es Legenden.“ (S. 17) Die Ich-Erzählerin führt den Leser zurück in ihre Kindheit und Jugend, nämlich in den siebten Stock eines Kiewer Wohnhauses, wo sie mit Eltern, Bruder und zwei Großmüttern aufwächst und die Familie und sich selbst einerseits als glücklich (vgl. S. 20, 23), andererseits als zu klein, als unvollständig und verloren (vgl. S. 22, 23) empfindet, weshalb sie mit der Suche nach ihren Vorfahren beginnt („Akribisch sammelte ich ihre Namen“ (S. 27)) und mit Überraschung feststellt: „Jeder Stern schien mir ein geheimer Verwandter zu sein, auch die am Himmel.“ (S. 27) Da die Ich-Erzählerin die Vorfahren nicht mehr fragen kann, ist sie auf „Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven“ (S. 30) angewiesen. Beispielhaft werden Tante Lida, die ältere Schwester der Mutter, und Onkel Wil, der ältere Bruder des Vaters, vorgestellt. Auch einzelne Nachbarn im Kiewer Hochhaus werden skizziert und trotz ihrer Unterschiedlichkeit auch in einer entscheidenden Gemeinsamkeit verstanden: „[…] der Krieg war schuld, und das war das einzige, was hier stimmte“ (S. 44). Dass die Erforschung der Historie ein kontinuierlicher Prozess ist, wird durch die letzte Geschichte des Kapitels unterstrichen, in der die Ich-Erzählerin ein Museum in Berlin besucht und ihre Tochter auf einer Tafel mit den Nürnberger Gesetzen die Namen ihrer Familie vermisst (vgl. S 45).

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Lebensgeschichte der 1905 in Warschau geborenen Großmutter Rosa, die als letzte die Familientradition des Unterrichts für Taubstumme gepflegt hat. Diese Tradition wird durch einen 1864 in einer jiddischen Zeitung in Lemberg veröffentlichten Artikel über Simon Geller und seine Schule (vgl. S. 52) beglaubigt. Die Genealogie der Familie wird mit dem Alten Testament (vgl. S. 50) in Verbindung gebracht, das als Subtext zusammen mit Motiven der antiken Mythologie das ganze Werk begleitet. Zugleich wird das Judentum als prägendes Element der Familiengeschichte betont, von dem sich die Erzählerin allerdings auch distanziert: „Unser Judentum blieb für mich taubstumm und die Taubstummheit jüdisch. Das war meine Geschichte, meine Herkunft, doch das war nicht ich“ (S. 51).

Mehrfach ist im zweiten Kapitel von der ersten Auslandsreise der Erzählerin die Rede, die sie im Jahre 1989 für sechs Tage nach Polen führte (vgl. S. 57), womit das Leitmotiv der Reise wieder aufgenommen wird. Ein weiteres Leitmotiv wird durch die Geschichte mit dem Titel „Wünschelrute“ hervorgehoben, und zwar das Motiv der Sprache. In dieser Geschichte begründet die Erzählerin, warum sie sich für die deutsche Sprache zur Abfassung ihres Textes entschieden hat. Die fremde, von ihr erst als Erwachsener gelernte Sprache schafft „ein Gleichgewicht gegenüber unserer Herkunft“ (S. 78) und „war mir eine Wünschelrute auf der Suche nach den Meinigen“ (S. 79). Auch bei diesem Thema findet sich das den gesamten Text bestimmende Prinzip der Ambivalenz, wenn es heißt: „Mein Deutsch, Wahrheit und Täuschung, die Sprache des Feindes, war ein Ausweg, […] eine Liebe, die nicht vergeht, weil man sie nie erreicht, Gabe und Gift“ (S. 80).

Ganz ähnlich wie das erste Kapitel endet auch das zweite in der Gegenwart der Erzählerin und des Lesers. In der Geschichte mit dem Titel „Facebook 1940“ wird davon erzählt, dass die Mutter der Erzählerin Silvester 2011 in Kiew einen Anruf einer 88-jährigen Frau aus Jerusalem erhält, die 1940 Rosas Taubstummenschule verließ, nach dem Krieg Gehörlosenpädagogin wurde und sich dankbar an Rosa erinnert.

Das mit dem Titel „Mein schönes Polen“ überschriebene dritte Kapitel beginnt mit der Erläuterung der zwiespältigen, gleichermaßen durch Stolz auf die polnische Herkunft eines Teils ihrer Familie wie durch Scham über die russische Schuld geprägten Gefühle der Erzählerin gegenüber Polen. Warschau erscheint als Schauplatz von Katastrophen, insbesondere der Vernichtung der Juden des Ghettos und der russischen Massenmorde unter Stalin. Der Leser erfährt von der Taubstummenschule ihres Urgroßvaters in Warschau, dessen Leben den Mittelpunkt des Kapitels bildet, und ihrer schwierigen Suche nach dem Haus dieser Schule. Die Recherche im Jewish Genealogy & Family Heritage Center führt sie zu Nachrichten vom Tod zweier in Treblinka internierter Verwandter. Deren Tod wurde in Yad Vashem von ihrer Nichte Mira bezeugt, die als mittlerweile 87-Jährige in den USA lebt und mit der die Erzählerin telefonisch Kontakt aufnimmt. Dabei erfährt sie auch von in London lebenden Verwandten, so dass der Eindruck eines weltweiten Familiennetzes entsteht, in dem die Menschen - „Related through Adam“(S.122) – miteinander verbunden sind. Die Verbindung umfasst nicht nur die Familie. Die zufällige Begegnung mit ihrem Berliner Nachbarn, der in Warschau als Opernsänger in einer Inszenierung der „Oresteia“ von Xenakis singt, führt zu grundsätzlichen Reflexionen über das Töten unter miteinander lebenden Menschen und verbindet die jüngere Vergangenheit nicht nur mit der Gegenwart, sondern auch mit der griechischen Mythologie, die ihrerseits für die Erzählerin schon als Kind bedeutsam war. Die subjektive Betroffenheit der Erzählerin, von der es heißt: „nirgendwo habe ich mich so perfekt verloren gefühlt wie hier in Warschau“ (S. 115), steigert sich noch durch den Besuch des Castings einer Videokünstlerin, bei dem es um Rollenspiel und Geschlechtswechsel geht. In der polnischen Stadt Kalisz, in der die Erzählerin in einem Archiv Dokumente über die Vorfahren ihres Vaters findet, wird die Familiengeschichte auf die jüdische Geschichte hin ausgedehnt, denn sie läuft über Straßen, die nach der Vertreibung der Juden mit den zersägten Grabsteinen des jüdischen Friedhofs gepflastert wurden; bei späteren Bauarbeiten drehte man diese Pflastersteine achtlos um, wobei die hebräischen Buchstaben zum Vorschein kamen.

