Miriam Haller: Topoi des Alters in der Literaturgeschichte - Altersklage, Alterslob, Altersspott

Aus Literarische Altersbilder


Will man das Alter(n) als literarisches Motiv untersuchen, steht man zunächst vor einer nahezu unüberschaubar erscheinenden Aufgabe.[1] Daß das Alter(n) in der Literatur ein derart favorisierter Gegenstand ist, leuchtet nicht nur aufgrund seiner Bedeutung als Grundproblem des Menschen ein, sondern auch unter dem Blickwinkel der Ästhetik und Texttheorie.

Am Beispiel von Oscar Wildes Roman ‚Das Bildnis des Dorian Gray‘ läßt sich dieser Zusammenhang deutlich erkennen: Das Porträt des jungen, schönen Dorian Gray macht ihm seine Endlichkeit so eindringlich bewußt, daß er seine Seele als Preis dafür gibt, wenn an seiner Stelle das Bild altern möge und nicht er selbst: „Wie traurig es ist! Ich werde alt werden, häßlich, widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über diesen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe, und das Bild altern könnte! Dafür – dafür – gäbe ich alles. Ja, nichts in der Welt wäre mir dafür zu viel. Ich gäbe meine Seele als Preis dahin.“[2] Text und Bild bannen den lebendigen Moment im toten Zeichen, so daß sie in der Tradition des ‚memento mori‘ zum beständigen Mahnmal der eigenen Vergänglichkeit, des eigenen Alterns stilisiert werden können.


Betrachtet man das Alter(n) als die Schreibweisen von Texten beeinflussendes Motiv der Literatur, lässt sich eine Reihe von Grundmustern unterscheiden, die wiederum eine Gemeinsamkeit haben: Sie sind bestimmt von einer binären Struktur. Das Motiv des Alter(n)s schwankt in der Literatur auf einer Skala zwischen Verklärung und der weitaus häufiger auftretenden Klage über den körperlichen und geistigen Verfall. Der Differenzskala des Motivs korrespondieren die Topoi des Alterslobs, der Altersklage und des Altersspotts.


Exemplarisch für die Topoi des Alterslobs steht der dialogisch aufgebaute Text ‚Cato der Ältere über das Greisenalter’[3], der dem römischen Redner, Politiker und Philosophen Marcus Tullius Cicero zugerechnet wird und der wiederum auf Passagen über das Alter aus Platons ‚Politeia‘[4] fußt. Kompensatorisch wird hier das scheinbare Elend des Alters widerlegt und im Gegenzug die spezifischen Vorzüge, insbesondere die Weisheit des Alters gegenüber den Torheiten der Jugend betont. Das antike Alterslob betont den Reichtum der Erfahrung und die daraus zu gewährleistende gesellschaftliche Autorität der Alten. Der Sinnlichkeit zu entsagen und tugendhaft zu leben, garantiere die Freiheit der Seele. Die Fähigkeit zum erinnernden Überblick wird gelobt und in den Dienst der Bewahrung altbewährter Traditionen gestellt.

Die antiken Topoi des Alterslobs finden sich bei Jacob Grimm[5] ebenso wieder, wie erstaunlicher Weise auch bei Arthur Schopenhauer, wenn er das Leben mit einem Text vergleicht, „die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der uns den wahren Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben, erst recht verstehn lehrt.“[6]

Die Topoi des Alterslobs halten sich bis heute, werden jedoch in ihrer Ausrichtung strategisch auf unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen, insbesondere des alten Mannes, bezogen: zur Rechtfertigung seiner Funktion als Staatsmann, als Familienoberhaupt, als großmütiger Großvater, als platonischer Liebhaber oder als altersweiser Gelehrter und Künstler.

Die Altersklage variert bis heute Topoi, die sich bereits in Texten des altgriechischen Lyrikers Anakreon finden:


Ergraut sind meine Schläfen,

mein Haupthaar schimmert weiß.

Die schöne Jugendzeit verging,

alt sind und morsch die Zähne.

Nicht lang mehr reicht die Spanne, die

vom süßen Leben mir verblieb.


Oft muß ich deshalb weinen,

gepackt von Grauen vor dem Tartaros;

denn schrecklich ist der dunkle Schlund des Hades

und schwer der Weg, der dort hinunterführt:

Wer abwärts ihn beschritten,

kehrt nie zum Licht zurück.[7]


Detailliert wird in der Altersklage der körperliche und geistige Verfall beschrieben. Der Verlust der Lebensfreude wird beklagt, ebenso wie die Unfähigkeit, Präsenz zu leben. Alles erscheint nur noch als Wiederholung des Ewiggleichen, als Refrain vergehender Zeit – vom faustischen Streben, zumindest ein einziges Mal noch zum Augenblick zu sagen, „Verweile doch! du bist so schön!“[8] bis zu Hamms Erkenntnis in Becketts ‚Endspiel‘ „Augenblicke gleich null, immer gleich null.“[9]

Auch die Altersklage findet sich in allen literarischen Epochen, ob in den Minneliedern Walthers von der Vogelweide, im Vanitas-Motiv des Barock oder bei Francois Villons ‚Die Jammerballade einer schönen Frau aus dem Goldenen Hahn’, in freier Übersetzung von Paul Zech, in der Marie „ein Prachtweib einst“ klagt:


Da kraucht man wie ein Wurm daher

als wög’ der Buckel viele Zentner schwer.

