Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther

Aus Literarische Altersbilder
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Inhalt und Struktur

Das 2014 im Suhrkamp Verlag erschienene Werk[1] wurde bereits ein Jahr vorher bekannt, weil Petrowskaja für die Geschichte mit dem Titel „Vielleicht Esther“, den anschließend der gesamte Text erhielt, mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 ausgezeichnet wurde. Das im Untertitel als „Geschichten“ bezeichnete Werk besteht aus sechs Kapiteln mit insgesamt 66 einzelnen Geschichten. Vor Kapitel 1 steht die als Prolog fungierende Geschichte mit dem Titel „Google sei Dank“, den Schluss bildet eine Art Epilog mit dem Titel „Kreuzung“.

In der ersten Geschichte lernt der Leser die am Berliner Hauptbahnhof auf den Zug nach Warschau wartende Ich-Erzählerin kennen, die einem alten Juden, der aus Teheran stammt, und seiner jüdisch stämmigen Ehefrau aus Weißrussland begegnet, beide amerikanische Staatsbürger, die nach den Wurzeln ihrer Familie suchen wollen. Von ihnen wird sie nach der Bedeutung des am Dach des Bahnhofs befestigten Schriftzugs „Bombardier Willkommen in Berlin“ gefragt. Die Ich-Erzählerin kennt die Bedeutung des Wortes „Bombardier“ nicht, lässt sich das aber nicht anmerken und erzählt, dass es sich um ein Musical handele. Ihre Antwort erscheint sowohl dem Fragesteller als auch vermutlich vielen Lesern glaubhaft, wobei mit der für die Lüge gegebenen Begründung „wer nicht lügt, kann nicht fliegen“ (S. 9) zugleich der selbstreflexive Charakter des Textes angesprochen wird.

Das erste Kapitel trägt den Titel „Eine exemplarische Geschichte“ und hat auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der Eröffnungsgeschichte am Berliner Bahnhof. Das dort angelegte literarische Motiv der Reise wird zunächst nicht aufgenommen, sondern das Ich erinnert sich an seine Familie, deren Stammbaum aus der Perspektive des Kindes als Tannenbaum vorgestellt wird (S. 17), womit aus dem Zeichen des Genealogisch-Organischen ein Fest- und Kulturzeichen wird. In der ersten Geschichte des Kapitels werden zwei Motive im Sinne der Motivation deutlich: die Aufarbeitung der Geschichte des letzten Jahrhunderts („man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, […] und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche“ (S. 17)) und die Darstellung der Geschichte der eigenen Familie, die als exemplarisch gesehen wird, wenn es heißt: „In meiner Familie gab es alles, […] vor allem aber gab es Legenden.“ (S. 17) Die Ich-Erzählerin führt den Leser zurück in ihre Kindheit und Jugend, nämlich in den siebten Stock eines Kiewer Wohnhauses, wo sie mit Eltern, Bruder und zwei Großmüttern aufwächst und die Familie und sich selbst einerseits als glücklich (vgl. S. 20, 23), andererseits als zu klein, als unvollständig und verloren (vgl. S. 22, 23) empfindet, weshalb sie mit der Suche nach ihren Vorfahren beginnt („Akribisch sammelte ich ihre Namen“ (S. 27)) und mit Überraschung feststellt: „Jeder Stern schien mir ein geheimer Verwandter zu sein, auch die am Himmel.“ (S. 27) Da die Ich-Erzählerin die Vorfahren nicht mehr fragen kann, ist sie auf „Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven“ (S. 30) angewiesen. Beispielhaft werden Tante Lida, die ältere Schwester der Mutter, und Onkel Wil, der ältere Bruder des Vaters, vorgestellt. Auch einzelne Nachbarn im Kiewer Hochhaus werden skizziert und trotz ihrer Unterschiedlichkeit auch in einer entscheidenden Gemeinsamkeit verstanden: „[…] der Krieg war schuld, und das war das einzige, was hier stimmte“ (S. 44). Dass die Erforschung der Historie ein kontinuierlicher Prozess ist, wird durch die letzte Geschichte des Kapitels unterstrichen, in der die Ich-Erzählerin ein Museum in Berlin besucht und ihre Tochter auf einer Tafel mit den Nürnberger Gesetzen die Namen ihrer Familie vermisst (vgl. S 45).