Das vierte Kapitel trägt den Titel „In der Welt der unorganisierten Materie“ und nimmt damit eine Formulierung von Judas Stern auf, dem Großonkel der Erzählerin, der 1932 in Moskau ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat verübt hatte und dafür in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wurde; in diesem Prozess fragt er den Generalstaatsanwalt: „Wann schicken Sie mich in die Welt der unorganisierten Materie?“ (S. 167) Die Recherche zu diesem historischen Ereignis und dessen Bedeutung für die Familie der Erzählerin steht im Mittelpunkt des Kapitels. Ihr Vater, ein Neffe von besagtem Judas Stern, kam in Folge einer im Zusammenhang mit der Aufklärung des Attentats stehenden Hausdurchsuchung als Frühgeburt zur Welt.

In einem Strang des Kapitels wird die Geschichte des Attentats erzählt, zu dem die Erzählerin - je nach Interessenlage der verschiedenen Quellen - unterschiedliche Berichte und Interpretationen der Ermittlungen und des Prozesses findet. In einem zweiten Strang wird die Familiengeschichte des Judas Stern erzählt. Der Vater lebt mit diesem Attentat als einem „Damoklesschwert“ (S. 146) der Angst, das über ihm hängt, und lässt den Täter zum Familiengespenst werden, das als bedrohliches Familiengeheimnis in den Untergrund verbannt wird. Beide Erzählstränge entwickeln eine beunruhigende Uneindeutigkeit, die Verunsicherung hinterlässt. Die Darstellung des Lebens von Semjon, dem Großvater der Erzählerin und Bruder des Attentäters, führt in die Geschichte der Sowjetunion und verweist auf die Verbindung der Juden zur russischen Revolution und den anschließenden Aufbau der Geheimdienste. Semjon, der mit dem Decknamen Petrowskij während der Revolution abgetaucht ist und dann eine Weile für den Geheimdienst gearbeitet hat, bricht mit seiner jüdischen Herkunft und baut den neuen Staat mit auf, was bis in die Generation der Enkelin wirkt. Sie ist in dieser Tradition zunächst kritiklos aufgewachsen, ohne Ahnung von ihren jüdischen Wurzeln, entdeckt dann aber doch ihre Familiengeschichte und beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit der Angst, die für ihre Herkunftsfamilie kennzeichnend war. So bewegt ihre eigene Angst, bei der Suche nach der Attentatsgeschichte ihres Großonkels in die Fänge des russischen Geheimdienstes zu geraten, sie dazu, die berüchtigte Lubljanka in Moskau zu meiden und ihre Recherche in Berlin durchzuführen.

Das Schicksal des Großvaters der Erzählerin und seines Bruders steht damit stellvertretend für die zwiespältige Geschichte der russischen Juden und der Sowjetunion. Einerseits gingen sie in den Widerstand gegen das Zarenreich und schlossen sich der Revolution an. Am Beispiel des älteren Bruders Semjon wird deutlich, wie sie sich von ihren jüdischen Wurzeln trennten, um dabei mitzuwirken, die Sowjetunion zu einem gewaltigen Staatsgebilde zu machen, das mit seinem Geheimdienst Angst und Schrecken verbreitete und so bedrohlich wurde, dass der Bruder Judas Stern in Opposition zu diesem System ein Zeichen setzt und als Attentäter sein Leben lässt. Andererseits bleibt er als Angst stiftendes Familiengespenst eine Bedrohung für den abgespaltenen Teil der Familie, die sich bis in die jüngste Generation der Erzählerin zunächst mit dem System arrangiert hatte.

Im Zentrum des fünften Kapitels steht der den Titel gebende Ort „Babij Jar“, den die Erzählerin bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt Kiew aufsucht. Die historischen Fakten zu Babij Jar werden so exakt wie möglich berichtet, es werden Zahlen und Daten genannt, „33771 Menschen“ (S. 186), alle jüdischen Einwohner Kiews, wurden in dieser Schlucht im September 1941 in zwei Tagen von den Deutschen umgebracht. Das Massengrab wurde später unter Stalin zugeschüttet und dem Erdboden gleich gemacht, erst 35 Jahre später wurde ein Denkmal errichtet, das aber die Juden nicht erwähnt, sondern nur die „Sowjethelden“ (S. 187).

Petrowskajas Erzählerin setzt nicht bei diesen Fakten an, sondern gewissermaßen bei einem ahnungslosen Besucher (vgl. S. 183) und dem heutigen Freizeitpark an dieser Stelle, ein Verfahren, durch das der Leser in ihre Auseinandersetzung mit Babij Jar hineingezogen wird. Für die Erzählerin ist Babij Jar ein Teil ihrer jüdischen Geschichte, diese Zugehörigkeit löst sie aber sogleich durch den Hinweis wieder auf, dass angesichts der Opfer die Gruppenzugehörigkeit unwichtig sein sollte, dass man als Mensch an sich trauern sollte (vgl. S. 184), sie gibt aber doch zu, dass es einen Unterschied macht, ob eigene jüdische Verwandte hier getötet wurden oder nicht. So zeigen die in diesem Kapitel erzählten Schicksale verschiedener Verwandter die persönliche Dimension der Judenverfolgung, insbesondere die dem gesamten Text den Titel gebende Geschichte „Vielleicht Esther“. Sie ist die vom Vater der Erzählerin nur Babuschka genannte Großmutter, die 1941 bei der Flucht der Familie vor den Deutschen allein in Kiew zurückblieb und erschossen wurde. Die Unsicherheit über ihren richtigen Namen paart sich mit den Ungewissheiten hinsichtlich der Umstände ihres Todes sowie der unsicheren Erinnerungen an die Evakuierung der Familie. Die Erzählerin glaubt sich daran zu erinnern, dass ihr Vater ihr geschildert hat, dass die Familie nur Platz auf dem LKW fand, indem ein dort schon deponierter Fikus wieder von der Ladefläche genommen wurde. Als der Vater sich später nicht mehr daran erinnern kann, tröstet er seine Tochter mit den Worten „Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht“ (S. 219).