Da hockt man ohne Sinn und glotzt ins Feuerloch

und denkt an all das Böse auf der Welt

und daß uns aus dem schweren Joch

und diesem Hungerleben ohne Geld

der Tod erlösen möchte, morgen schon,

das wäre ein verdienter, ein gerechter Lohn.[10]


Es ist das Bild des ausgelieferten, schwachen Tieres, das in der Altersklage zum Referenzpunkt des Menschenbildes wird.


Als Beispiele für die Altersklage in der neueren Literatur sei an die Gedichte von Gottfried Benn aus dem dreiteiligen Zyklus ‚Der Arzt’[11] erinnert oder an Max Frischs Roman ‚Der Mensch erscheint im Holozän‘[12], in dem der körperliche und geistige Verfall in Metaphern des Falles und Fallens allgegenwärtig ist. Theoretisch gewendet, entfaltet die Altersklage ihre existentialistische Bandbreite von ‚Revolte und Resignation‘ bei Jean Améry: „Was da immer dem Alternden empfohlen wird, wie er sich mit dem Niedergang abfinden, ja diesem allenfalls sogar Werte abgewinnen könnte – Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befriedigung –, es stand vor mir als niederträchtige Düperie, gegen die zu protestieren ich mir mit jeder Zeile aufgeben mußte.“[13]

Samuel Beckett treibt die Altersklage schließlich auf den Gipfel des Absurden: Ausgeschlossen und vernachlässigt landen die Alten im ‚Endspiel‘ buchstäblich in der Mülltonne.[14]


Auch die groteske Schreibweise des Alterspotts findet sich in allen Epochen. Erinnert sei hier an Aristophanes‘ Komödie ‚Die Wespen’, einer Verspottung von Lastern, Anmaßungen und vor allem sinnlichen Ausschweifungen im Alter:


War nicht der Alte toll und teufelswild,

Von allen Gästen der Besoffenste!

Da war Hippyllos, Lykon, Antiphon,

Theophrast, Lysistratos und Phrynichos!

Er aber trieb's am tollsten doch von allen.

Kaum hat er sich mit Leckereien vollgestopft,

Da springt er, tanzt und farzt und lacht dazu

Ganz wie ein Esel, den der Hafer sticht;

Schreit: ‚Junge!‘ prügelt mich jung - ungestüm;

Das sieht Lysistratos und foppt ihn drüber:

Du tust ja, Alterchen, wie frische Hefe

Und wie das Saumtier, das die Streu sich sucht!‘[15]


Der oder die ‚kindische Alte‘ ist die groteske Figur des Altersspotts, die in sich die heterogenen Momente des Kindes und des Alters verknüpft.

Lüsternheit, Geschwätzigkeit, Geiz, Gier, Trunk- und Streitsucht sind die Topoi, die sich als Altersspott durch die Literaturgeschichte ziehen. Sie finden sich in zahlreichen Texten, die die Konstellation der oder des verliebten Alten nutzen. Hier sei nur auf einige Beispiele verwiesen: Molières von der Commedia dell‘arte beeinflußte Stücke wie ‚Der Geizige‘[16] oder ‚Die Schule der Frauen‘[17], Novellen von Cervantes‘ wie ‚Der eifersüchtige Estremadurer‘[18] bis hin zu Goethes ‚Der Mann von funfzig Jahren‘[19]. Der Altersspott spielt mit den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen an ein ‚altersgemäßes‘ Verhalten. Was bei jüngeren anstandslos toleriert oder sogar gefördert wird, wird bei Älteren Anlass zum Spott.


Simone de Beauvoir bringt die sich durch die literarischen Epochen ziehende Stereotypie des Alter(n)s auf den Punkt: „Vom alten Ägypten bis zur Renaissance wurde das Thema des Alters also fast immer stereotyp behandelt; dieselben Vergleiche, dieselben Adjektive. Es ist der Winter des Lebens. Das Weiß der Haare, des Bartes erinnert an Schnee, an Eis: im Weiß liegt eine Kälte, zu der das Rot – Feuer, Glut – und das Grün, Farbe der Pflanzen, des Frühlings, der Jugend, in scharfem Gegensatz stehen. Diese Klischees halten sich zum Teil deshalb, weil der alte Mensch ein unabänderliches biologisches Schicksal erleidet. Doch da er nicht wirkende Kraft der Geschichte ist, interessiert der Greis nicht, man macht sich nicht die Mühe, sein wahres Wesen zu studieren. Mehr noch, in der Gesellschaft besteht eine Übereinkunft, ihn mit Schweigen zu übergehen. Ob die Literatur ihn rühmt oder verächtlich macht, in jedem Fall begräbt sie ihn unter Schablonen. Sie verbirgt ihn, anstatt ihn zu enthüllen. Er wird, im Vergleich mit der Jugend und dem reifen Alter, als eine Art Gegenbild gesehen: er ist nicht mehr der Mensch selbst; sondern seine Grenze, er steht am Rande des menschlichen Schicksals; man erkennt es nicht wieder, man erkennt sich nicht in ihm.“[20]