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Lebensgeschichte der 1905 in Warschau geborenen Großmutter Rosa, die als letzte die Familientradition des Unterrichts für Taubstumme gepflegt hat. Diese Tradition wird durch einen 1864 in einer jiddischen Zeitung in Lemberg veröffentlichten Artikel über Simon Geller und seine Schule (vgl. S. 52) beglaubigt. Die Genealogie der Familie wird mit dem Alten Testament (vgl. S. 50) in Verbindung gebracht, das als Subtext zusammen mit Motiven der antiken Mythologie das ganze Werk begleitet. Zugleich wird das Judentum als prägendes Element der Familiengeschichte betont, von dem sich die Erzählerin allerdings auch distanziert: „Unser Judentum blieb für mich taubstumm und die Taubstummheit jüdisch. Das war meine Geschichte, meine Herkunft, doch das war nicht ich“ (S. 51).

Mehrfach ist im zweiten Kapitel von der ersten Auslandsreise der Erzählerin die Rede, die sie im Jahre 1989 für sechs Tage nach Polen führte (vgl. S. 57), womit das Leitmotiv der Reise wieder aufgenommen wird. Ein weiteres Leitmotiv wird durch die Geschichte mit dem Titel „Wünschelrute“ hervorgehoben, und zwar das Motiv der Sprache. In dieser Geschichte begründet die Erzählerin, warum sie sich für die deutsche Sprache zur Abfassung ihres Textes entschieden hat. Die fremde, von ihr erst als Erwachsener gelernte Sprache schafft „ein Gleichgewicht gegenüber unserer Herkunft“ (S. 78) und „war mir eine Wünschelrute auf der Suche nach den Meinigen“ (S. 79). Auch bei diesem Thema findet sich das den gesamten Text bestimmende Prinzip der Ambivalenz, wenn es heißt: „Mein Deutsch, Wahrheit und Täuschung, die Sprache des Feindes, war ein Ausweg, […] eine Liebe, die nicht vergeht, weil man sie nie erreicht, Gabe und Gift“ (S. 80).

Ganz ähnlich wie das erste Kapitel endet auch das zweite in der Gegenwart der Erzählerin und des Lesers. In der Geschichte mit dem Titel „Facebook 1940“ wird davon erzählt, dass die Mutter der Erzählerin Silvester 2011 in Kiew einen Anruf einer 88-jährigen Frau aus Jerusalem erhält, die 1940 Rosas Taubstummenschule verließ, nach dem Krieg Gehörlosenpädagogin wurde und sich dankbar an Rosa erinnert.

Das mit dem Titel „Mein schönes Polen“ überschriebene dritte Kapitel beginnt mit der Erläuterung der zwiespältigen, gleichermaßen durch Stolz auf die polnische Herkunft eines Teils ihrer Familie wie durch Scham über die russische Schuld geprägten Gefühle der Erzählerin gegenüber Polen. Warschau erscheint als Schauplatz von Katastrophen, insbesondere der Vernichtung der Juden des Ghettos und der russischen Massenmorde unter Stalin. Der Leser erfährt von der Taubstummenschule ihres Urgroßvaters in Warschau, dessen Leben den Mittelpunkt des Kapitels bildet, und ihrer schwierigen Suche nach dem Haus dieser Schule. Die Recherche im Jewish Genealogy & Family Heritage Center führt sie zu Nachrichten vom Tod zweier in Treblinka internierter Verwandter. Deren Tod wurde in Yad Vashem von ihrer Nichte Mira bezeugt, die als mittlerweile 87-Jährige in den USA lebt und mit der die Erzählerin telefonisch Kontakt aufnimmt. Dabei erfährt sie auch von in London lebenden Verwandten, so dass der Eindruck eines weltweiten Familiennetzes entsteht, in dem die Menschen - „Related through Adam“(S.122) – miteinander verbunden sind. Die Verbindung umfasst nicht nur die Familie. Die zufällige Begegnung mit ihrem Berliner Nachbarn, der in Warschau als Opernsänger in einer Inszenierung der „Oresteia“ von Xenakis singt, führt zu grundsätzlichen Reflexionen über das Töten unter miteinander lebenden Menschen und verbindet die jüngere Vergangenheit nicht nur mit der Gegenwart, sondern auch mit der griechischen Mythologie, die ihrerseits für die Erzählerin schon als Kind bedeutsam war. Die subjektive Betroffenheit der Erzählerin, von der es heißt: „nirgendwo habe ich mich so perfekt verloren gefühlt wie hier in Warschau“ (S. 115), steigert sich noch durch den Besuch des Castings einer Videokünstlerin, bei dem es um Rollenspiel und Geschlechtswechsel geht. In der polnischen Stadt Kalisz, in der die Erzählerin in einem Archiv Dokumente über die Vorfahren ihres Vaters findet, wird die Familiengeschichte auf die jüdische Geschichte hin ausgedehnt, denn sie läuft über Straßen, die nach der Vertreibung der Juden mit den zersägten Grabsteinen des jüdischen Friedhofs gepflastert wurden; bei späteren Bauarbeiten drehte man diese Pflastersteine achtlos um, wobei die hebräischen Buchstaben zum Vorschein kamen.