Das sechste Kapitel trägt den Titel „Deduschka“ (dt. Großvater) und dreht sich um das Leben des Großvaters mütterlicherseits, der 1941 in den Krieg gezogen war, bei Kiew eingekesselt wurde, vier Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft verbrachte und danach in ein sowjetisches Lager kam, aus dem ihn eine Frau rettete, bei der er in Kiew blieb. Erst 1982 kehrte er zu seiner Familie zurück, wo er ein Jahr später starb. Die Ich-Erzählerin hat ihn erst als Zwölfjährige kennengelernt und forscht als Erwachsene nach seinem Verbleib während der 41 Jahre seiner Abwesenheit.

Anlass der Recherche ist auch in diesem Fall die zwiespältige Empfindung bei den Erklärungen seines Lebensweges: „Zwischen dem Kessel bei Kiew und dem Sessel in unserer Wohnung [in dem er die ganze Zeit saß und lächelte, vgl. S. 228] öffnete sich ein schwarzes Loch“ (S. 231). Die Geschichten dieses Kapitels behandeln einerseits das Leben der Erzählerin als Kind in Kiew, wo sie u.a. die staatlich organisierten Veteranen-Ehrungen erlebt, und ihre Erinnerungen an den Großvater, andererseits ihre Reise nach Österreich, besonders zum KZ Mauthausen. Mit der Rückkehr des Großvaters gewinnt die Familie, die anders als viele andere kein Stück Land hatte, einen Garten, aber es ist ein „Garten voller Rosen“ (S. 235), mit Apfelbäumen und einem „Paradiesapfelbaum“ (S. 237). Die geringe Nutzbarkeit dieses Gartens hinsichtlich verwertbarer Lebensmittel lässt bei der Erzählerin die Frage aufkommen, ob ihr bereits in den dreißiger Jahren in der Landwirtschaft tätiger Großvater sich schuldig gemacht haben könnte bei der durch die Kollektivierung entstandenen Hungersnot und der Ausrottung der Bauernschaft. In scharfem Kontrast zur Idylle des Gartens stehen die Geschichten des Kapitels, die das Schicksal der Kriegsgefangenen behandeln. So ist die Erzählerin in einem Mail-Verteiler, der wöchentlich einen Brief eines sowjetischen Kriegsgefangenen verschickt (vgl. „Freitagsbriefe“). Während der Österreich-Reise kontrastiert die Schilderung der Landschaft mit ihren touristisch attraktiven Angeboten, deren Höhepunkt der Almbesuch bei „Hans“ ist, mit der Beschreibung von Soldatenfriedhöfen und Gedenkstätten, dem Besuch des KZ Mauthausen (vgl. „Beim Großvater“, „Sisyphus“) und der Sichtung von Archivmaterialien zum Marsch der ungarischen Juden vom KZ Mauthausen ins Lager Gunskirchen. Die Erzählerin kann die Frage, wie es ihrem Großvater gelungen ist, all diese Etappen seiner Gefangenschaft zu überleben, letztlich nicht klären. Ihre Reise endet in Wien, wo kurz zuvor Otto von Habsburg gestorben ist, sie aber das „Begräbnis […] verpasst, wie auch das angekündigte Ende Europas“ (S. 279). Damit kontrastiert die Bekanntschaft eines Deutschen, mit dem sie tanzen geht, wobei auch von den jeweiligen Großvätern gesprochen wird, „die in Kriegsgefangenschaft gewesen waren, seiner als Deutscher in Sibirien, meiner als Russe in Österreich“ (S. 279).

In der letzten Geschichte treffen wir die Erzählerin erneut in Kiew vor dem Haus ihrer Kindheit und Jugend, wo sie über ihre deutschen Wurzeln nachdenkt, weil sie „als Kreuzung zweier Straßen mit deutschen Namen entstanden“ (S. 281) ist, nämlich der nach Engels und Liebknecht benannten Straßen, in denen Vater und Mutter zur Welt kamen. Die Kreuzung kann als Metapher für Kommen und Gehen, Ursprung und Ende, die Wiederkehr des immer Gleichen verstanden werden, was durch das in den Text eingefügte Gedicht des Russen Alexander Blok (1880-1921) unterstützt wird. An der Ampel wartend, wird die Erzählerin in einer fast surreal wirkenden Szene von einer alten Dame angesprochen, die sie wegen der Häufigkeit ihrer Anwesenheit tadelt. Die Erkenntnis: „sie hat recht, ich kehre etwas zu oft hierher zurück“ (S. 283) begründet gleichsam den Abschluss der Recherchen, der Reflexionen und damit des Erzählens.

Petrowskajas Werk stellt im Wesentlichen die Suche der Ich-Erzählerin nach der Geschichte ihrer Familie dar, ist also eine historische Recherche, die sie im Untertitel als „Geschichten“ bezeichnet. Der Plural verweist u.a. darauf, dass es keine einheitliche Sichtweise in diesem Text gibt, dass es ihr unmöglich erscheint, von der Geschichte im Singular zu sprechen. Gleichzeitig assoziiert der Untertitel die Dimension der Fiktion, man denkt sofort an das Geschichten-Erzählen. Sowohl der Begriff der Erzählung als auch der des Romans hätten eine formale, konstruktive Geschlossenheit suggeriert, über die der Text gerade nicht verfügt, die er vielmehr bewusst unterläuft.

Ausgangspunkt für die Recherche der Erzählerin ist also ein als Mangel empfundener Zustand der eigenen Familie, das oben bereits erwähnte Gefühl der Unvollständigkeit, Einsamkeit (vgl. S. 22), das sie den Familienstammbaum suchen lässt. Dies erfordert geradezu ein Denken in Generationen.

