Monika Hartkopf, Johanna Schorm: Zur Theorie des Generationenromans

Aus Literarische Altersbilder

Etwa seit der Jahrtausendwende ist bei den literarischen Neuerscheinungen auffallend häufig vom Generationenroman die Rede. So wurde zum Beispiel der seit 2005 vergebene Deutsche Buchpreis gleich zur Premiere an Arno Geigers Generationenroman „Es geht uns gut“ verliehen und auch in der Folge wurden mehrfach diesem Genre zugehörige Romane ausgezeichnet. Aber ist der Generationenroman überhaupt etwas Neues? Oder ist vielleicht nur der Begriff im literaturwissenschaftlichen Diskurs neu?

Der Begriff der Generation spielt im Diskurs der Geschichtswissenschaften, der Sozialwissenschaften sowie der Literatur- und Kulturwissenschaften eine wichtige Rolle. Dabei lassen sich mindestens drei verschiedene Generationsbegriffe[1] unterscheiden. Der genealogische Generationenbegriff bezieht sich auf die voneinander abstammenden Familienangehörigen unterschiedlichen Alters und nimmt damit die diachrone Perspektive ein. Der historisch-soziologische Generationenbegriff dagegen bezeichnet in synchroner Betrachtung die durch prägende geschichtliche Ereignisse verbundenen Gruppen ähnlicher Alterszugehörigkeit. Sowohl unabhängig vom Bezugssystem der Familie als auch von dem des Alters ist der pädagogische Generationenbegriff, bei dem es um die Rollenbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden geht. Allen drei Generationsbegriffen ist gemeinsam, dass es sich nicht um eine feste Größe, sondern „um kulturell verfügbare Selbst- und Fremdbeschreibungen; populäre Deutungskonstrukte geschichtlicher Erfahrung“[2] handelt, die Deutungs- und Zuschreibungsfunktion haben.

Wenn man an Erzählungen über Generationen denkt, fällt einem in unserem Kulturkreis sicher die Bibel ein, die wir aber trotzdem nicht als Generationenroman bezeichnen. Der Begriff des Romans passt auch nicht auf Schöpfungsmythen, die griechischen Göttersagen und ähnliche Generationenerzählungen. Aber trotzdem gilt: „In Schöpfungsgeschichten, Mythen und Erzählungen finden sich seit jeher Generationenkonflikte, so dass man diese zu den menschlichen Urerzählungen überhaupt rechnen kann.“[3] Dass das Thema Familie in engem Zusammenhang mit dem Generationsbegriff steht und von alters her ein beliebter Gegenstand der Literatur ist, wird niemanden überraschen. So findet man denn den Begriff Familienroman in zahlreichen Lexika, auch solchen, die den Begriff Generationenroman nicht anführen. Das legt den Schluss nahe, den Generationenroman als neue Spielart oder Spezialisierung einzuordnen ähnlich den Genrebegiffen Eheroman, Erziehungsroman. Im „Sachwörterbuch der Literatur“ von Gero von Wilpert heißt es dementsprechend unter dem Stichwort Familienroman im letzten Satz: „Eine neue Form bildet der Generationsroman“[4], es folgt eine Aufzählung offenbar als prototypisch angesehener europäischer Romane seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (z.B. Zola, Stifter, Thomas Mann, Galsworthy). Die Begriffe Generationsroman und Generationenroman werden teilweise als gleichbedeutend angesehen[5], teilweise aber auch voneinander abgegrenzt.

Bei der Beschäftigung mit den aktuellen Generationenromanen wird häufig Bezug genommen auf die grundlegende Arbeit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann[6], die unter dem Begriff der Erinnerungsliteratur eine Entwicklung von der Väterliteratur der 1970er Jahre zum Familienroman etwa ab der Jahrtausendwende behauptet. Beiden Formen sei gemeinsam das Thema des sich selbst vergewissernden Ichs, wobei die Väterromane als Form der Selbstvergewisserung auf Bruch und Abrechnung setzten, die Familienromane dagegen von Kontinuität und Verstehen-Wollen geprägt seien. Bereits der Titel der 2009 erschienenen Forschungsarbeit von Ariane Eichenberg „Familie – Ich – Nation: narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane“ lässt erkennen, dass die Autorin den Generationenroman dem Familienroman unterordnet. Eichenberg kritisiert sowohl die These der Polarität von Väterliteratur und Familienroman als auch die behauptete Folge im Sinne einer Entwicklung. Statt des von Assmann behaupteten literaturhistorischen Ablösungsprozesses erkennt Eichenberg seit den 1990er Jahren eine Hochkonjunktur der Familienromane bei gleichzeitiger Andauer der Väterromane. Wegen der erwiesenen Abgrenzungsschwierigkeiten schlägt Eichenberg den Begriff „Generationengeschichten“[7] bzw. –romane vor und untersucht an ausgewählten Texten die Kennzeichen dieser neueren Erinnerungsliteratur.