Das vierte Kapitel trägt den Titel „In der Welt der unorganisierten Materie“ und nimmt damit eine Formulierung von Judas Stern auf, dem Großonkel der Erzählerin, der 1932 in Moskau ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat verübt hatte und dafür in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wurde; in diesem Prozess fragt er den Generalstaatsanwalt: „Wann schicken Sie mich in die Welt der unorganisierten Materie?“ (S. 167) Die Recherche zu diesem historischen Ereignis und dessen Bedeutung für die Familie der Erzählerin steht im Mittelpunkt des Kapitels. Ihr Vater, ein Neffe von besagtem Judas Stern, kam in Folge einer im Zusammenhang mit der Aufklärung des Attentats stehenden Hausdurchsuchung als Frühgeburt zur Welt.

In einem Strang des Kapitels wird die Geschichte des Attentats erzählt, zu dem die Erzählerin - je nach Interessenlage der verschiedenen Quellen - unterschiedliche Berichte und Interpretationen der Ermittlungen und des Prozesses findet. In einem zweiten Strang wird die Familiengeschichte des Judas Stern erzählt. Der Vater lebt mit diesem Attentat als einem „Damoklesschwert“ (S. 146) der Angst, das über ihm hängt, und lässt den Täter zum Familiengespenst werden, das als bedrohliches Familiengeheimnis in den Untergrund verbannt wird. Beide Erzählstränge entwickeln eine beunruhigende Uneindeutigkeit, die Verunsicherung hinterlässt. Die Darstellung des Lebens von Semjon, dem Großvater der Erzählerin und Bruder des Attentäters, führt in die Geschichte der Sowjetunion und verweist auf die Verbindung der Juden zur russischen Revolution und den anschließenden Aufbau der Geheimdienste. Semjon, der mit dem Decknamen Petrowskij während der Revolution abgetaucht ist und dann eine Weile für den Geheimdienst gearbeitet hat, bricht mit seiner jüdischen Herkunft und baut den neuen Staat mit auf, was bis in die Generation der Enkelin wirkt. Sie ist in dieser Tradition zunächst kritiklos aufgewachsen, ohne Ahnung von ihren jüdischen Wurzeln, entdeckt dann aber doch ihre Familiengeschichte und beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit der Angst, die für ihre Herkunftsfamilie kennzeichnend war. So bewegt ihre eigene Angst, bei der Suche nach der Attentatsgeschichte ihres Großonkels in die Fänge des russischen Geheimdienstes zu geraten, sie dazu, die berüchtigte Lubljanka in Moskau zu meiden und ihre Recherche in Berlin durchzuführen.

Das Schicksal des Großvaters der Erzählerin und seines Bruders steht damit stellvertretend für die zwiespältige Geschichte der russischen Juden und der Sowjetunion. Einerseits gingen sie in den Widerstand gegen das Zarenreich und schlossen sich der Revolution an. Am Beispiel des älteren Bruders Semjon wird deutlich, wie sie sich von ihren jüdischen Wurzeln trennten, um dabei mitzuwirken, die Sowjetunion zu einem gewaltigen Staatsgebilde zu machen, das mit seinem Geheimdienst Angst und Schrecken verbreitete und so bedrohlich wurde, dass der Bruder Judas Stern in Opposition zu diesem System ein Zeichen setzt und als Attentäter sein Leben lässt. Andererseits bleibt er als Angst stiftendes Familiengespenst eine Bedrohung für den abgespaltenen Teil der Familie, die sich bis in die jüngste Generation der Erzählerin zunächst mit dem System arrangiert hatte.