(bearbeitet von Monika Hartkopf)


Die Genealogie der Familie und die Zeitgeschichte

In seinem Essay „Generation als Erzählung“[2] unterscheidet Björn Bohnenkamp zwei Bedeutungsebenen des Generationenbegriffs: die Generation als „Abkunft und Abfolge von einer anderen Generation“, d.h. als Genealogie, und die Entstehung einer Generation in einem bestimmten historischen Moment, der prägend ist für eine bestimmte Altersgruppe. Im ersten Fall steht die Familie im Vordergrund, „während es in historischen Generationen um die Gesellschaft als Ganzes geht“[3].

In Katja Petrowskajas Werk „Vielleicht Esther“ gewinnt der Leser zu Beginn den Eindruck, dass hier die Genealogie einer Familie im Mittelpunkt der Erzählung steht. Jedoch schon der Titel des ersten Kapitels „Eine exemplarische Geschichte“ weist darauf hin, dass der Rahmen derer, die zu dieser Familie gehören, weit gesteckt ist. Wenn die Ich-Erzählerin berichtet, welche Berufe und welche Positionen Mitglieder ihrer Familie innehatten, unterstreicht sie damit deren Eingebundensein in die jeweilige Gesellschaft, in der sie lebten. Dabei gibt es anscheinend weder eine räumliche noch eine zeitliche Begrenzung: Vertreter ihrer Familie waren in alle Welt zerstreut (vgl. S. 18 ff.), Hinweise auf den Stammbaum Christi, auf Kain und Abel und das Kapitel „Related through Adam“ (S. 122-126) eröffnen einen weiten Assoziationsspielraum. Auf der Suche nach den Namen ihrer jüdischen Verwandten in den Listen der durch die Nazis Ermordeten muss die Erzählerin feststellen, „dass ich alle Aufgelisteten zu den Meinigen zu zählen hatte“ (S.27).

Trotz dieses Assoziationsspielraums, der auf der Suche nach ihren Vorfahren durch die Ich-Erzählerin aufgerufen wird, handelt es sich bei der Erzählung „Vielleicht Esther“ nicht um ein opulentes Familienepos. Die sechs mit Namen genannten Generationen können nur indirekt erschlossen werden, und die damit verbundenen Daten fördern eher die Legendenbildung, als dass sie eine eindeutige zeitliche Zuordnung ermöglichten. Jedoch spiegelt sich in dem Lebensweg der einzelnen Familienmitglieder die Zeitgeschichte, und es wird deutlich, wie sehr das individuelle Leben von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt und abhängig ist. Während der Vater der Ich-Erzählerin erklärt, er brauche keine Verwandten, um einen Bezug zur Geschichte zu haben, beharrt sie darauf, dass ihr das individuelle Schicksal wichtig ist, da sie die Neigung habe, „alles in ein großes Panorama zu stellen“ (S. 180), um die historischen Zusammenhänge zu verstehen.

Indem die Erzählerin die Verbrechen des Naziterrors in Zusammenhang mit ihrer Familie stellt, entreißt sie die Opfer der Anonymität der Zahlen. Sie gibt ihnen durch ihre Namen ihre Individualität zurück und weckt damit gleichzeitig die Erinnerung an die unvorstellbare Unmenschlichkeit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis und das Grauen des Holocaust. In der Erzählung ertragen die einzelnen Familienmitglieder jedoch nicht nur passiv die ihnen von den gesellschaftlichen Verhältnissen auferlegten Zwänge, sondern sie versuchen je nach ihren Möglichkeiten darauf zu reagieren, verbliebene Freiräume zu nutzen oder sich zu widersetzen. Dabei bietet die Familie einen Zufluchtsort in dem Chaos der Kriege und ist ein Element der Kontinuität in dem durch wirtschaftliche und ideologische Brüche verursachten Wechsel der gesellschaftspolitischen Verhältnisse.

In der Familienerinnerung ranken sich die schönsten Legenden um den Urgroßvater Ozjel. Seine Taubstummenschule in Warschau beschreibt die Erzählerin als Hort der Ruhe und des Lernens, als Zuflucht für die Verlassensten der Gesellschaft. Hier wurde 1905 die Großmutter Rosa geboren, die die Tradition der Taubstummenschule fortführt und sich noch in hohem Alter um diejenigen kümmert, denen es ihrer Meinung nach schlechter geht als ihr. (S. 63) Der Urgroßvater Ozjel verlässt im 1. Weltkrieg mit seiner Familie Warschau, nachdem er als Spion in Haft war, und gründet eine Taubstummenschule in Kiew, die in den 20er Jahren als positives Beispiel fortschrittlicher Pädagogik großes Aufsehen erregt, in den 30er Jahren aber im Zuge der Repressionen der Stalinära gegen alles von der Staatsdoktrin Abweichende zunehmend eingeschränkt und mit Verboten belegt wird. Ozjel stirbt „rechtzeitig“, wie es im Text heißt (S. 100). Seine Tochter Rosa führt mit ihrer Tochter Lida die Taubstummenschule durch den Krieg in die 50er und 60er Jahre. Sie gehört zu der Generation der vor dem 1. Weltkrieg Geborenen, eine Zeitzeugin, deren Memoiren unleserlich sind, die aber trotzdem den nachfolgenden Generationen Orientierung und Halt geben kann. Die jiddische Sprache und Kultur hat sie noch in ihrer Jugend in Warschau kennen gelernt, und sie vermittelt diese Traditionen ihren Schülerinnen und Schülern in der Taubstummenschule in Kiew. Sie repräsentiert die Überlebenden der Kriege, der Verfolgungen, der Fluchten. Bis zu ihrem Tod steht sie zu ihren Werten und ist so ein Element der Kontinuität. In ihrem Leben spiegelt sich das gesamte 20. Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen.

