Noelle Châtelet, Die Klatschmohnfrau (von Barbara Maubach)

Aus Literarische Altersbilder


Die Autorin und ihre Bücher

Noelle Châtelet ist Universitätsdozentin in Paris. Sie hat Erzählungen, Romane und Essays veröffentlicht, die z.T. mit wichtigen französischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden.


  • 1976 Le corps â corps culinaire
  • 1987 Histoire des bouches (Prix Goncourt)
  • 1989 A contre-sens (fünf Erzählungen, die auf den fünf Sinnen basieren)
  • 1997 Dame in Blau (1. Teil der Trilogie)
  • 1998 Die Klatschmohnfrau (2. Teil der Trilogie)
  • 1999 Das Sonnenblumenmädchen (3. Teil der Trilogie)


Einordnung des Romans in das kulturell-literarische Umfeld

Nach der ersten Lektüre der Klatschmohnfrau erhebt sich die Frage, warum nach deutscher Einschätzung dieses Buch nicht als „anspruchsvolle Literatur“ gelten würde.

Der Roman wirkt wie eine leicht hingeschriebene, heitere Geschichte, zauberhaft wie ein Märchen. Nach deutschen literarischen Kriterien ist sie vielleicht zu oberflächlich – nicht tiefsinnig genug. Wir unterscheiden deutlich zwischen Unterhaltungs- und E-(ernsthafter) Literatur und Musik. Die französische Einschätzung und Erzähltradition ist hier anders. Noelle Châtelet hat für ihre leichten Erzählungen und Romane grosse literarische Preise erhalten.

Châtelet erzählt die Geschichte einer späten Liebe zwischen alten Partnern, „stilistisch sicher, einfühlsam und voller Takt“ sagt der Vorspann zum Roman. Bei genauer Analyse des Textes kann man diesem „stilsicher“ wohl zustimmen. Das Problem ist eher die sehr schlichte, geradlinige Erzählweise; Bildhaftigkeit und Symbolik sind sehr offensichtlich bis simpel, ins Auge springend. Die psychologische Entwicklung der Protagonisten ist eindeutig, fast oberflächlich, ohne grosse Tiefendimension. Dennoch ist der Roman sehr genau durchkomponiert.

Anne-Marie Koenig entfaltet zu Châtelet die Überlegung, dass ihre Romane in der Art von Voltaires philosophischen Erzählungen geschrieben seien. Sie zeigen die Entwicklung der Protagonistin von einem Bewusstseinszustand in einen anderen. Die Veränderung vollzieht sich durch das Wachsen eines Gefühls, das an winzigen Details sichtbar gemacht wird. Oft sind die Frauen in den Erzählungen auf der Suche nach einer Metamorphose oder Wiedergeburt. "Ein feiner, ruhiger Roman über die Liebe, die sich um faltige Haut, schmerzende Hüften und graues Haar nicht kümmern mag, ein Buch voller Sympathie und Hoffnung für die Menschen."[1] Das durchgehende Thema der Trilogie ist die Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau, den Zwängen und gesellschaftlichen Mustern, denen sie unterworfen ist und aus denen sie sich befreit.

Die "Dame in Blau" beschreibt die Veränderung und Wandlung von einer perfekt angepassten Frau, Verführerin und Liebhaberin zu einer selbstbestimmten Person. Sie ist unter dem Zwang, immer gefallen zu müssen, völlig auf Männer fixiert, dabei stets bereit und immer perfekt. Die Befreiung zu sich selbst führt zur Loslösung aus dem Weibchen - Muster. Sie entwickelt ihren eigenen Rhythmus und ein ihr gemässes Zeitverständnis, das zu grosser Zwanglosigkeit führt.

Die "Klatschmohnfrau" beschreibt die Entdeckung einer späten Leidenschaft, erotischer Gefühle und gelebter Sexualität.

Das "Sonnenblumenmädchen" erzählt die Geschichte eines Kindes, das als kleine Frau die Kunst zu gefallen erlernt und sich einüben will in bestimmte Rollenmuster.

Alle Frauen begeben sich auf einen Weg der Veränderung, hin zu sich selbst und ihren Bedürfnissen. Die Farbsymbolik, schon in den Titeln der Romane angedeutet, spielt dabei eine gestalterische Rolle.