Das Alter bleibt in der älteren Literatur meist abstrakt und übernimmt eine allegorische oder symbolische Funktion innerhalb einer Polarstruktur der Texte, die auf der Differenz von alt und jung beruht. Trotz der Vielzahl literarischer Beispiele gerät so das Alter als unweigerliche Annäherung an den Tod unter den Saum des Schleiers, mit dem ein beredtes Schweigen den Tod verhüllt.


Erst die Gegenwartsliteratur setzt sich konkreter mit den subjektiven Erfahrungen des Altseins und Altwerdens, den Ambivalenzen des Alters und den Bildungsprozessen älterer Menschen auseinander, in denen Selbst- und Weltverhältnisse noch einmal grundlegend verändert werden: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsteht eine neue Gattung, die von der Literaturwissenschaft in Analogie zum Bildungsroman als "Reifungsroman"[21] identifiziert wird. Diese Romane und literarischen Erzählungen bilden den Gegenstand der Analysen der Projektgruppe 'Literarische Altersbilder'.


Anmerkungen

  1. Passagen des folgenden Textes sind entnommen aus dem Aufsatz von Miriam Haller: "Ageing trouble". Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung. In: IFG (Hg.), Altern ist anders (= ALTERnativen. Schriftenreihe des InitiativForum Generationenvertrag, Bd. 1.), Münster 2004, S. 170-188. Vgl. auch Miriam Haller: "Unwürdige Greisinnen". "Ageing trouble" im literarischen Text. In: Heike Hartumg (Hg.), Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45-63. Vgl. auch Miriam Haller: Die 'Neuen Alten'? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman. In: Thorsten Fitzon u.a. (Hg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin, New York 2009, S. 229-247.
  2. Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray. Roman. Aus dem Engl. v. Fred und Anna von Planta. Zürich 1986. S. 36. (Titel der Originalausgabe: The Picture of Dorian Gray. 1890).
  3. Marcus Tullius Cicero: Cato maior de senectute – Cato der Ältere über das Alter. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt von Harald Merklin. Stuttgart 1998.
  4. Platon: Der Staat (Politeia), 1. Buch [Sokrates Gespräch mit dem greisen Kephalos]. Übersetzt und hg. v. Karl Vretska. Stuttgart 1982. S. 84ff.
  5. Jacob Grimm: Rede über das Alter. Gehalten in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1863.
  6. Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. Von Löhneysen. Band IV.2. Stuttgart, Frankfurt/M. 1968. S. 373-592. S. 583.
  7. Vgl. Griechische Lyrik in einem Band. Aus dem Griechischen übertragen und herausgegeben von Dietrich Ebener. 2. Auflage. Berlin, Weimar 1980. S. 159.
  8. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 3. München 1989. S. 57.
  9. Samuel Beckett: Endspiel. Deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Frankfurt/M. 1974. S. 117.
  10. François Villon: Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Nachdichtung von Paul Zech. München 1962. S. 19f.
  11. Vgl. Gottfried Benn: Der Arzt II. In: Ders.: Das Hauptwerk. Erster Band. Hg. v. Marguerite Schlüter. Wiesbaden, München 1980. S. 12.
  12. Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung. Frankfurt/M. 1979.
  13. Jean Améry: Über das Altern. Revolte und Resignation. 7. Aufl. Stuttgart 2001. S. 10.
  14. Vgl. Samuel Beckett: Endspiel. Deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Frankfurt/M. 1974.
  15. Aristophanes: Die Wespen. In: Ders.: Komödien in zwei Bänden. Bd. 1. Übersetzt von Ludwig Seeger. Eingeleitet, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jürgen Werner. Weimar 1963. S. 239.
  16. Molière: L’avare. Comédie en 5 actes. Hg. v. Rudolf Brendel. Bielefeld 1951.
  17. Molière: Die Schule der Frauen. Komödie in 5 Akten. Übertragen v. Alexander Schröder. Stuttgart 1958.
  18. Miguel de Cervantes Saavedra: Der eifersüchtige Estremadurer. Wien 1940.
  19. Johann Wolfgang von Goethe: Der Mann von funfzig Jahren. In: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch. In: Ders.: Werke, Bd. 8. (Hamburger Ausgabe). München 1998. S. 167-224.
  20. Simone de Beauvoir: Das Alter. Essay. Reinbek 1972. S. 138f. (Titel der Originalausgabe: La Vieillesse, Paris 1970)
  21. Barbara Frey Waxman: From 'Bildungsroman' to 'Reifungsroman'. Aging in Doris Lessing's Fiction. In: Soundings. An Interdisciplinary Journal 68,3 (1985), S. 318-334.