Der Großvater väterlicherseits repräsentiert die junge Generation der Revolutionäre, die als Bolschewiki in die Geschichte eingegangen sind und nach der Vertreibung des Zaren beim Aufbau des kommunistischen Staates mitwirkten. Es gibt nur wenige Details aus dem Leben des Großvaters. Die Änderung seines Namens („den nun wir schon fast hundert Jahre tragen, ganz legal“ S.18) ist die einzige verbliebene Tatsache, durch die der abrupte Wechsel im Lebensweg des Großvaters gekennzeichnet wird. Das einmalige Ereignis der russischen Revolution hat nicht nur sein Leben verändert, sondern wirkt bis in die Enkelgeneration. Ob auch die Tat von Judas Stern, dem Bruder des Großvaters, von dem revolutionären Geist inspiriert war, bleibt unklar. Ebenso bleibt offen für Interpretationen, inwieweit seine Tat die Weltgeschichte beeinflusst hat. Die enge Verknüpfung von individueller Geschichte und Zeitgeschichte wird hier dadurch betont, dass die Erzählerin versucht, sich in Judas Stern hineinzuversetzen, um seine Handlungsweise und sein Verhalten vor Gericht zu verstehen. Da sie nur die einseitigen Prozessakten für ihre Recherche zur Verfügung hat, muss ihr Versuch scheitern. Auf der Ebene der Figuren beider Brüder wird die politische Geschichte der Sowjetunion erzählt, die Oktoberrevolution von 1917 und ihre Nachwirkungen in der Gestalt Semjons, und die Repressalien und Justizmanipulation in der Stalinära am Beispiel des Judas Stern.

Eine historische Zäsur für die Familie des Vaters wie die der Mutter bildet das Jahr 1941 mit dem Einmarsch der Deutschen in Kiew. Nicht zuletzt beginnt mit der Flucht der Familien aus Kiew deren Verfall und Zerstreuung. Die Familien leiden nicht an innerer Auflösung, sondern ihre Verluste sind eine Folge der Verfolgungen und Morde des Holocaust. Das Trauma der Flucht mit ihrer existentiellen Bedrohung belastet nicht nur die Generation der Eltern, d.h. die Generation der Kriegskinder, sondern wird an die Enkelgeneration, zu der die Ich-Erzählerin gehört, übertragen. Die traumatischen Erlebnisse werden als Familienlegenden weiter erzählt, in denen weniger die Tatsachen wichtig sind, als vielmehr die Atmosphäre der Unsicherheit, der Verfolgung, der existentiellen Bedrohung. So ist für die Mutter der Erzählerin die Angst, Rosa könnte den Zug verpassen und sie als Sechsjährige hilflos zurück lassen, immer noch präsent (vgl. S. 80) und überträgt sich auf die Ich-Erzählerin, die feststellt: „Ihr Krieg wurde zu meinem“ (S.81).

Zeitgeschichte und Familiengeschichte verschränken sich in der Erzählung auf fast unentwirrbare Weise. Es wird immer deutlich, dass es bei den Familienlegenden nicht in erster Linie um Einzelschicksale geht, sondern ganze Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Der Zug, in dem Rosa mit ihren Kindern sitzt, ist überfüllt (vgl. S. 81), die Familie des Vaters muss sich beeilen, um einen Platz auf dem Lastwagen zu bekommen. (vgl. S. 216) Anna und Ljolja, Mutter und Schwester der Großmutter Rosa, liegen in Babij Jar, sie sind stellvertretend für „alle anderen dort“. (S. 19) Sie stehen nicht nur für die Verbrechen der Nazis an den Kiewer Juden, sondern repräsentieren den Völkermord der deutschen Besatzer in ganz Osteuropa. Dasselbe gilt für die Großmutter des Vaters, „Vielleicht Esther“. Auch wenn der genaue Name nicht gesichert ist, es war die Babuschka, eine nahe liebenswerte Verwandte, die auf der Straße erschossen wurde, d.h. die Verbrechen geschahen in der Öffentlichkeit.

Die Verbindung von individueller mit allgemeiner Geschichte zeigt sich nicht zuletzt in dem Schicksal des Großvaters Wassilij, der „in den Krieg zog und erst nach 41 Jahren zu meiner Großmutter Rosa zurückkehrte“ (S. 19). Er ist der einzige Ukrainer in der Familie (vgl. S.227). Als russischer Kriegsgefangener überlebte er den Horror von Lager, KZ und Todesmarsch und wird damit zu einem Repräsentanten der der Kriegs- und Rassenideologie der Nazis ausgesetzten Bevölkerung. Wie er es schafft zu überleben und warum er erst nach 41 Jahren zur Familie zurückkehrt, bleibt unklar. Die intensive Recherche der Ich-Erzählerin gilt auch hier neben dem Einzelschicksal vor allem den Auswirkungen von Krieg und Verfolgung auf die Familien, den Fragen von Schuld und Sühne sowie der Verwischung der Grenze zwischen Opfer und Täter. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in der Anonymität der statistischen Zahlen nicht greifbar werden, bekommen im Einzelschicksal ein Gesicht.

Die Ich-Erzählerin in Katja Petrowskajas Erzählung ist auf der Suche nach Kontinuität in den Brüchen und historischen Zäsuren des vergangenen Jahrhunderts. Sie findet sie in der Genealogie ihrer Familie (vgl. S.49f.), aber auch im Judentum, von dem sie sich lossagt, das sie aber trotzdem in indirekter Form geprägt hat. Als dritte Generation nach denen der Kriegsteilnehmer und der Kriegskinder wuchsen sie und ihr Bruder in einer ideologisch fest verankerten Welt auf. „Wir waren […] sowjetische Kinder, alle gleich, mit dem gleichen Nebel in der Familiengeschichte, der vielleicht gerade die Voraussetzung für unsere Gleichheit bildete“ (S 91). Alles was nicht zur Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates passte, musste totgeschwiegen werden. Das war überlebenswichtig und betraf vor allem unliebsame Verwandte wie Judas Stern, aber auch die Diskriminierung der Juden und die Verbrechen des Holocaust.