Inhalt

Die Klatschmohnfrau ist die Geschichte einer alten Dame, Marthe, 70 Jahr alt, die auf wunderbare Weise noch zum Leben erwacht, als sie einen 10 Jahre älteren, lebendigen und vitalen, auch kreativen Mann, Felix (nomen est omen), kennen lernt. Sie verliebt sich in ihn und entwickelt eine leidenschaftliche, auch sinnliche Liebe. Marthe und Felix werden ein ungewöhnliche Liebespaar, das sein Liebe bis in die glücklich erfahrene Sexualität hinein auslebt. In Auseinandersetzung mit der Umwelt, Familie und schrägen Blicken im Bistro, zeigen sie ihre Zuneigung offen und kämpfen um Anerkennung. Die Geschichte endet mit einer Reise nach Sevilla. Es schließt „wie im Film oder in Büchern mit Happy End“. (S. 175)[2]


Hier deutet sich auch eine ironische Distanzierung der Autorin zu ihrer Geschichte an, die nicht das Durchgangsmuster der Erzählung ist. Der Erzählstil und die Perspektive sind traditionell, sehr einfach, der Text ist durchgehend im Präsenz geschrieben. Die Erzählerin leitet das Geschehen, weiss um die Gefühle ihrer Heldin, schaut von aussen und um Marthes Sicht wissend auf die Erzählung. Die Entwicklung der Geschichte ist geradlinig, von der ersten bewussten Begegnung der beiden Protagonisten, Marthe und Felix, über die Entfaltung ihrer Zuneigung und Auseinandersetzung mit Marthes Familie, bis zur gemeinsamen Reise.

In kleinen Rückblicken der allwissenden Erzählerin erfährt man, dass Marthe mit Edmond verheiratet war, einem Langweiler und Pedanten, der hoffnungslos prosaisch war, sie wie ein Kind behandelt hat und für ihre kindlich romantischen Sehnsüchte überhaupt kein Verständnis zeigte. Marthes Vater, ein ähnlicher Typ, verheiratet sie mit disem Griesgram Edmond. Sie wehrt sich nicht, lässt es geschehen und lebt ein graues, unlebendig - liebloses Eheleben, das auch nach Edmonds Tod etwas Scheintotes hat. Bis zur Begegnung mit Felix, die sie erschüttert und dazu führt, dass Marthe zu leben beginnt. „Denn die Explosion hat sich nicht nur in den Trois Canons ereignet, für Marthe hat sie in einem vergessenen Winkel ihres Innern stattgefunden, in dem die Blume der Träume noch blau blüht, einem Winkel, den Edmond verbannt hat, Edmond, der immer wieder sagte: „Was bist Du bloss romantisch, mein Kleines!“ - als habe sie in diesen Augenblicken nicht einmal Anrecht auf das weibliche Geschlecht. Worte, die ihr die tiefen Wurzeln der Hoffnung ausgerissen haben.“ (S.21)

Marthe lebt, seit zwanzig Jahren Witwe, ein eintöniges Leben ohne jegliche Gelüste: Tee statt Kaffee, wegen des Herzens; der gleiche wiederholte Ablauf des Frühstücks, massvoll: drei kleine Scheiben Toast, regelmässig Medikamente gegen das Stechen in der Hüfte und die Herzschwäche. Sie lebt in dem öden verblichenen Beige ihres Schlafzimmers, beraten von der Tochter Céline, die diese Farben ganz angemessen findet. Ihre Räume sind überall ausgestattet mit Häkeldeckchen, die sie übernommen zu haben scheint, ohne dazu eine Empfindung oder Meinung entwickelt zu haben. Es ist ein ungelebtes Leben, nicht glücklich und nicht unglücklich.

Als Lichtblicke darin die regelmässigen Wochenendkaffeetafeln mit der Familie. Es kommen Sohn Paul mit Schwiegertochter und zwei Söhnen und ihre Tochter Céline, unglücklich über den untreuen Ehemann, mit der kleinen Mathilde, Marthes Lieblingsenkelkind. Ihre Freude an dem kleinen Mädchen weckt Spuren von Leben in ihr.

Auf diesem Hintergrund entwickelt sich Marthes Geschichte mit Felix. Seit dem ersten wachen einander Anschauen im Bistro beginnt sich Marthes Leben zu ändern.„Gestern hatte sich der Mann mit den tausend Halstüchern Marthe zugewandt, hatte langsam seine Tasse gehoben und den Kaffee, dessen starker Duft sie einhüllte und mit dem er ihr offensichtlich zutrank, geschlürft, ohne die Augen von ihr zu wenden, als wolle er sie an diesem Moment höchsten Genusses teilhaben lassen. Wider alles Erwarten hatte Marthe nicht mit der Wimper gezuckt, nicht zuletzt, weil von diesem Blick, dem nichts Vulgäres anhaftete, irgendetwas Brüderliches ausging.“ (S.11f KiWi 615) Marthe wacht auf, entdeckt eigene Bedürfnisse, entwickelt Lust und Gelüste, macht Pläne, trifft Entscheidungen, entdeckt in sich die völlig verschüttete, romantische Leidenschaft, die lebendige Klatschmohnfrau, das junge Mädchen, das bis zu ihrer Ehe mit Edmond eine leuchtend rote Bluse trug, die mit dem Tag der Verlobung in der Versenkung verschwand.