Bei den von ihr untersuchten Texten gilt ausnahmslos, dass die Suche nach der eigenen Herkunft erst nach dem Tod der jeweiligen Bezugsperson einsetzt, so dass sich ein posthumer Dialog entfaltet. Die Begründung für dieses Verfahren sieht Eichenberg wie folgt: „Die Neugier läuft mit dem Tod der Vorfahren nicht Gefahr korrigiert und zurückgewiesen zu werden; […] So wird die Faktizität und Absolutheit menschlicher Begegnung zugunsten einer literarischen Perspektive verengt – und wenn man so will, in eine nicht verifizierbare Form gebracht.“[8] Einen weiteren Grund sieht sie darin, dass es nicht um aktive Lösung von Konflikten gehe, sondern um ein fiktives, Mehrdimensionalität und Variationen ermöglichendes Gespräch, das den Figuren bzw. Generationen „narrative Gerechtigkeit“[9] widerfahren lässt.

Wesentliches Kennzeichen aller Erinnerungsliteratur sei weiterhin das Prinzip des Exemplarischen, das zu einer personalisierten Geschichtsschreibung, also dem Erzählen der Geschichte in Form der Familiengeschichte, führe. Dieser Umstand habe zur Folge, dass als Erklärungsmuster für Ereignisse auch gesellschaftskritische und vor allem psychologische Deutungen herangezogen würden, vor allem insgesamt ein Bezug zu Fakten und Dokumenten hergestellt werde.

Ebenfalls für alle Generationengeschichten gelte die Fokussierung auf das erzählende Ich, der „Bezug zur eigenen Biografie als Verortung des Ichs im schreibenden (Er)Finden“[10]. Dieses Merkmal habe zur Folge, dass es sich um Ich-Erzählungen handele und eine ambivalente Haltung des Ich-Erzählers zur jeweiligen familiaren Bezugsperson vorliege. Weiterhin sei das Schreiben als selbsttherapeutischer Vorgang zu verstehen, als dessen Motiv das Freischreiben zum eigenen Leben sowohl des erzählenden Ichs als auch des erzählten Du erkennbar sei, wozu die dialogische Form passe. Erzähltechnisch führe das zur Verschränkung der Zeitebenen von Vergangenheit und Gegenwart „durch fortwährenden Kommentar, durch direkte Anrede, das heißt, das Erzeugen eines fiktiven Gegenüber, Wahl des Präsens, Innenblick“[11]. Als weitere Gemeinsamkeit aller Generationenromane sieht die Autorin die Schreibmotivation der Ich-Suche sowie „das große deutsche Schweigen zu durchbrechen, die Geschichte der Deutschen und Deutschlands als persönliche Geschichte wie Familiengeschichte“[12] zu erzählen. Die Literatur könne auf diese Weise „Erkenntnisse und Erfahrungen vermitteln, die allein mit wissenschaftlichen Untersuchungen oder auch juristischen Verfahren nicht erreichbar sind.“[13]

Anders als Eichenberg grenzt Neuschäfer in seiner Dissertation von 2013[14] den Begriff Generationenroman vor allem gegen den Begriff Familienroman ab, der seiner Meinung nach zu ungenau ist und auch Romane über Kleinfamilien sowie Entwicklungs- und Bildungsromane umfassen könnte und u. U. die historische Perspektive zu wenig mit einbezieht. Anstelle des Begriffs der Generation hält er im literaturwissenschaftlichen Kontext den Begriff der Generationalität für präziser, womit „ein Ensemble von altersspezifischen inhaltlichen Zuschreibungen, mittels derer sich Menschen in ihrer jeweiligen Epoche verorten“[15], gemeint ist. Neben der genealogischen Perspektive betrachtet Neuschäfer die Generation als historisch einmaliges Phänomen, d.h. die Angehörigen einer Generation agieren in einem Bereich unausgesprochener, gemeinsamer Voraussetzungen. Erzähltechnisch gesehen kann das Vorwissen von historischen Ereignissen über eine stereotype Figurenbeschreibung aktiviert werden und verbindet so im Lesevorgang den Textinhalt mit eigenen Erfahrungen.