Das Gefühl eines Verlusts in Bezug auf ihre Familie empfindet die Erzählerin schon früh. Als neue Erfahrung in Bezug auf die Vergangenheit kann aber ihr erster Besuch in Auschwitz 1989 angesehen werden. Der in diesem Jahr beginnende politische Zusammenbruch des Ostblocks hat für die dritte Generation nach den Weltkriegen auch Veränderungen im Umgang mit Familientraditionen gebracht. Es geht nicht mehr in erster Linie um das Bewahren überlieferter Traditionen oder das Vertuschen von Familiengeheimnissen, vielmehr sind nun durch die neu gewonnenen Freiheiten auch neue Formen der Recherche und individueller Orientierungen möglich. Obwohl die Prägung durch die Familie für die hier dargestellte Enkelgeneration eine große Rolle spielt, entscheiden sich die Ich-Erzählerin und ihr Bruder für vollkommen unterschiedliche Lebenswege. Während der Bruder das orthodoxe Judentum für sich entdeckt und damit eine seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verschollene Familientradition wiederbelebt, wendet sich die Ich-Erzählerin, angeregt durch die Liebe zu einem Deutschen, der deutschen Sprache und Kultur zu und damit der im Jiddischen verborgenen deutschen Familientradition. „Meine Großmutter Rosa hätte uns beide nicht verstanden“ (S. 78), sagt die Ich-Erzählerin. Was wie ein Bruch mit der Vergangenheit der Familie nach 1945 aussieht, beinhaltet für die Ich-Erzählerin ein Element der Kontinuität. Die Lebenswege der Enkelgeneration in der Erzählung, die beide Partner und Kinder haben, lassen den Schluss zu, dass die Familie in den Augen der Autorin kein Auslaufmodell ist. Vielmehr bietet sie auf individueller Ebene Geborgenheit, Ruhe und Kontinuität auch angesichts einer ungewissen Zukunft.

(bearbeitet von Johanna Schorm)


Fakten und Fiktion, Faktizität und Fiktionalität

Google sei Dank

Im Eingangskapitel der Geschichte mit der Überschrift „Google sei Dank“ (S. 7) beschreibt die Ich-Erzählerin eine Szene auf dem Berliner Hauptbahnhof. Die Umgebung dieses Bahnhofs zeuge immer noch „von der Verwüstung dieser Stadt, die im Lauf siegreicher Schlachten zerbombt und ruiniert worden war“ (S. 7). Und ausgerechnet hier hängt unter dem Bahnhofsdach in Großbuchstaben die Schrift „Bombardier Willkommen in Berlin“ (S. 7).

Diese Beschriftung irritiert auch einen älteren Herrn, der die Erzählerin fragt, „wer genau soll hier bombardiert werden und womit“ (S. 8). Und sie erzählt ihm, offenbar um die Irritation des älteren Reisenden aufzufangen, „dass Bombardier ein französisches Musical sei, das in Berlin erfolgreich laufe“ (S. 8). Letztlich glaubt sie selbst an das, was sie erzählt, „obwohl ich keine Ahnung hatte, was dieses Bombardier am Dachbogen des Bahnhofs bedeutete“ (S. 9). Die Erzählerin ist sich also bewusst, dass das, was sie dem Herrn erzählt, mit den Fakten nichts zu tun hat, vielmehr eine Erfindung ihrerseits ist. Es ist aber etwas, so die Erzählerin über ihre Erfindung, „was ich auf keinen Fall als Lüge bezeichnen würde“ (S. 9). Lüge als moralische Kategorie ist hier nicht angesprochen; Lüge als Kategorie, die zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheidet, ist hier nicht gemeint. Lüge ist eher eine ästhetische Kategorie, ein Zustand, der dem Wohlbefinden dient, in diesem Fall dem des älteren Reisenden, der Bombardier und Bomben noch mit den Gräueln des Krieges verbindet. „[…] wer nicht lügt, kann nicht fliegen“ (S. 9). Will sagen, sich über die Widrigkeiten des Alltags erheben, fliegen und sich wohlfühlen sind allemal wichtiger als die banalen Kategorien von faktisch oder nicht faktisch.

Google liefert dann die Fakten: Bombardier ist eine der größten Eisenbahn- und Flugzeugbaufirmen der Welt. Ironie der Geschichte, die der Leser natürlich kennt: Google ist nicht primär an der Lieferung von Fakten interessiert, sondern an der Anbahnung von Geschäften. Fakten, die dabei anfallen, sind also allenfalls deren Kollateralereignisse.

Vielleicht Esther

„Vielleicht Esther, vielleicht eine zweite Esther“, auf Seite 18 taucht die Titelformulierung im Text zum ersten Mal auf.

Und an späterer Stelle sagt der Vater der Ich-Erzählerin auf deren Nachfrage: „Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau“(S. 209). Dieses „genau“ ist aber überhaupt nicht genau. Denn, so der Vater weiter, er habe „vielleicht Esther“ „nie bei ihrem Namen genannt, […], ich sagte Babuschka“(S. 209). Und überhaupt: Mit der Erzählung der Geschichten von ein paar Verwandten hat man „das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche“(S. 17), hatte die Ich-Erzählerin gedacht, tatsächlich hat sie aber nur „Legenden“ (S. 17) und für Legenden ist typisch, dass ihr Faktizitätsgehalt nicht exakt nachgeprüft werden kann.

Auch die Quelle für die Familiengeschichte ist unsicher. „Am Anfang meiner Familiengeschichte stand eine Übersetzung“(S. 52). „So gründet die Herkunft unsrer Familie in einer fragwürdigen Übersetzung ohne Original“ (S. 52) und die Ich-Erzählerin verfasst sie, ein Stück weitere Entfremdung, „nun auf Deutsch“(S. 53).

Ähnlich faktisch unzuverlässig ist das Tagebuch der blinden Rosa. „Je dunkler es um sie herum wurde, desto dichter beschrieb sie die Blätter“(S. 62). Alles war übereinander geschrieben und dementsprechend nicht lesbar. Aber was sie schreibt, ist auch gar nicht an der Vermittlung von Fakten orientiert, „nicht zum Lesen gedacht […], sondern zum Festhalten“ (S. 62), ein Anker, an dem sich die Familie ihrer selbst vergewissert, ein „Ariadnefaden“ (S. 62), mit dessen Hilfe die Familie ihren Weg durch das Labyrinth der „Vergangenheit“ findet, die „lebt, wie sie will“ (S. 133).

Den Familienstil charakterisiert die Autorin so: „Ein Witz ist wichtiger als eine richtige Antwort, das Wort ist mehr wert als das Ergebnis“ (S. 166). Nicht auf die Fakten kommt es an, sondern auf ihre Interpretation. Und Interpretation von Fakten ist ein Schritt in Richtung Fiktion.