Die Begegnung mit Felix führt dazu, dass Marthe plötzlich Lust auf Kaffee statt auf faden Eisenkrauttee entwickelt und feststellt, dass ihr Herz diese wie auch andere Genüsse gut verträgt. Sie wagt gar, gemeinsam mit Felix Portwein und dann auch Rotwein zu trinken. Sie erwirbt einen safranroten Terminkalender, in dem alle Begegnungen mit Felix festgehalten werden, leuchtendes Symbol einer jetzt gelebten Liebesgeschichte, die eine ganz natürliche und zugleich wunderbare Steigerung erfährt.

Marthe wird in die Oper eingeladen, was als eine überwältigend beglückende, beinahe orgiastische Erfahrung in Rot beschrieben wird, Symbol ihrer Liebe zu Felix. Sie sehen den Barbier von Sevilla. Da Felix ihr die Platte schenkt, werden die Musik und die Erinnerung an die berauschende Erfahrung sie weiter begleiten. Sie trifft sich mit Felix zum Abendessen und zu vielfältigen anderen Gelegenheiten und erfährt die Welt völlig neu. „An seiner Seite erkundete Martha immer neue, ebenfalls unvermutete Sinnesreize, als habe sich der feine, geheimnisvolle Mechanismus ihres Empfindungsvermögens plötzlich wieder in Gang gesetzt, ohne jemals vorher benutzt worden zu sein – er ist sozusagen neu - vielleicht weil Edmond den Schlüssel dazu abgezogen hatte, vielleicht weil Edmond, obwohl er ein annehmbarer Ehemann und Vater gewesen war, sie nie davon überzeugt hatte, dass er einfach auch ein Mann war.“ (S.66)

Marthe erhält den ersten Liebesbrief ihres Lebens. Sie ist siebzig Jahre alt. Weil sie verliebt ist, hat sie plötzlich Lust, die Stadt zu erforschen und begegnet dabei der Klatschmohnfrau, einem alter ego, das Marthe an ihre Jugend in leuchtend roter Seidenbluse erinnert – das Symbol einer nie gelebten, verbannten Erotik und Sexualität, einem elementaren Teil ihrer selbst, der während langer Jahre unterdrückt worden war. Die Autorin stellt die Frage: „Sollte Marthe auf der Strasse dem Begehren begegnet sein, dem klatschmohnroten Begehren?“(S.89)

Sie besucht Felix, der Maler ist und sie unentwegt zeichnet und später auch malt, in seinem Atelier. Sie dekoriert ihr Schlafzimmer neu mit „perlmuttfarbenem Stoff mit leuchtend roten Blumen“ und sie lädt Felix hierhin ein. „Das Schlafzimmer verwandelt sich in einen Alkoven, in dem weitere Blumensträusse auf sie herabzuregnen scheinen. (S.107)

Die Liebesbeziehung entwickelt sich bis zu dem Punkt, an dem Marthe es wagt, über Nacht bei Felix im Atelier zu bleiben. Hier werden Altersgebrechlichkeit und Bedrohung durch den Tod ganz offensichtlich und dennoch als Selbstverständlichkeit akzeptiert, die dem Glück keinen Abbruch tun. Es endet damit, dass sie nach Sevilla reisen, dem imaginären Ort des leidenschaftlich erfahrenen Glücks.

Parallel zu dieser beglückenden Liebeserfahrung kämpft Marthe sich gegen die Normsetzung ihrer Familie frei, die eine solche Liebesbeziehung im hohen Alter zunächst peinlich unangemessen und befremdlich findet. Marthe wagt es aber, Felix bei ihren Lieben einzuführen. Und nachdem er mit Eleganz, Charme und Selbstbewusstsein alle Herzen erobert hat, sind sie als Paar akzeptiert. Dass dabei auch von Verlobung die Rede ist und die bürgerlichen Normen gefügter Ordnung angesprochen werden, passt ins Bild des eigentlich geordneten Hintergrundes.

Marthes Entwicklung zu wunderbarer Lebendigkeit und glühender Vitalität wird begleitet von ständigem Erröten, Herzflattern, Seufzen, jungmädchenhaften Träumen und anderen Anzeichen jugendlicher Verzückung. Sie vermittelt das Bild einer alten Dame, die wie eine kindlich junge Frau reagiert; eine alte Frau, die neu geboren wird.