Im Zentrum des fünften Kapitels steht der den Titel gebende Ort „Babij Jar“, den die Erzählerin bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt Kiew aufsucht. Die historischen Fakten zu Babij Jar werden so exakt wie möglich berichtet, es werden Zahlen und Daten genannt, „33771 Menschen“ (S. 186), alle jüdischen Einwohner Kiews, wurden in dieser Schlucht im September 1941 in zwei Tagen von den Deutschen umgebracht. Das Massengrab wurde später unter Stalin zugeschüttet und dem Erdboden gleich gemacht, erst 35 Jahre später wurde ein Denkmal errichtet, das aber die Juden nicht erwähnt, sondern nur die „Sowjethelden“ (S. 187).

Petrowskajas Erzählerin setzt nicht bei diesen Fakten an, sondern gewissermaßen bei einem ahnungslosen Besucher (vgl. S. 183) und dem heutigen Freizeitpark an dieser Stelle, ein Verfahren, durch das der Leser in ihre Auseinandersetzung mit Babij Jar hineingezogen wird. Für die Erzählerin ist Babij Jar ein Teil ihrer jüdischen Geschichte, diese Zugehörigkeit löst sie aber sogleich durch den Hinweis wieder auf, dass angesichts der Opfer die Gruppenzugehörigkeit unwichtig sein sollte, dass man als Mensch an sich trauern sollte (vgl. S. 184), sie gibt aber doch zu, dass es einen Unterschied macht, ob eigene jüdische Verwandte hier getötet wurden oder nicht. So zeigen die in diesem Kapitel erzählten Schicksale verschiedener Verwandter die persönliche Dimension der Judenverfolgung, insbesondere die dem gesamten Text den Titel gebende Geschichte „Vielleicht Esther“. Sie ist die vom Vater der Erzählerin nur Babuschka genannte Großmutter, die 1941 bei der Flucht der Familie vor den Deutschen allein in Kiew zurückblieb und erschossen wurde. Die Unsicherheit über ihren richtigen Namen paart sich mit den Ungewissheiten hinsichtlich der Umstände ihres Todes sowie der unsicheren Erinnerungen an die Evakuierung der Familie. Die Erzählerin glaubt sich daran zu erinnern, dass ihr Vater ihr geschildert hat, dass die Familie nur Platz auf dem LKW fand, indem ein dort schon deponierter Fikus wieder von der Ladefläche genommen wurde. Als der Vater sich später nicht mehr daran erinnern kann, tröstet er seine Tochter mit den Worten „Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht“ (S. 219).

Das sechste Kapitel trägt den Titel „Deduschka“ (dt. Großvater) und dreht sich um das Leben des Großvaters mütterlicherseits, der 1941 in den Krieg gezogen war, bei Kiew eingekesselt wurde, vier Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft verbrachte und danach in ein sowjetisches Lager kam, aus dem ihn eine Frau rettete, bei der er in Kiew blieb. Erst 1982 kehrte er zu seiner Familie zurück, wo er ein Jahr später starb. Die Ich-Erzählerin hat ihn erst als Zwölfjährige kennengelernt und forscht als Erwachsene nach seinem Verbleib während der 41 Jahre seiner Abwesenheit.