Fikus und Fiktion

Bei der Flucht der Familie aus Kiew im August 1941 „waren die Transportmittel entscheidend“ (S. 216). Der Familie stand ein Lastwagen zur Verfügung. Als Großvater Semjon seine Familie zur Flucht auf den Lastwagen befiehlt, sind auf der Ladefläche schon zwei Familien und ein Fikus. Großvater Semjon stellt den Fikus herunter auf die Straße, „um Platz für seine Frau und seine beiden Söhne zu schaffen“ (S. 217). Da einer der beiden Söhne, die den Platz des Fikus einnehmen, der Vater der Ich-Erzählerin ist, ist ihre Schlussfolgerung logisch: „Diesem Fikus verdanke ich mein Leben“ (S. 217). Sie begreift, „dass mein Vater nur deshalb überlebt hat, weil der Fikus vom Lastwagen geräumt wurde“ (S. 217). Von diesem Fikus hat der Vater früher auch immer erzählt. Die Aufzeichnungen des Vaters, in denen die Erzählerin nachforscht, lassen davon jedoch nichts erkennen. Als sie den Vater darauf anspricht, antwortet der: „Was für ein Fikus? Ich erinnere mich nicht daran. Vielleicht habe ich das vergessen“ (S. 219). Sie begreift nicht, wie der Vater den Fikus vergessen kann, der sein Leben gerettet hat, den Fikus, der die „Hauptfigur […] wenn nicht der Weltgeschichte, dann meiner Familiengeschichte“ (S. 219) ist. Es stellt sich die Frage: „Gab es den Fikus, oder ist er eine Fiktion?“ (S. 219) Der Vater, dazu noch einmal telefonisch befragt, antwortet weise, es komme nicht auf die „penibel geführte Bestandsaufnahme“ (S.219) an.

Und weiter: „Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht“ (S. 219).

Die Parallele zu einer ähnlichen Argumentation im Einleitungskapitel über Bombardier liegt auf der Hand. Dort heißt es „wer nicht lügt, kann nicht fliegen“ (S. 9). Man muss den Boden der Tatsachen verlassen, um zu besseren, höheren Wahrheiten zu gelangen. Und das wiederum bedeutet, dass die Erzählerin ihr Leben nicht dem Faktum eines Fikus verdankt, sondern „dass wir unser Leben einer Fiktion verdanken.“ (S. 220)

Kreuzung

In dem Haus, in dem die Ich-Erzählerin geboren und aufgewachsen ist, an der Kreuzung zweier Straßen mit deutschem Namen, Engels und Liebknecht, in diesem Haus waren noch viele Jahre nach dem Krieg „schwarze Nummern auf den Türen zu sehen“ (S. 282).

Woher diese Zahlen stammen, ist faktisch nicht eindeutig zu klären. Die Mutter der Autorin erzählt, diese Nummern stammten aus der Zeit, als deutsche Okkupanten in dem Haus einquartiert gewesen seien, die Nachbarn dagegen sagen, ukrainische Polizei habe diese Nummern an die Tür geschrieben. Wie auch immer: Am Schluss der Geschichte zieht es die Erzählerin noch einmal dahin. Während sie vor einer roten Ampel wartet, kommt eine ältere Dame hinzu und sagt ihr: „Ich treffe Sie etwas zu oft hier in letzter Zeit!“ (S. 283) Als die Erzählerin antwortet, sie sei seit Jahren nicht mehr hier gewesen sei, antwortet die Dame: „Das spielt doch keine Rolle“ (S. 283). Die Erzählerin ist zunächst irritiert und dann denkt sie: „sie hat recht, ich kehre etwas zu oft hierher zurück, ja genau, dachte ich, etwas zu oft“ (S. 283). Will sagen: meine Geschichte, meine Geschichten sind zu Ende erzählt, ich habe hier nichts mehr zu suchen, mein Platz ist jetzt woanders.

Das poetische Programm der Autorin Katja Petrowskaja ist klar. Fakten sind unsicher, die Aneinanderreihung von Fakten macht noch keine Geschichten, geschweige denn Geschichte, Faktizität ist fast immer durch ein „vielleicht“ apostrophiert. Ihren Wert, ihre Wertigkeit, ihre Wahrhaftigkeit und – vielleicht – ihre Schönheit gewinnen Fakten erst, wenn sie in „Lüge“, Fiktion, Dichtung überführt werden. „Vielleicht“ ist das Motto, das dramaturgische Schlüsselwort des Werkes.

(bearbeitet von Ulrich Teiner)


Der Aufbau des Werks und die sprachlichen Mittel

Den Eindruck der Uneindeutigkeit, der Vorläufigkeit scheinbarer Gewissheiten, des Verwischens von Grenzen und des Kreisens bei dem Versuch der Wahrheitsfindung, den das Werk von Katja Petrowskaja erweckt, verdankt es zum großen Teil seiner formalen und sprachlichen Gestaltung.

Bereits das „Vielleicht“ im Titel, gleichsam das erste Wort, das wir lesen, verwahrt sich gegen Eindeutigkeit, so wie das Werk, das sich als „Geschichten“ bezeichnet, auch die literarischen Gattungsgrenzen zwischen Dokumentation und Fiktion aufhebt. Einerseits wird durch die Angabe von Quellen das faktisch Berichtete beglaubigt, wörtliche Zitate sind kursiv gekennzeichnet, und Fotos belegen die Authentizität von Figuren und Geschehnissen, andererseits wird uns das Werk aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin präsentiert, die uns unmittelbar an ihrer sehr subjektiven und emotionalen Auseinandersetzung mit diesen Fakten teilhaben lässt, einer Ich-Erzählerin, deren Nähe zur Autorin, so kann man vermuten, beträchtlich ist. Auch die Muttersprache der Ich-Erzählerin ist Russisch, sie besitzt Kenntnisse des Polnischen und schreibt in Deutsch. Immer wieder tauchen im Werk polnische und russische, in diesem Fall dann auch in Kyrillisch geschriebene Begriffe oder Redewendungen auf (vgl. S. 8). Der Leser muss der Ich-Erzählerin in unbekanntes Sprach-Terrain mit den hier entstehenden Assoziationen, Vergleichen, Schlüssen folgen.