Trotz aller Glut und Leidenschaft wird aber auch sehr deutlich, dass es sich hier um eine Liebe zwischen alten Menschen handelt. Viele Zeichen der Gebrechlichkeit und des Alters werden angesprochen. Marthe hat Schwierigleiten, die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufzusteigen, die Steifheit der Glieder, sie braucht das Geländer, die Hüfte sticht, das Herz macht Probleme, und ständig muss sie sich während der Spaziergänge mit Felix ausruhen. Und auch Felix ist an der faltigen Haut seines Hals sehr deutlich als alter Mann erkennbar. Aber „was hat dieser erschöpfte Körper, der sie hemmt und hindert, mit der Leichtigkeit ihrer Seele gemein, die zu allen kühnen Taten bereit ist?“.(S.67) Sie ziehen mit Felix geliebtem alten Hund durch die Gegend und erfahren alle drei die Erschöpfung des Alters. „Zu dritt erschöpft zu sein, entbehrt nicht eines gewissen Charmes. Die Müdigkeit verpflichtet zu Nachsicht, ja zu Zärtlichkeit. Es kommt vor, dass sie sich bei einem Spaziergang auf einer Bank ganz eng aneinander schmiegen, Pfoten und Hände übereinander legen und sich die Zeit damit vertreiben, nichts zu tun, nichts zu sagen und ein wenig zu verschnaufen".(S.68) Und der Hund stirbt; der Tod ist nicht ausgeschlossen. Gebrechlichkeit und Schwäche gewinnen aber einen anderen als nur belastenden und negativen Stellenwert. Sie sind nicht nur Behinderung sondern gehören zum beglückenden Leben dazu. Hier wird das Alterslob zur Idylle – eine zauberhafte Phantasie und Fiktion „wie im Film oder in Büchern mit Happy end“ (S.175)

Zuordnung zur Alterstopologie

Was gibt der Roman für die Frage nach Alter und Gender unter der Perspektive einer Topologie her?

Deutlich hervorgehoben stehen das Thema Erotik und Sexualität im Alter im Mittelpunkt der Erzählung. Dabei werden Tabuüberschreitungen bis in die gelebte Sexualität zweier alter Menschen dargestellt, an denen sichtbar gemacht wird, wie beglückend und erfüllend späte Liebe erfahren wird. Wiederentdeckung von Leben und Lebendigkeit einer alten Frau und auch das Glück ihres Partners sind deutlich dem Alterslob zuzuordnen. Ohne kritische Distanzierung werden Leidenschaft und gelebte Sexualität als reale und beglückende Anteile des Lebens alter Menschen akzeptiert und als berechtigter Anspruch gesellschaftlichen Normen gegenübergestellt, die Sexualität im Alter diskriminieren oder tabuisieren. Dabei werden Altersgebrechen nicht verschwiegen, sondern unter der Perspektive der Akzeptanz gesehen. Das alte Paar lebt mit den Einschränkungen des biologischen Alters, will sich aber davon nicht begrenzen lassen und bestimmt den Stellenwert, den es den Schwächen zukommen lässt, selbst. Altersklage wird damit nicht völlig ausgeblendet, erhält aber einen relativen Stellenwert. Insgesamt wird das Alter neu und in einem positiven Licht gesehen, das auch wichtige Anteile von Glück und Lebensfreude ermöglicht.

Trotz allen grenzüberschreitenden, im Sinne der Familie beinahe revolutionären Verhaltens bleibt Marthe ihrer herkömmlichen Frauenrolle völlig verhaftet. Es gibt zwar einen Neuanfang und eine Grenzüberschreitung in ihrer eigenen Person, indem sie Neuentdeckungen zulässt, sogar in der Beziehung zu Felix aktiv wird, aber sie bleibt der vorgegebenen gesellschaftlichen Rolle als Frau verhaftet. Sie ist eine ganz und gar weibliche Person, schön, ein wenig hilflos; sie wird bewundert und geniesst das; ein wenig jungmädchenhaft romantisch reagiert sie nach dem Muster des Kindchentyps; und sie bewundert auch den Mann Felix, der die Initiative in die Hand nimmt. Die herkömmlichen Normen des Geschlechterverhältnisses werden nicht infrage gestellt, aber in dieser Geschichte lebendig gelebt.

Ein glückliches herkömmliches Paar.

Anmerkungen

  1. Anne Marie Koenig in: aus.gelesen, Buchvorstellungen: Gedanken und Reflexionen, 21.04.2009
  2. Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die KiWi 615 Taschenbuch-Ausgabe von Noelle Châtelet, Kiepenheuer&Witsch, Tb 2001, Die Klatschmohnfrau