Anlass der Recherche ist auch in diesem Fall die zwiespältige Empfindung bei den Erklärungen seines Lebensweges: „Zwischen dem Kessel bei Kiew und dem Sessel in unserer Wohnung [in dem er die ganze Zeit saß und lächelte, vgl. S. 228] öffnete sich ein schwarzes Loch“ (S. 231). Die Geschichten dieses Kapitels behandeln einerseits das Leben der Erzählerin als Kind in Kiew, wo sie u.a. die staatlich organisierten Veteranen-Ehrungen erlebt, und ihre Erinnerungen an den Großvater, andererseits ihre Reise nach Österreich, besonders zum KZ Mauthausen. Mit der Rückkehr des Großvaters gewinnt die Familie, die anders als viele andere kein Stück Land hatte, einen Garten, aber es ist ein „Garten voller Rosen“ (S. 235), mit Apfelbäumen und einem „Paradiesapfelbaum“ (S. 237). Die geringe Nutzbarkeit dieses Gartens hinsichtlich verwertbarer Lebensmittel lässt bei der Erzählerin die Frage aufkommen, ob ihr bereits in den dreißiger Jahren in der Landwirtschaft tätiger Großvater sich schuldig gemacht haben könnte bei der durch die Kollektivierung entstandenen Hungersnot und der Ausrottung der Bauernschaft. In scharfem Kontrast zur Idylle des Gartens stehen die Geschichten des Kapitels, die das Schicksal der Kriegsgefangenen behandeln. So ist die Erzählerin in einem Mail-Verteiler, der wöchentlich einen Brief eines sowjetischen Kriegsgefangenen verschickt (vgl. „Freitagsbriefe“). Während der Österreich-Reise kontrastiert die Schilderung der Landschaft mit ihren touristisch attraktiven Angeboten, deren Höhepunkt der Almbesuch bei „Hans“ ist, mit der Beschreibung von Soldatenfriedhöfen und Gedenkstätten, dem Besuch des KZ Mauthausen (vgl. „Beim Großvater“, „Sisyphus“) und der Sichtung von Archivmaterialien zum Marsch der ungarischen Juden vom KZ Mauthausen ins Lager Gunskirchen. Die Erzählerin kann die Frage, wie es ihrem Großvater gelungen ist, all diese Etappen seiner Gefangenschaft zu überleben, letztlich nicht klären. Ihre Reise endet in Wien, wo kurz zuvor Otto von Habsburg gestorben ist, sie aber das „Begräbnis […] verpasst, wie auch das angekündigte Ende Europas“ (S. 279). Damit kontrastiert die Bekanntschaft eines Deutschen, mit dem sie tanzen geht, wobei auch von den jeweiligen Großvätern gesprochen wird, „die in Kriegsgefangenschaft gewesen waren, seiner als Deutscher in Sibirien, meiner als Russe in Österreich“ (S. 279).

In der letzten Geschichte treffen wir die Erzählerin erneut in Kiew vor dem Haus ihrer Kindheit und Jugend, wo sie über ihre deutschen Wurzeln nachdenkt, weil sie „als Kreuzung zweier Straßen mit deutschen Namen entstanden“ (S. 281) ist, nämlich der nach Engels und Liebknecht benannten Straßen, in denen Vater und Mutter zur Welt kamen. Die Kreuzung kann als Metapher für Kommen und Gehen, Ursprung und Ende, die Wiederkehr des immer Gleichen verstanden werden, was durch das in den Text eingefügte Gedicht des Russen Alexander Blok (1880-1921) unterstützt wird. An der Ampel wartend, wird die Erzählerin in einer fast surreal wirkenden Szene von einer alten Dame angesprochen, die sie wegen der Häufigkeit ihrer Anwesenheit tadelt. Die Erkenntnis: „sie hat recht, ich kehre etwas zu oft hierher zurück“ (S. 283) begründet gleichsam den Abschluss der Recherchen, der Reflexionen und damit des Erzählens.

Petrowskajas Werk stellt im Wesentlichen die Suche der Ich-Erzählerin nach der Geschichte ihrer Familie dar, ist also eine historische Recherche, die sie im Untertitel als „Geschichten“ bezeichnet. Der Plural verweist u.a. darauf, dass es keine einheitliche Sichtweise in diesem Text gibt, dass es ihr unmöglich erscheint, von der Geschichte im Singular zu sprechen. Gleichzeitig assoziiert der Untertitel die Dimension der Fiktion, man denkt sofort an das Geschichten-Erzählen. Sowohl der Begriff der Erzählung als auch der des Romans hätten eine formale, konstruktive Geschlossenheit suggeriert, über die der Text gerade nicht verfügt, die er vielmehr bewusst unterläuft.

Ausgangspunkt für die Recherche der Erzählerin ist also ein als Mangel empfundener Zustand der eigenen Familie, das oben bereits erwähnte Gefühl der Unvollständigkeit, Einsamkeit (vgl. S. 22), das sie den Familienstammbaum suchen lässt. Dies erfordert geradezu ein Denken in Generationen.

(bearbeitet von Monika Hartkopf)

  1. Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther, Frankfurt, Suhrkamp Hardcover 2014 (1. Aufl.) und TB 2015 (2. Aufl.) Alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese identischen Ausgaben