Sprachlich erzeugt die Ich-Erzählerin einen Sog, der den Leser in ihre Welt zieht, indem sie immer wieder den Eindruck eines Gedankenstroms erzeugt, wenn sie das Geschriebene nicht durch Satz- oder Redezeichen unterbricht, sogar streckenweise Groß- und Kleinschreibung aufgibt, elliptisch verkürzt Einschübe, Ergänzungen, Ausschmückungen, Assoziationen, Zitate zu fast unerträglich lang gespannten Sätzen fügt („in der nacht konnte ich nicht schlafen, ich träumte von der sauna, vom ghetto, ... ich hatte fieber, ... zitterte, ich könnte auch polin sein, sagte ich ihr, la double vie, wie kalt ist es hier, ... ich habe mich auch unter anderen versteckt, oder nein, eher zur schau gestellt, schau, ich habe nicht shoa gesagt, du hast shoa gesagt, du oder ich, entweder oder, ich weiß nicht, ob ich jemals unter den meinigen war und wer sind die, die meinigen, ...“, S. 117). Immer wieder findet sich in diesen Satzgefügen die Anrede „du“ („Du wolltest doch spielen, nicht Krieg und Frieden, sondern ein Spiel, in dem du jemand anders spielen würdest“, S. 116), die offen lässt, wer der Adressat ist, ein imaginiertes, erzähltes Gegenüber, die Ich-Erzählerin im Selbstgespräch oder der Leser. Eine ähnliche Wirkung haben im Text die vielen Hypothesen, die die Erzählerin in Bezug auf den von ihr erzählten Stoff entwickelt, und die offenen Fragen, die sich etwa aus Widersprüchen oder Leerstellen innerhalb des Erzählten ergeben. Die Erzählerin formuliert ihre Vermutungen und diese Fragen und reicht sie gleichsam an den Leser weiter. Der Leser nimmt in unmittelbarer Identifikation teil am quälenden Prozess der Wahrheitsfindung, häufig mit der Erzählerin scheinbar überwältigt von dem Erlebten, das nicht mehr in klar strukturierte Syntax zu fassen ist, um am Ende zusammen mit der Erzählerin von der gefundenen Erkenntnis betroffen zu sein.

Intensiviert wird die emotionale Wirkung des Textes durch die gehäufte Verwendung rhetorischer Figuren wie

  • Vergleiche („Andere waren wie vom Himmel gefallen… blieben in der Luft wie eine Frage, wie ein Fallschirmspringer, der sich im Baum verfängt.“ S. 17)
  • Metaphern und Personifikationen (das Gefühl des Verlusts trat… in meine Welt, es schwebte über mir, streckte seine Flügel aus“ S. 22)
  • Wortspiele („Jeder Stern schien mir ein geheimer Verwandter zu sein, auch die am Himmel.“ S. 27)
  • Alliterationen („diese Ferne der Fragen“ S. 8)
  • Anaphern („ohne Geschwister, ohne Babuschka, ohne Eltern“ S. 22)
  • Inversionen („mit Fragen mich bewarf“ S. 8)
  • Antithesen („ein endloser Blitzkrieg“ S. 7)
  • Wiederholungen („Sie verschwieg alles… sie verschwieg alles… sie verschwieg… sie verschwieg…sie verschwieg“ S.34)
  • Steigerungen („diese schöne, friedliche, zerbombte Stadt“; „atemlos und immer aufgeregter, fast ungezügelt“ S. 8)
  • Parallelismen („Niemand hatte uns beauftragt, niemand hatte uns die Idee gegeben, niemand hatte uns gelobt.“ S. 230)

und andere mehr. Diese bildhafte, rhythmische, der Alltagssprache häufig enthobene Sprache entfaltet eine überaus suggestive Wirkung, die den Leser der Erzählerin in ihrem assoziativen Oszillieren zwischen verschiedenen Geschehnissen und Erzählebenen, vom Einzelerleben bis zum Mythologischen, Biblischen, Allgemeingültigen folgen lässt. Dazu passt, dass die Erzählerin immer wieder ausgesuchten Kapiteln ihrer Erzählung Textzitate diverser Quellen als Motto voranstellt, wodurch sie den Bezugsrahmen des Erzählten ausdehnt.

Aufgebaut ist das Werk in einzelnen, in sich geschlossenen Kapiteln, deren Aufeinanderfolge oft zufällig, beliebig zu sein scheint, die aber dann auch aufeinander Bezug nehmen können, etwa wenn Orte oder Figuren in neuem Zusammenhang wieder auftauchen oder indem sie durch Leitmotive verklammert werden. Diese Kapitel selber sind häufig so aufgebaut, dass sie ausgehen von einer geschichtlich dokumentierten Tatsache, einer persönlichen Erinnerung, einem konkreten Ereignis bzw. Erlebnis, ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart der Ich-Erzählerin. Oft wird die Ausgangssituation kurz geschildert, häufig in der sachlichen Distanz von Er-Form und Präteritum. Anschließend geschieht es immer wieder, dass die Erzählerin ihre Distanz aufgibt, in die Unmittelbarkeit des Gedankenstroms und ins Präsens wechselt, um die Ausgangssituation assoziativ in Beziehung zu setzen mit anderen Ereignissen, Personen, Erinnerungen, Überlegungen und Vermutungen (vgl. u. a. S. 60), um am Ende eine allgemeingültige Erkenntnis zu formulieren (vgl. S.46, S.257, S. 265). Der erzählte Ausgangspunkt des Kapitels bekommt eine weit über ihn hinausreichende exemplarische Bedeutung. Es wirkt, als würde von der Ich-Erzählerin mit jedem neuen Kapitel ein neuer Anlauf zur Wahrheitsfindung unternommen, der zwar in einer grundsätzlichen, aber offensichtlich von der Erzählerin nicht als umfassend, abschließend, endgültig verstandenen Erkenntnis endet. Schließlich scheint aber gerade darin die Aussage des Werks zu bestehen, dass es nämlich diese eine, abschließende Wahrheit und Gewissheit nicht gibt.

(bearbeitet von Ilse Noy)


Anmerkungen

  1. Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther, Frankfurt, Suhrkamp Hardcover 2014 (1. Aufl.) und TB 2015 (2. Aufl.) Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese identischen Ausgaben
  2. Björn Bohnenkamp, Generation als Erzählung, in: Hajnalka Nagy/Werner Wintersteiner (Hrsg.) Immer wieder Familie, Innsbruck 2012, S. 27-40.
  3. a.a.O., S. 31