Der moderne Generationenroman bietet nach Neuschäfer vielfältige Anknüpfungspunkte für Fragen und Konzepte, die die Identität betreffen und zu einer neuen Perspektive auf das Verständnis von Subjektivität und Postindividualismus beitragen können. Bei der Analyse von aktuellen Generationenromanen wird jedenfalls darauf zu achten sein, welche Dimensionen des Generationsbegriffs (familiär, sozial, historisch, medial) der jeweilige Roman erfasst, wie viele Generationen vorkommen und vor allem welche Generationenbeziehungen (Bruch, Kontinuität, Ambivalenz) dargestellt werden, ob und inwiefern die Familiengeschichte als nationale Geschichte gesehen wird und ob die Figuren als Repräsentanten kollektiver Identitäten und der mit ihnen verbundenen Werte und Normen konzipiert werden.

Neben den hier in Ansätzen dargestellten umfangreichen Forschungsarbeiten von Ariane Eichenberg und Markus Neuschäfer hat sich die Projektgruppe mit dem Aufsatz von Björn Bohnenkamp „Generation als Erzählung. Zur narrativen Inszenierung sozialer Beziehungen“ und dem Artikel von Iris Radisch „Die elementare Struktur der Verwandtschaft“[16] beschäftigt . Aus den insgesamt vier theoretischen Arbeiten wurden folgende Fragen entwickelt, die zur Strukturierung der Analysen von Generationenromanen dienen können:

1) Welche literarischen Motive bilden den Ausgangspunkt in heutigen Generationenerzählungen?

2) Wie wird eine bestimmte historische Situation anhand einzelner Figuren dargestellt?

3) Wie ist das Verhältnis zwischen synchronem und genealogischem bzw. diachronem Generationenbegriff?

4) Welche unterschiedlichen Identitätskonstruktionen und welche Entwicklungsprozesse in Generationengefügen werden erzählt?

5) Welche erzählerischen Mittel werden zur Darstellung verwendet?

6) Welchen Stellenwert hat die Familie im Text aus Sicht der Figuren und aus Sicht der Autoren?

7) Wie lässt sich der Text in die Geschichte der Gattung einordnen, wird z. B. die genealogische Abfolge der Generationen als Verfalls- oder Erfolgsgeschichte erzählt?

Bei der Untersuchung von Generationenromanen werden die oben erläuterten theoretischen Ansätze zu überprüfen sein. Dabei wird sich zeigen, inwiefern die Theorien durch den einzelnen Roman bestätigt werden, aber auch ob und inwiefern ein Ansatz modifiziert oder weiterentwickelt werden kann, womit die Projektgruppe einen Beitrag zur Theoriebildung zu leisten versucht.

  1. Vgl. Julia Franz et al.: Intergenerationelles Lernen verstehen – Intergenerationelles Lernen als Bildungskonzept, in: Dies., Generationen lernen gemeinsam. Theorie und Praxis intergenerationeller Bildung, Bielefeld 2009, S. 26 ff.
  2. Markus Neuschäfer: Das bedingte Selbst. Familie, Identität und Geschichte im zeitgenössischen Generationenroman. Berlin: Epubli 2013 online verfügbar unter : http://www.markusneuschaefer.com/wp-content/uploads/Neusch%C3%A4fer-Das_bedingte_Selbst-CC-BY-SA.pdf (letzter Zugriff am 24.04.2016)
  3. Ariane Eichenberg, Familie – Ich – Nation: narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane, Göttingen 2009, S. 21
  4. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1969, S. 254
  5. Vgl. z.B. den Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „Generationenroman“ - https://de.wikipedia.org/wiki/Generationenroman
  6. Aleida Assmann, Generationenidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen Erinnerungskultur, Wien 2006
  7. Ebd., S.24
  8. Ariane Eichenberg, a.a.O., S. 25
  9. Ebd., S. 26
  10. Ebd., S. 30
  11. Ebd., S. 34
  12. Ebd.
  13. Ebd.
  14. s.o. Nr. 2
  15. Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 20044, S. 331
  16. Hajnalka Nagy/Werner Wintersteiner (Hg.) „Immer wieder Familie“, Innsbruck 2012